Durchbruch im Labor: Forschungsteam erzeugt erstmals ein komplett künstliches Hirngewebe
Die Entwicklung künstlicher Modelle des menschlichen Gehirns hat in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Viele bestehenden Modelle beruhen jedoch weiterhin auf tierischen Bestandteilen oder biologischen Beschichtungen, die Experimente schwer vergleichbar machen und die Übertragbarkeit auf den Menschen einschränken. Forscher:innen arbeiten deshalb seit Langem an synthetischen Alternativen, die eine präzisere Kontrolle der Umgebung erlauben und die Reproduzierbarkeit von Studien verbessern. Aktuell ist einem Team ein entscheidender Schritt gelungen: Erstmals wurde ein gehirnähnliches Gewebe vollständig ohne tierische Materialien aufgebaut, das dennoch zuverlässige neuronale Netzwerke ausbildet.

Polymergerüst stützt das Hirngewebe
Im Zentrum der Methode steht ein speziell modifiziertes Polymergerüst aus Polyethylenglykol (PEG). PEG ist chemisch inert und normalerweise nicht zellfreundlich – unter Standardbedingungen wirken Oberflächen aus PEG wie Teflon auf Zellen, sodass diese nicht haften. Die Forscher:innen formten das Material allerdings so um, dass es eine feine, miteinander verbundene Porenstruktur bildet, in der Zellen über längere Zeit überleben und sich organisieren können. Die Poren erlauben eine effiziente Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen, was für die Reifung und Funktion von Nervenzellen entscheidend ist.
Die Erzeugung der Struktur erfolgt durch ein mikrofluidisches Verfahren: Eine Lösung aus PEG, Ethanol und Wasser fließt durch eng verwobene Glasröhren; beim Kontakt mit äußerem Wasser trennt sich die Mischung in zwei Phasen, und ein gezielter Lichtimpuls stabilisiert die entstehende Porenarchitektur. Auf diese Weise entsteht ein schwammartiges Netzwerk, das anschließend mit menschlichen Stammzellen besiedelt wird. Durch die gezielte Gestaltung der Kanalgrößen und Verbindungen können die Forscher:innen die Diffusion von Nährstoffen und Signalmolekülen steuern und so das mikroökologische Milieu beeinflussen.
Künstliches Gewebe ohne Tiermodell
Ein wesentlicher Nutzen dieses Ansatzes liegt in der hohen Stabilität und Langzeitbeständigkeit des Materials. „Da das entwickelte Gerüst stabil ist, ermöglicht es längerfristige Studien“, erläuterte Prince David Okoro, einer der Erstautor:innen des Projekts. Gerade für Untersuchungen, die reife neuronale Phänotypen erfordern, sind solche stabilen Plattformen von großem Wert, weil sie Beobachtungen über Wochen bis Monate erlauben, ohne dass das Grundgerüst seine Eigenschaften verliert.
Außerdem vermeidet das synthetische Modell die Variabilität, die tierische Gewebe oder ungenormte biologische Beschichtungen in Experimente einbringen. Tiermodelle unterscheiden sich genetisch und physiologisch vom Menschen; durch den Verzicht auf tierische Komponenten lässt sich dieser systematische Unterschied zumindest teilweise umgehen. Für die präklinische Testung von Wirkstoffen bedeutet das eine potenziell bessere Vorhersagbarkeit menschlicher Reaktionen sowie eine höhere Reproduzierbarkeit zwischen Laboren.
Die Methode muss noch skaliert werden
Derzeit haben die synthetischen Einheiten noch überschaubare Abmessungen; viele Prototypen besitzen einen Durchmesser von nur wenigen Millimetern. Die Herausforderung besteht darin, die Struktur zu skalieren, ohne die Diffusionsvorteile und die feingliedrige Architektur zu verlieren. Parallel evaluieren die Forscher:innen, ob das Konzept auch auf andere Organmodelle übertragbar ist, zum Beispiel auf Lebergewebe, um künftig integrierte Multi‑Organ‑Systeme zu realisieren.
Langfristig könnte sich aus diesen Plattformen ein Netzwerk organähnlicher Kulturen entwickeln, das Wechselwirkungen zwischen Organen im Labor simuliert. Solche Modelle würden nicht nur isolierte Krankheitsmechanismen beleuchten, sondern auch systemische Effekte von Therapien abbilden. Damit erhielte die Forschung Werkzeuge, die näher an der menschlichen Realität sind als viele heutige Tiermodelle und die gleichzeitig ethische Bedenken adressieren.
Insgesamt markiert die Entwicklung des vollständig synthetischen Gehirnmodells einen wichtigen Schritt hin zu kontrollierbaren, reproduzierbaren und ethisch vertretbaren Versuchsplattformen. Sie erweitert die Möglichkeiten, neurologische Erkrankungen zu untersuchen und Wirkstoffe in Umgebungen zu testen, die menschliche Zelltypen und deren spezifische Bedingungen besser berücksichtigen.

