The Precinct im Test: GTA aus Polizistensicht – 80er-Retro-Action mit Blaulicht und Sirene
In einer Parallelwelt, in der Grand Theft Auto nie das Licht der Welt erblickt hätte, säßen wir heute womöglich alle vor einem Bildschirm und jagen Verbrecher statt sie zu verkörpern. Tatsächlich spielte DMA Design in den Neunzigern kurz mit dem Gedanken, uns in die Rolle gesetzestreuer Polizisten schlüpfen zu lassen, bevor sie sich für die lukrativere Verbrecherkarriere entschieden. Fast drei Jahrzehnte später wagt nun das Studio Fallen Tree Games mit „The Precinct“ einen Blick in jene alternative Zeitlinie – und beweist überraschend überzeugend, dass auch die rechtschaffene Seite des Gesetzes ihre spielerischen Reize birgt. Schnallt euch an, zieht die Polizeimütze tief ins Gesicht und macht euch bereit für einen Streifendienst durch die neongetränkten Straßen von Averno City, wo hinter jeder Ecke ein neues Verbrechen und in jedem Seitengässchen ein flüchtender Gauner lauert.
Zurück in die Zukunft der Verbrechensbekämpfung
Der klügste Schachzug der Entwickler? Sie haben „The Precinct“ in den 80er Jahren angesiedelt – einer Zeit vor Cyberkriminalität, Smartphone-Dauerberieselung und digitaler Überwachung. In Averno City geht es herrlich analog zu: Du, Dein Partner und das Knistern des Polizeifunks bilden die Trias der Verbrechensbekämpfung. Die Atmosphäre erinnert an klassische Polizeiserien jener Ära, ein unverfälschtes Cop-Erlebnis ohne moderne Schnörkel und ohne den Anspruch, gesellschaftskritische Debatten über Polizeigewalt anzustoßen. Stattdessen zelebriert das Spiel eine idealisierende Darstellung des Polizeidienstes, wie er sein sollte – nicht wie er ist oder war.

Diese verklärte Nostalgie funktioniert erstaunlich gut als Spielgrundlage. Der Alltag in Averno City gleicht einem pausenlosen Actionfilm, in dem jeder Tag so ereignisreich ist wie der gefährlichste Tag im Berufsleben eines echten Polizisten. Es ist, als würde man in der chaotischen Schlusssequenz von „Blues Brothers“ leben – ein ewiger Strom von Verfolgungsjagden, zertrümmerten Streifenwagen und tollkühnen Festnahmen. Die Klischees der Polizei-Popkultur werden dabei lustvoll bedient: Der idealistische Rookie, der kurz vor der Rente stehende, zynische Veteran, der schnauzbärtige Polizeichef und – natürlich – ein Beamter namens Kowalski dürfen nicht fehlen.
Zwischen Seitenstreifen und Straßenschluchten
Trotz einiger dialogischer Holprigkeiten – das Drehbuch klingt stellenweise überambitioniert und die Synchronisation wirkt gelegentlich unfreiwillig komisch – zieht einen der Spielrhythmus schnell in seinen Bann. Dein Polizeialltag gestaltet sich abwechslungsreich: Mal streifst Du zu Fuß durch die Straßen und hältst Ausschau nach Vandalen und Gewalttätern, mal kreuzst Du mit dem Streifenwagen durch die Stadt auf der Jagd nach Autodieben und betrunkenen Fahrern. Besonders spannend sind die Hubschraubereinsätze, bei denen Du Verdächtige mit dem Suchscheinwerfer ins Visier nimmst und Bodentruppen zur Festnahme dirigierst.
Die Vielfalt an Verbrechen, die Averno City zu bieten hat, ist beeindruckend. Für die virtuelle Einwohnerschaft mag dies ein Graus sein, für Dich als Spieler bedeutet es abwechslungsreiches Gameplay, das erst gegen Ende der rund 12-stündigen Kampagne leichte Ermüdungserscheinungen zeigt. Nach dem Abspann kannst Du weiterhin auf Streife gehen und procedural generierte Straßenverbrechen bekämpfen – ob das zum Wiederspielen motiviert, hängt stark davon ab, ob künftige Updates frische Fälle und Verbrechensarten ins Spiel bringen.
