Anschlag in Magdeburg

Zwischen Hilfe und Hass: Was über Taleb A. bekannt ist

08. Januar 2025, 16:08 Uhr · Quelle: dpa
Er galt bei den Behörden nicht als Islamist, präsentierte sich als scharfer Kritiker des Islams. Er kämpfte für Frauenrechte und arbeitete als Arzt. Aber es gab auch eine andere Seite.

Magdeburg (dpa) - Der Attentäter von Magdeburg passt für Behörden und Sicherheitsexperten in kein gängiges Schema. In den sozialen Netzwerken präsentierte er sich als vehementer Kritiker des Islams und Saudi-Arabiens, engagierte sich aus dem Exil für Frauenrechte in seiner Heimat. Aber er hat auch eine andere Seite, und das offenbar schon lange - das wird nun immer deutlicher, nachdem Taleb A. auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt mindestens fünf Menschen tötete und 200 weitere zum Teil schwer verletzte. 

Viele rätseln vor allem über das Motiv des Mannes, der sich zuletzt immer kritischer auch zu deutschen Behörden und ihnen «geheime Operationen» vorwarf. Seine teils wirren Äußerungen etwa in sozialen Netzwerken bieten Spielraum für Interpretationen. Die Behörden sind sich immer noch nicht im Klaren, ob sie die Tat als politisch motiviert einstufen.

Taleb A. kam nach Behördenangaben bereits 2006 nach Deutschland. Von 2011 bis Anfang 2016 habe er zunächst in Mecklenburg-Vorpommern gelebt und in Stralsund einen Teil seiner Facharzt-Ausbildung absolviert, erklärte der Innenminister des Bundeslandes, Christian Pegel (SPD). Schon damals wurde er bei den Behörden mehrfach auffällig - mit der Androhung von Straftaten. 

In einem Streit um die Anerkennung von Prüfungsleistungen habe er gegenüber Vertretern der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern mit einer Tat gedroht, die internationale Beachtung bekommen werde. Im Zuge von Ermittlungen habe es auch eine Durchsuchung bei Taleb A. gegeben, dabei seien aber keine Hinweise auf eine reelle Anschlagsvorbereitung gefunden worden. Im Jahr 2013 sei Taleb A. vom Amtsgericht Rostock wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten zu 90 Tagessätzen verurteilt worden.

In der Folge gab es weitere Auffälligkeiten. Den Verdacht der Nötigung im Januar 2014 etwa, der zu einer Gefährderansprache der Polizei geführt habe, wie Innenminister Pegel sagte. Der Mann sei auf Konsequenzen solcher Taten hingewiesen worden und ihm sei gesagt worden, dass man einen sehr viel genaueren Blick auf ihn haben werde. Die Richter, die ihn 2013 verurteilt hatten, habe er später in einer Petitionshotline der Bundesbehörden außerdem als Rassisten bezeichnet. Er habe dabei Überlegungen angedroht, sich eine Pistole zu besorgen und im Zweifel Rache an den Richtern nehmen, sagte Pegel. Als Gefährder sei der Mann aber nicht eingestuft worden. 

Als Arzt im Maßregelvollzug: «Er heißt bei uns "Dr. Google"»

Auch nicht von den Behörden in Sachsen-Anhalt, wo Taleb A. anschließend lebte. Im Februar 2016 beantragte er nach Informationen der dpa einen Asylantrag, über den im Juli desselben Jahres entschieden wurde. Der saudische Staatsbürger erhielt Asyl als politisch Verfolgter. 

Er wohnte zuletzt in Bernburg, einer kleinen Stadt knapp 50 Kilometer von Magdeburg, entfernt. Dort arbeitete er als Facharzt für Psychiatrie im Maßregelvollzug und kümmerte sich um suchtkranke Straftäter. Das teilte das Gesundheitsunternehmen Salus mit. Seit März 2020 sei er in der Einrichtung tätig gewesen. «Seit Ende Oktober 2024 war er urlaubs- und krankheitsbedingt nicht mehr im Dienst», hieß es in einer Mitteilung des Unternehmens, das in Bernburg ein Fachklinikum für Psychiatrie und Suchtmedizin betreibt. 

Doch in der Belegschaft gab es offenbar Misstrauen an dem Arzt und Zweifel an seinen Kompetenzen. Die «Mitteldeutsche Zeitung» zitiert einen Mitarbeiter: «Er heißt bei uns "Dr. Google".» Vor jeder gestellten Diagnose habe er im Internet nachschauen müssen. Es habe auch Hinweise an die Klinikleitung gegeben. Die Klinik wollte sich auf Anfrage nicht äußern. 

Neben seiner Tätigkeit als Arzt ist Taleb A. als Aktivist und vehementer Islamkritiker unterwegs - vor allem in den sozialen Netzwerken, wo ihm schon vor dem Anschlag mehr als 40.000 Menschen folgen. Im Juni 2019 erschien ein Interview mit Taleb A. in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»: «Ich bin der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte», sagte er damals. Neben seinen Beiträgen in den sozialen Netzwerken beriet Taleb A. nach eigenen Aussagen Frauen unter anderem aus Saudi-Arabien bei Asylfragen und vermittelte deren Kontakt auch an internationale Medien.

Streit mit Flüchtlingshilfe: «Er wird schnell aggressiv.» 

