Von unserem Wunsch nach einfachen Lösungen

Berlin, 22.01.2019 (PresseBox) - Nun hat es also auch den Grünen-Chef ereilt? Unter dem Titel „Robert Habecks Angst, in den Spiegel zu schauen“ verweist die Süddeutsche auf das Phänomen, dass wir aktuell nach einfachen Lösungen für Herausforderungen suchen, die wir mit analytischen Mitteln nicht mehr überschauen können: „einfach mal eine Mauer... bauen“, „einfach raus aus der EU“, ja und eben auch einfach raus aus den sozialen Medien. Das Handeln von Robert Habeck verdeutlicht, dass einfache Lösungen etwas sind, nach dem wir alle suchen, obwohl wir wissen, dass es die bei komplexen Herausforderungen selten gibt. Es ist offensichtlich eine zutiefst menschliche Sehnsucht. Einfache Lösungen versprechen, dass wir Problem und Lösung mittels Verstand kontrollieren können. Das gibt uns Sicherheit, und die braucht es, um handlungs- und entscheidungsfähig zu sein.

Gerade in unserem westlichen Kulturkreis blicken wir in Bezug auf verstandesgesteuertes Handeln und Entscheiden auf eine lange Historie zurück. „Kontrolle behalten“ bzw. „in Kontrolle der Situation sein“ spielt dabei eine entscheidende Rolle. Unüberschaubare Situationen aber lassen sich nicht kontrollieren. Und so es gibt aus dem letzten Jahrhundert diverse wissenschaftliche Ansätze, Kontrolle und damit gefühlte Sicherheit in unüberschaubaren Situationen durch Vereinfachung zurückzuerlangen (s. u.a. Judith Neumer aus „Vom Umgang mit Ungewissheit in Projekten, II. Forschungsansätze und -Richtungen zu einem ‚neuen‘ Umgang mit Ungewissheit“, veröffentlicht bei der Gesellschaft für Projektmanagement, Nov. 2016).

Grundsätzlich ist verstandesgesteuertes Handeln und Entscheiden durchaus ein erfolgversprechender Ansatz, durch rationales Entscheiden und Handeln haben wir in Hinsicht auf technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt viel erreicht. Und so würden wir das natürlich gerne in einer Zeit fortschreiben, in der Komplexität zu- und Überschaubarkeit abnimmt. Und das geht eben nur durch immer weitergehende Reduzierung also Vereinfachung, denn unser Verstand kommt selbst mit (vielleicht sogar auch wegen) der Unterstützung von leistungsstarken Computern an seine Grenzen. Durch immer weitergehende Vereinfachung aber laufen wir Gefahr, Situationen nicht mehr angemessen zu beurteilen. Stattdessen sollten wir anerkennen, dass wir vieles nicht überschauen und beherrschen. Das fällt schwer, also vereinfachen wir, damit wir die Situation wieder kontrollieren können – scheinbar jedenfalls. Die Idee der Vereinfachung erfüllt nämlich dann nicht den erwünschten Zweck, wenn die Situation durch die Vereinfachung zu stark verfremdet wird. Das ist spätestens dann der Fall, wenn wir glauben, etwas (eine Veränderung) aufhalten zu können, das nicht aufzuhalten ist. Wir stemmen uns in unserem Denken und Handeln gegen etwas, das wir nicht verhindern können. Das vergeudet Energie und führt mit zunehmender Tendenz zu Unsicherheit und Ängsten. Das wiederum gefährdet unsere angemessene Handlungsfähigkeit noch weiter.

Diese Spirale aus Unsicherheit und Angst wird oft dadurch überspielt, dass wir uns vorgaugeln, es könne doch eine einfache Lösung geben. Wir glauben, dass wir Flüchtlingsströme (oder vielleicht sollten wir von Völkerwanderungen reden?) durch Mauern aufhalten – eine seit Jahrtausenden falsifizierte Idee. Wir glauben, dass wir den gefühlten Verlust von Heimat in einer sich globalisierenden Welt durch Fokussierung auf die Nation aufhalten – inzwischen ist daraus gefährlicher Rassismus geworden. Wir glauben, die Folgen der sozialen Medien auf unsere persönliche Integrität und Schutzwürdigkeit durch Technikverzicht aufzuhalten.

