Report: Vernichtungskrieg in Polen?

Berlin (dpa) - Es ist eines jener kaum vorstellbaren Ereignisse, die mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden sind. Der Krieg hat gerade erst begonnen, der 1. September 1939 mit dem deutschen Angriff auf Polen, der sich am kommenden Dienstag zum 70. Mal jährt, liegt eine Woche zurück.

In einem Gefecht bei Ciepielow südlich von Warschau verliert das Infanterieregiment 15 gut ein Dutzend Soldaten, nimmt aber hunderte Polen gefangen. Der deutsche Kommandeur ist über die Verluste so wütend, dass er die Kriegsgefangenen kurzerhand zu Partisanen erklärt und ihnen damit ihren völkerrechtlichen Schutz entzieht. «Fünf Minuten später höre ich ein Dutzend deutsche Maschinenpistolen bellen», notiert ein Landser in seinem Tagebuch. Ein Foto zeigt seine Kameraden an einem Straßengraben voller Leichen.

Der Zeugenbericht ist in dem zum Jahrestag erschienenen Buch «Der Überfall» wiedergegeben. Der Autor Jochen Böhler sieht im Mord an Kriegsgefangenen ein «Massenphänomen, das in allen Einsatzräumen der Wehrmacht im September 1939 auftrat». Die Frage ist, was das über den Charakter der Kriegsführung aussagt - und da sind sich die Historiker keineswegs einig.

Weitgehend unumstritten ist seit der Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944», dass das spätere Vorgehen in der Sowjetunion ein Vernichtungskrieg war. Ein Krieg also, der entgegen allen Regeln des Völkerrechts nicht nur auf den Sieg zielt, sondern auf die völlige Vernichtung des Gegners und seiner Zivilbevölkerung. Aber gilt diese Charakterisierung tatsächlich erst ab 1941?

Böhler vertritt in seiner 2006 veröffentlichten Dissertation die These: Nein. Schon 1939 habe die Wehrmacht in großem Stil polnische Kriegsgefangene und Zivilisten erschossen und bei der Ermordung von Juden mit der SS und der Sicherheitspolizei kooperiert. Böhler nennt zahlreiche Beispiele wie jenes aus Ciepielow oder das von der Partisanenbekämpfung des Infanterieregiments 41 bei Pludwiny, über die ein Soldat notiert: «Als die Aktion beendet ist, brennt das ganze Dorf. Am Leben bleibt niemand, haben auch alle Hunde erschossen.»

Der Militärhistoriker Manfred Messerschmidt sagt: «Im Krieg gegen Polen begann, was im Krieg gegen die Sowjetunion perfektioniert werden sollte.» Böhler nennt das den «Auftakt zum Vernichtungskrieg».

Auch für den Weltkriegsexperten des Militärgeschichtlichen Forschungsamts in Potsdam, Rolf-Dieter Müller, ist unbestritten, dass Angehörige der Wehrmacht «vom ersten Tag an» an Verbrechen beteiligt waren. Von Böhlers Kollektivschuld-These aber hält er weniger. «Anders als vor dem Angriff auf die Sowjetunion gab es vor dem Polen- Krieg keine offiziellen Befehle und Vorbereitungen zur Vernichtung des Landes und seiner Bevölkerung.» Vielmehr seien die Massaker meist der NS-Hasspropaganda über Gewalttaten gegen die deutsche Minderheit in Polen geschuldet gewesen sowie der Furcht der meist unerfahrenen Soldaten vor Partisanen. «Sie waren nicht Ausdruck einer systematischen Vernichtungspolitik», sagt Müller.

Beide Seiten berufen sich auch auf die Vorgeschichte des Krieges. Böhler verweist auf antipolnische Bestrebungen in der Reichswehr- Führung bereits vor Machtantritt der Nazis. Müller hält dagegen, dass sich Adolf Hitlers Pläne zunächst nicht gegen Polen richteten. Vielmehr habe der «Führer» im autoritären Regime des Generals Jozef Pilsudski einen potenziellen Vasallen für seinen Aufmarsch zur Eroberung von Lebensraum noch weiter im Osten gesehen. Erst als die Bündnisstrategie scheiterte, entschloss er sich zum Krieg. Bereits im April 1939 ließ Hitler dann den Angriffsplan, den «Fall Weiß», ausarbeiten.

Den deutschen Truppen folgten SS und Sicherheitspolizei, die mit bis dahin ungekannter Grausamkeit politische Gegner sowie Angehörige der Intelligenz als Träger potenziellen Widerstands sowie Juden liquidierten. Böhler sieht dabei ein enges Zusammenwirken mit der Wehrmacht, die bis Ende Oktober 1939 die Oberhoheit in den eroberten Gebieten hatte. Müller dagegen verweist auf Unmut in der Wehrmacht und Proteste von Generälen gegen die Erschießungen - die freilich auf höchster Ebene ins Leere liefen.

Bis zur Kapitulation Polens am 6. Oktober wurden von Wehrmacht, SS und Sicherheitspolizei 16 000 Zivilisten und 3000 Soldaten abseits der Kämpfe ermordet. Das war nur der Auftakt für ein noch grausameres Besatzungsregime und eine Ausweitung des Krieges auf ganz Europa und darüber hinaus. Bis zu dessen Ende 1945 verlor Polen mehr als 6 Millionen seiner Bürger und Europa mehr als 40 Millionen Menschen.

Geschichte / Nationalsozialismus / Jahrestage
01.09.2009 · 17:43 Uhr
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