Dabei legt er sich auch mit der Säkularen Flüchtlingshilfe Deutschland an, einem Verein, der sich um die Interessen atheistischer Flüchtlinge kümmert. Seit 2019 habe es Kontakt mit Taleb A. nur noch über Anwälte und Gerichte gegeben, hieß es in einem Statement des Vereins. Nach «übelsten Verleumdungen und verbalen Angriffen» hätten Mitglieder der Flüchtlingshilfe Anzeige gegen Taleb A. bei der Polizei erstattet. In diesem Zusammenhang gab es demnach auch einen Prozess vor dem Landgericht Köln, in dem es um die Löschung von Social-Media-Posts ging.

Mitglieder des Vereins beschreiben die zwei Seiten des Mannes. «Er hat zwei Leben gehabt», sagte die iranische Menschenrechtsaktivistin Mina Ahadi vom Zentralrat der Ex-Muslime der Deutschen Presse-Agentur. Wenn man länger mit ihm zu tun gehabt habe, habe man ein komisches Gefühl gehabt. Er habe Mitglieder des Vereins regelrecht terrorisiert, sagt Ahadi.

Vor einem Jahr habe es eine Strafanzeige gegen den heute 50-Jährigen gegeben, bestätigte die Staatsanwaltschaft Magdeburg. Eine Gefährderansprache sei auch hier geplant gewesen, sei aber nicht durchgeführt worden. Auch Menschenrechtsaktivistin Ahadi spricht von Drohungen, die Taleb A. während des Prozesses ausgestoßen habe. «Er wird schnell aggressiv.» 

Beiträge in den sozialen Medien werden radikaler

Auch in den sozialen Medien werden seine Beiträge wirrer und radikaler. «Ich erwarte ernsthaft, dieses Jahr zu sterben», hieß es auf X-dem Account von Taleb A. im Mai dieses Jahres. «Ich werde Gerechtigkeit um jeden Preis herbeiführen.» Die deutschen Behörden würden alle Wege zur Gerechtigkeit blockieren. Ob der Saudi die Beiträge wirklich alle selbst verfasste, war zunächst nicht klar. Für Irritation sorgte etwa ein Post, der wenige Minuten nach dem Anschlag von Magdeburg veröffentlicht wurde.

Saudi-Arabien hatte Deutschland saudischen Sicherheitskreisen zufolge vor dem Mann gewarnt. Das Königreich habe seine Auslieferung beantragt. Darauf habe Deutschland nicht reagiert, hieß es. Den Sicherheitskreisen zufolge stammt er aus der Stadt Al-Hofuf im Osten Saudi-Arabiens und war Schiit. Nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung in dem mehrheitlich sunnitischen Land sind schiitisch. Es gibt immer wieder Berichte von Diskriminierungen gegenüber Schiiten im Land. 

Erst vor rund zehn Tagen veröffentlichte die amerikanische Plattform «RAIR», die sich selbst als antimuslimische Graswurzel-Organisation beschreibt, ein mehr als 45 Minuten langes Interview mit dem Arzt. Darin wirft er unter anderem der deutschen Polizei vor, «geheime Operationen» durchzuführen und das Leben von saudischen Asylsuchenden, die sich vom Islam losgesagt hätten, gezielt zu zerstören. Zudem äußerte er sich als Fan von X-Inhaber Elon Musk und der AfD, die die gleichen Ziele wie er verfolge. Gleichzeitig bezeichnete er sich aber politisch als links. «Ich bin nicht rechts, ich bin ein Linker.» 

Ein Täter, der in kein Schema passt

Der Leitende Oberstaatsanwalt von Magdeburg, Horst Walter Nopens, sagte am Samstag, das Motiv des Täters könnte Unzufriedenheit über den Umgang mit Flüchtlingen aus Saudi-Arabien in Deutschland gewesen sein. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte am Sonntag, die Äußerungen des Mannes zur Motivlage hätten eher wirr geklungen.

Der Terrorismusexperte Peter Neumann vom King's College in London betonte im ZDF, wie schwierig es sei, den Attentäter ideologisch einzuordnen. Er habe nicht in ein bestimmtes Raster gepasst. «Er war eben kein typischer Islamist. Er war ein Saudi, der sich gegen den Islam gewendet hat.» Das passe für Behörden nicht so richtig in die gängigen Schemas rein. 

Man wissen aus Studien, dass sich solche Einzeltäter in vielen Fällen mitteilten gegenüber Bekannten, Freunden, Außenstehenden. «Auch das hat hier stattgefunden», sagte Neumann. «Er hat das mitgeteilt. Er hat gesagt, er möchte gegen Deutschland Krieg führen.» Das sei allerdings auch das Problem, wie solche schwachen Signale einzuordnen seien. Heute habe man eine Flut von Informationen von Tausenden von Leuten, die im Internet ähnliche Botschaften sendeten. «Und es ist ganz, ganz schwierig zu unterscheiden: Wer meint es ernst, und wer ist nur auf dem Internet und macht Sprüche?»

Update: In einer früheren Version fehlte im 10. Absatz, letzter Satz, die Angabe, worum es in dem Prozess vor dem Landgericht Köln genau ging. Diese Angabe wurde nun ergänzt.
Notfall / Kriminalität / Sachsen-Anhalt / Saudi-Arabien / Deutschland
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