Die hinter all dem stehende Idee, Neues aufzuhalten oder zumindest nicht mitzumachen, kann durchaus wirksam sein. Aber eben nur bei kontrollierbaren Veränderungen. Bereits im Kern birgt das Mittel der Vereinfachung die Gefahr, dass sie das Gegenteil von dem bewirkt, was wir erreichen wollen: Unser kontrollierender, rationaler Einfluss nimmt noch weiter ab durch das, was die Süddeutsche so schön als „blinden Fleck“ bezeichnet, nämlich das Ignorieren der sich verändernden Realität. Das führt in eine Spirale in die falsche Richtung: Blinde Flecken können - biologisch bedingt – durch Angst und Stress zum Tunnelblick werden und sogar zu Erstarrung führen. Dieses Phänomen können wir zurzeit bei vielen wichtigen Themen (kulturelle Vermischung, Globalisierung, zunehmende Technisierung, Umweltprobleme) vermehrt beobachten. Wir rennen ganz archaisch weg, stemmen uns mit Gewalt dagegen oder tun so, als ob es diese Entwicklung gar nicht gibt. Und dann wird es wirklich gefährlich, denn die anstehende Entwicklung ist nicht aufzuhalten, und bahnt sich, oft begleitet von Gewalt, ihren Weg.

Keine schöne Aussicht für die kommenden Jahre? So kann es kommen, muss es aber nicht, wenn wir uns ALLER Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, bewusst werden und diese in Form von Kompetenzen lernen, üben und nutzen. Das ist die große Herausforderung unserer Zeit. Aber wie kann das konkret gehen?

Im vorangegangenen Text habe ich mehrfach darauf verwiesen, dass wir es hier mit dem Problem des gefühlten Kontrollverlustes zu tun haben, der unser grundlegendes Bedürfnis nach Sicherheit massiv beeinträchtigt. Es braucht also eine neue Form der Sicherheit.

Ein gutes Beispiel für eine neue Form der Sicherheit ist Ingenieur Scotty aus der Serie Raumschiff Enterprise. Die Enterprise bricht mit dem Ziel auf, „... neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen“. In einem solchen Szenario kann es keine Sicherheit durch Kontrolle geben, selbst die scheinbar so deterministische Technik entwickelt ein Eigenleben – ein gutes Beispiel für das, was im Rahmen der Digitalisierung auf uns zukommen wird. Und doch strahlt Ingenieur Scotty eine Sicherheit aus, die wir als „innere Stabilität“ bezeichnen können. Er weiß, was er kann und was nicht. Er vertraut seinen Fähigkeiten und sucht Unterstützung, wo diese nicht ausreichen. Auf Basis seines fundierten Wissens über die Enterprise und seine Kompetenzen experimentiert er und traut sich selbst in Zeiten größter emotionaler Belastung, Fehler zu machen, um aus diesen zu lernen (statt sich in Selbstvorwürfen zu blockieren). Scotty hat eine „spürende“ Verbindung zum von ihm betreuten Antrieb. Er denkt und entscheidet IM Handeln, statt zunächst zu planen und anschließend zu handeln. Zusammenfassend verfügt er damit in unüberschaubaren Situationen über die Kompetenzen, erfahrungsgeleitet zu handeln, und das sind genau die Kompetenzen, die es in solchen Situationen braucht.

Erfahrungsgeleitetes Handeln ist nicht alleine dem analytischen (objektivierenden) Verstand zuzuordnen, es erfordert zwingend unsere subjektivierenden Anteile (näheres s. u.a. „Arbeit als subjektivierendes Handeln“, herausgegeben von Fritz Böhle, Springer Fachmedien Wiesbaden, 2017). In diesen subjektivierenden Anteilen ist unsere Körperlichkeit entscheidend. Es geht um Sinne, Instinkte, Emotionen, die – basierend auf einer soliden Wissensbasis und reflektiert, d.h. vom Verstand begleitet – Handeln und Entscheiden in Situationen erlauben, die wir nicht kontrollieren können. Und dabei geht es nicht, wie heute so gerne praktiziert, um einen Körper, der zu funktionieren hat, damit unser Verstand den Rest erledigt. Es geht vielmehr um einen Körper, der Teil unserer Intelligenz ist, und diese Intelligenz gilt es achtsam zu trainieren. Sie ist schneller und impulsiver als unser Verstand und entwickelt in schwierigen Situationen gerne eine Art Eigenleben. Durch Bewusstheit und achtsamen Umgang wird sie zu einer wertvollen Ressource. Und wie kommen wir konkret dahin?

