Sucht am Arbeitsplatz: Was Arbeitnehmer und Arbeitgeber wissen sollten
Ob Alkohol, Medikamente oder Glücksspiel - deutschlandweit sind rund 20 Millionen Menschen suchtkrank. Neben den gesundheitlichen Folgen kämpfen viele Abhängige mit der Angst, aufzufliegen. Besonders am Arbeitsplatz ist Sucht nach wie vor ein Tabu-Thema. Denn viele Betroffene wissen nicht, wie sie arbeitsrechtlich abgesichert sind.
In Deutschland sind insgesamt 4,2 Millionen Menschen alkohol-, medikamenten- oder drogenabhängig. Hinzu kommen etwa 15 Millionen Raucher sowie über eine Million Glücksspiel- und Internetabhängige, wie das Bundesgesundheitsministerium angibt. Fast jeder vierte Deutsche hat demnach ein Suchtproblem. Davon sind auch viele Arbeitnehmer betroffen.
Für manche Unternehmen sind abhängige Angestellte kaum tragbar, da sie infolge ihrer Sucht teilweise weniger leisten oder häufig lange krankgeschrieben sind. Doch darf der Arbeitgeber einem Mitarbeiter kündigen, wenn dieser suchtkrank ist? Wie kann sich der Arbeitnehmer dagegen wehren? Im Interview mit finanzen.de erklärt Dr. Dietmar Müller-Boruttau, Fachanwalt für Arbeitsrecht, welche Rechte und Pflichten Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei Sucht am Arbeitsplatz haben.
Wie sollte sich der Arbeitgeber verhalten, wenn er bemerkt, dass ein Arbeitnehmer möglicherweise unter dem Einfluss von Rauschmitteln steht?
Dr. Müller-Boruttau: Kann der Einfluss von Rauschmitteln dazu führen, dass der Arbeitnehmer sich oder anderen Schaden zufügt, muss der Arbeitgeber handeln - das folgt schon aus seiner Fürsorgepflicht. Je nach Tätigkeit, die der Arbeitnehmer ausübt, sind vor allem Maßnahmen der Unfallverhütung geboten. Die Unfallverhütungsvorschriften verbieten es dem Unternehmer, Arbeitnehmer zu beschäftigen, die sich oder andere gefährden können. Arbeitgeber können daher gehalten sein, den Arbeitnehmer schlicht nach Hause zu schicken, wenn er nicht arbeitsfähig ist.
Mit welchen Konsequenzen muss ein Arbeitnehmer rechnen, wenn ihn der Arbeitgeber auf sein Verhalten anspricht?
Dr. Müller-Boruttau: Das kommt auf die Sucht und auf die Tätigkeit an. Liegt eine Sucht vor, gilt das als Krankheit. Es ist dem Arbeitgeber damit in der Regel nicht gestattet, sofort mit einer Kündigung zu reagieren. Er muss zunächst versuchen, Hilfe anzubieten. Arbeitnehmer sollten die Hilfsangebote annehmen anstatt das Problem zu leugnen. Wer so tut, als sei nichts, gefährdet sein Arbeitsverhältnis.
Unter welchen Voraussetzungen muss der Arbeitnehmer mit der Kündigung rechnen?
Dr. Müller-Boruttau: Das hängt davon ab, wie intensiv das Arbeitsverhältnis durch die Sucht und ihre Konsequenzen beeinträchtigt wird. Beide Seiten sollten möglichst zusammenwirken, um das Problem abzuwenden. Eine Kündigung ist erst dann gerechtfertigt, wenn eine sogenannte negative Prognose vorliegt. Das bedeutet, dass mit zukünftigen Störungen des Arbeitsverhältnisses zu rechnen ist.
Die Anforderungen an eine negative Prognose sind jedoch recht hoch und der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer zunächst Hilfe anbieten, beispielsweise in Form einer Entziehungskur oder einer Therapie. Wichtig ist auch, dass der Arbeitgeber an die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements denkt. Verweigert sich der Arbeitnehmer dagegen kategorisch und leugnet das Problem, kann eine Kündigung eher gerechtfertigt sein.
Bekommt der Arbeitnehmer eine Lohnfortzahlung, wenn er sich in Therapie begibt und kann er anschließend in den Beruf zurückkehren?
Dr. Müller-Boruttau: Bei selbstverschuldeter Arbeitsunfähigkeit kann die Fortzahlungspflicht zwar entfallen, eine Sucht gilt allerdings als Krankheit und ist daher gerade nicht steuerbar. Wer sich wegen einer Sucht in Therapie begibt, hat daher Anspruch auf sechs Wochen Entgeltfortzahlung. Wie nach anderen längeren Erkrankungen bietet sich nach durchgeführter Therapie beispielsweise eine Wiedereingliederung an.
Betriebliches Eingliederungsmanagement vs. Wiedereingliederung
Mit dem betrieblichen Eingliederungsmanagement soll ein erkrankter Arbeitnehmer wieder beschäftigungsfähig werden und dadurch seinen Arbeitsplatz behalten. Bei der Wiedereingliederung wird ein Arbeitnehmer nach langer Krankheit stufenweise wieder an den Arbeitsalltag herangeführt.
Wie wirkt sich ein Rückfall in oder nach der Therapie auf das Arbeitsverhältnis aus?
Dr. Müller-Boruttau: Ein Rückfall spricht dafür, dass die Bemühungen des Arbeitgebers, bei der Problemlösung zu unterstützen, erfolglos waren. Zudem deutet der Rückfall darauf hin, dass künftig weitere Störungen des Arbeitsverhältnisses zu erwarten sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Kündigung als gerechtfertigt anzusehen ist, steigt somit. Im Ausnahmefall, beispielsweise bei sehr langer Betriebszugehörigkeit, kann der Arbeitgeber jedoch gehalten sein, zunächst noch eine "letzte Chance" zu gewähren und den Arbeitnehmer zur erneuten Teilnahme an einer Entziehungskur anzuhalten.
Tipp: Wer sich zum Thema Sucht beraten lassen möchte oder Hilfe sucht, kann sich unter anderem an das Blaue Kreuz oder den Caritas-Verband wenden. Auch die Sucht und Drogen Hotline hilft Betroffenen weiter.
Welche Rechte und Pflichten hat andersherum ein Arbeitnehmer, wenn er vermutet, dass sein Vorgesetzter unter einer Sucht leidet?
Dr. Müller-Boruttau: Der Arbeitnehmer hat für seinen Vorgesetzten keine vergleichbare Fürsorgepflicht wie sie der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer hat. Es kann im Einzelfall sehr heikel sein, auch nur eine solche Vermutung auszusprechen, da dies schnell in eine persönliche und rechtliche Auseinandersetzung führen kann. Nur im Extremfall ist der Arbeitnehmer daher zu einem Handeln verpflichtet, insbesondere wenn eine Selbst- oder Fremdgefährdung droht. Ob er auch handeln sollte, ohne dazu verpflichtet zu sein, ist keine rechtliche Frage. Dies hängt vorrangig von den beteiligten Personen und der persönlichen Beziehung ab.
Vielen Dank für das Interview, Herr Dr. Müller-Boruttau.