Rentenstreit und mehr

Wie «Abweichler» Regierende ins Schwitzen bringen

19. November 2025, 10:35 Uhr · Quelle: dpa
Schwarz-Rot
Foto: Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/ZB
Die schwarz-rote Koalition hat schon im ersten Jahr etliche Zitterpartien hinter sich. (Symbolbild)
Johannes Winkel lehnt Rentenpläne ab, was die Koalition schwächt. In Brandenburg verlassen Abgeordnete die BSW über interne Konflikte.

Berlin (dpa) - Johannes Winkel gibt sich gleichmütig. «Ich weiß nicht, warum ich mich dafür in irgendeiner Art und Weise rechtfertigen sollte», sagte der Chef der Jungen Union in der ARD über seinen Widerstand gegen die Rentenpläne der eigenen Koalition. Wenn ein Gesetzentwurf der Regierung im Parlament beraten und gegebenenfalls geändert werde, «das ist kein großer Skandal, sondern das ist Demokratie pur». Nur, wenn in der Demokratie immer häufiger Kompromisse kippen und Mehrheiten wanken, wird das nicht zur Gefahr?

Koalition in einer Sackgasse

Tatsächlich geben «Abweichler» nun schon zum wiederholten Mal Anlass für Zweifel an der Stabilität des schwarz-roten Regierungsbündnisses unter Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Bei seiner Wahl am 6. Mai ließen ihn Dissidenten aus den Reihen der Koalition im ersten Durchgang durchfallen. Am 11. Juli wurde die Wahl der designierten Verfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf kurzfristig abgesagt, weil in der Union zu viele Abgeordnete mit einem Nein drohten. 

Und nun die Kampfansage von 18 jungen Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, die schwarz-roten Rentenpläne blockieren zu wollen. Ein Appell von Kanzler Merz an die eigenen Reihen, sich doch bitte «konstruktiv» einzubringen, verhallte erstmal ungehört. Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) wird vorgehalten, die Konflikte teils unterschätzt und nicht gut gemanagt zu haben. Wie die Union und die Koalition aus der Sackgasse herauskommen sollen, ist offen.

Krise auch in Brandenburg

Gleichzeitig spielt auf etwas kleinerer Bühne in Brandenburg ein ähnlicher Konflikt, der zeigt, dass das Regieren scheinbar überall immer komplizierter wird. In diesem Fall geht es um vier Abgeordnete der sehr jungen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht, die sich mit der Parteispitze entzweit und ihren Austritt aus dem BSW erklärt haben. 

Anlass war die Vorgabe des BSW-Bundesvorstands, im Landesparlament zwei Rundfunkstaatsverträge abzulehnen - obwohl das Kabinett der Koalition von SPD und BSW ihnen zugestimmt hatte. Im Streit wurden die vier «Abweichler» schnell grundsätzlich: Als Gründe für ihren Austritt nannten sie «autoritäre Tendenzen» und die zunehmende Dominanz radikalisierter Positionen im BSW.

«Sie meinen, das müssten sie anders machen»

Darauf reagierte Parteigründerin Sahra Wagenknecht verwundert - man könnte auch sagen: bissig. Die vier Personen hätten im Wissen um die Positionen der Partei kandidiert und den Menschen versprochen, diese Positionen zu vertreten, sagte Wagenknecht in der ARD. «Ich finde es wirklich problematisch, wenn einzelne Abgeordnete hier in einer wichtigen Position – und unsere Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist eine wichtige Position – meinen, das müssten sie einfach anders machen, weil sie es vielleicht besser wissen.»

«Nur dem Gewissen unterworfen»

Dürfen frei gewählte Abgeordnete also gar nicht frei entscheiden, nach bestem Wissen und Gewissen, in ihrem hohen Amt als Volksvertreterinnen und Volksvertreter? In Artikel 38 des Grundgesetzes heißt es doch klar: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages «sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen». 

In der Praxis gibt es trotzdem Vorgaben wie Absprachen, Parteitagsbeschlüsse oder Appelle an die «Fraktionsdisziplin». Sichtbar wurde das in der Vergangenheit oft, wenn der «Fraktionszwang» ausdrücklich für eine «Gewissensentscheidung» aufgehoben wurde, so etwa bei der Abstimmung über Berlin als Hauptstadt 1991 oder über ethische Fragen wie Sterbehilfe.

Doch erläutert der Bundestag auf seiner Webseite: «Üblicherweise wird versucht, in den Fraktionen eine einheitliche Linie für die Abstimmung und Meinungsäußerung im Parlament zu erarbeiten.» Sonst würde Regieren vor allem bei knappen Mehrheitsverhältnissen extrem mühsam.

«Abweichler» gab es schon früher

Knapp waren die Mehrheiten zum Beispiel während der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). In einer zentralen Frage baute er brachial Druck auf: 2001 verband er die Abstimmung über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr mit der Vertrauensfrage, um die Reihen zu schließen. 

Als sich 2003 Widerstand in der SPD-Fraktion gegen Schröders Sozialreformen andeutete, versuchte es der damalige SPD-Generalsekretär Olaf Scholz mit Ermahnungen: «Die Beschlüsse, die jetzt im Deutschen Bundestag zu entscheiden sind, das sind Dinge, die wir vorher in der Partei sorgfältig diskutiert haben und wofür es auch breite Mehrheiten gegeben hat», sagte Scholz damals im Deutschlandfunk. Bis 2005 wurde das Grummeln in der Bevölkerung, aber auch in der SPD immer lauter, und es gab Neuwahlen.

Kauder drohte

Viel üppiger waren die Mehrheitsverhältnisse für die Große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel 2015, und doch brachten «Abweichler» auch sie in Bedrängnis. Streitpunkt waren die diversen Euro-Rettungs-Pakete für Griechenland. Im Juli 2015 stimmten sage und schreibe 60 Abgeordnete von CDU und CSU gegen die Fraktionslinie. 

Der damalige Fraktionschef Volker Kauder (CDU) ließ sich dazu hinreißen, Abweichlern mit Konsequenzen bei künftigen Personalentscheidungen zu drohen. «Wir diskutieren, streiten und stimmen ab, aber am Schluss muss die Minderheit mit der Mehrheit stimmen», sagte er damals der «Welt». 

Zwang ist rechtlich nicht möglich

Muss also auch im jetzigen Rentenstreit letztlich die Minderheit in der Union mitziehen, die Bedenken gegen die von Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) ausgearbeiteten und von Kanzler Merz (CDU) gebilligten Pläne hat? Der Koalitionsvertrag klingt eindeutig: «Im Deutschen Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab.» Und Bas lehnt Änderungen ab.

Andererseits: Zwang ist rechtlich nicht möglich und politisch noch weniger. Will Schwarz-Rot mit einer Mehrheit von 12 Stimmen im Bundestag die gesamte Wahlperiode bis 2029 durchhalten, bleibt nur der Kompromiss: Den «Abweichlern» muss wohl etwas geboten werden.

Partei / Bundesregierung / Parlament / Deutschland / Brandenburg
19.11.2025 · 10:35 Uhr
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