Vollgas durch die Pixel-Großstadt
Das Herzstück von „The Precinct“ bilden zweifellos die rasanten Verfolgungsjagden. Dank eines hervorragenden Fahrzeughandlings entfalten die Hetzjagden durch die isometrische Stadtkulisse einen überraschenden Suchtfaktor. Die Autos mögen aus der Vogelperspektive niedlich wirken, doch sie besitzen ein beeindruckendes Gewichtsgefühl, wenn Du den amerikanischen Stahlkoloss mit quietschenden Reifen um enge Kurven zwingst. Wenn dann mehrere Streifenwagen mit heulenden Sirenen einen flüchtigen Verdächtigen umzingeln, fühlt sich das eher nach dem Original „Driver“ an als nach den frühen 2D-GTA-Spielen – nur eben aus der Perspektive einer tief fliegenden Drohne.
Die originalgetreuen Fahrzeugmodelle der Ära sind ein Augenschmaus: Von kaum getarnten Mustang-Klonen und Cuda-Imitaten über A-Team-artige Vanduras bis hin zu den klassischen, kastenförmigen Caprice-Polizeiwagen – Detroit-Stahl, wohin das Auge reicht. Besonders gelungen ist der visuelle Stil mit seinen subtilen Fahrzeugkonturen, die fast illustriert wirken. Die Sirenen tauchen nachts die regennassen Straßen in ein atmosphärisches Rot-Blau, das dem Spiel zusammen mit zahlreichen liebevollen Details – von zerschlagenen Telefonzellen bis zu schummrigen Strip-Club-Schildern – eine unverwechselbare Atmosphäre verleiht. All diese Feinheiten mag man beim Durchrasen der Stadt übersehen, doch sie tragen unterschwellig zur Immersion bei. Erfreulich auch: In meinen Testläufen lief „The Precinct“ durchgehend stabil ohne Abstürze – unabhängig davon, ob ich besonnen oder wie ein Berserker durch die Missionen stürmte.
Paragraph und Paragraf: Die Spielregeln des Gesetzes
Eine interessante Spielmechanik ist der Fokus auf korrektes polizeiliches Vorgehen. Du erhältst weniger Erfahrungspunkte, wenn Du gegen Vorschriften verstößt – etwa indem Du Verdächtige ohne vorherige Identitätsprüfung ansprichst, Zivilisten attackierst, übermäßige Gewalt anwendest oder unbegründete Strafzettel verteilst. Dies führt zu langsameren Levelaufstiegen und verzögertem Zugang zu Skill-Trees. Die bereits gesammelten XP bleiben Dir zwar erhalten, doch ein Fehlverhalten kostet Dich die Tagesausbeute. Die Upgrades selbst sind weitgehend konventionell – erhöhte Widerstandsfähigkeit, größeres Munitionsmagazin und ähnliches – doch sie erweisen sich in Schießereien als wertvoll. Besonders nützlich sind die Fähigkeiten, Räumungsfahrzeuge und Straßensperren anzufordern, um Verfolgungsjagden zu beenden.

Dieser regelkonforme Ansatz bietet eine interessante Tiefenebene. Du kannst sogar selbst entscheiden, welche konkreten Anklagepunkte Du gegen Verdächtige erhebst und sie persönlich zur Wache begleiten, was zusätzliche XP einbringt. Dieser Prozess lässt sich allerdings auch automatisieren – eine Option, die ich meist wählte, um den Spielfluss nicht zu unterbrechen. Lieber auf Streife gehen als Schreibtischarbeit erledigen, lautete meine Devise.
Ein gewisses Manko des Systems: Die meisten Festnahmen folgen einem eintönigen Schema. Du identifizierst den Verdächtigen, durchsuchst ihn nach Waffen und Diebesgut, um ihn dann festzunehmen, zu verwarnen oder laufen zu lassen. Gegen Ende der Kampagne wirkt dieser Ablauf etwas abgedroschen, da zu wenig Variablen und Überraschungsmomente für Abwechslung sorgen. Bisweilen frustrierend ist zudem, wenn das Spiel die Situation falsch einschätzt – etwa wenn ein Schurke versucht, Dich mit seinem Auto zu überfahren, und das System Dich für den Einsatz Deiner Dienstwaffe zur Selbstverteidigung rügt. Verdammt, ich bin ein Cop am Rande des Abgrunds! Lass mich wenigstens versuchten Totschlag zur Anklage bringen!
Ob solche Ungereimtheiten Bugs oder schlicht nicht bedachte Szenarien sind, bleibt offen. „The Precinct“ weist insgesamt eine gewisse technische Ungeschliffenheit auf. Zwar begegneten mir keine spielbrechenden Probleme, doch gelegentliche Physik-Aussetzer und unerklärliche unsichtbare Wände störten die Immersion.