Ein erster Schritt in diese not-wendige Richtung ist zu akzeptieren, dass es Situationen gibt, die jenseits unserer verstandesmäßigen Kontrolle liegen und dass diese Situationen in der heutigen Zeit gefühlt zunehmen. Ein weiterer not-wendiger Schritt ist, die für solche Situationen erforderlichen Kompetenzen zu erlernen und zu üben, BEVOR die Situation selbst eintritt: Improvisation, U-Theorie, reflektierte Körperarbeit sind Beispiele für solche „Trainingsmethoden“. Und es gilt innere Stabilität als eine persönliche Form von Sicherheit zu entwickeln – auch hier kann reflektierte Körperarbeit unterstützen.

Beim Üben geht es darum, die Intelligenz von Körper und Verstand zu verbinden. Unser Verstand ist eine wichtige Planungs- und Steuerungskomponente, die uns ein gezieltes Vorangehen ermöglicht. Gleichberechtigt ist der Körper, der uns Hinweise gibt, dass wir den Rahmen der Kontrolle verlassen haben und uns anderes Handeln – eben erfahrungsgeleitet und spürend – erst ermöglicht. Angst und Gewalt, steigende Raten psychischer Erkrankungen, die wir aktuell beobachten, sind ein solche Hinweise.

Betrachtet man das Handeln von Herrn Habeck unter diesen Gesichtspunkten, wird seine Einschätzung, dass er zeitweise in den sozialen Medien emotional jenseits seiner Werte agiert hat und dass er seine Privatsphäre bedroht sieht, zu einem wichtigen persönlichen Hinweis. Er ist nicht mehr in Kontrolle der Situation. Aus Perspektive der Kompetenzen für solche Situationen ist es durchaus sinnvoll, zunächst einmal einen Schritt zurückzugehen, durchzuatmen, zu beobachten, zu reflektieren und dann etwas anders zu machen. Das ihn dabei möglicherweise und zwischenzeitlich die Sorge umtreibt, die auslösende Situation (nämlich Facebook und Twitter) „nicht stehen zu können“, und er daher spontan nach einer einfach erscheinenden Lösung (nämlich dem Löschen von Accounts) sucht, steht hierzu nicht im Widerspruch. Erst sein nächster Schritt wird zeigen, ob er eine einfache Lösung sucht oder die Situation in all ihrer Unüberschaubarkeit neu bewerten möchte (Prof. Böhle verweist in diesem Zusammenhang gerne auf die Vergleichbarkeit zu musikalischer Improvisation, bei der erst die folgende Note über die Qualität der Improvisation entscheidet).

Im Zeitalter der Digitalisierung gilt es zu anzuerkennen, dass „man“ sich den sozialen Medien nicht entziehen kann, und dass es - gerade auch für einen Politiker - darum geht, mitzugestalten. Hier eine Pause zu machen, emotionalen Abstand zu suchen, achtsam zu schauen, wohin die Reise gehen könnte und darauf basierend einen nächsten Schritt zu versuchen, ist ein Beispiel für situativ intelligentes Entscheiden und Handeln. Sicherlich ist das nicht die schnelle Lösung, nach der unsere Zeit so giert, aber die ist in Zeiten von großen Umbrüchen selbst in einer schnelllebigen Zeit wie der unseren auch nicht zu erwarten. Wir brauchen einen langen Atem und das Gespür, wo es hingehen könnte, ohne dabei das Ziel genau vor Augen zu haben - das alles setzt eine neue Form der Sicherheit voraus, die auf der oben beschriebenen inneren Stabilität basiert.

Löst „die Angst, in den Spiegel zu schauen“, also die Suche nach einfachen Lösungen aus oder wird sie als ein Hinweis erkannt, dass es ein neues Um- und Zugehen auf anstehende Veränderungen braucht. Die nächsten Monate werden es im Fall Habeck zeigen.
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[pressebox.de] · 22.01.2019 · 08:06 Uhr
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