Report: In Kairo entstehen zwei Parallel-Welten
Kairo (dpa) - Zwei Wochen stand Kairo still, doch am Sonntag erwachte die 18-Millionen-Einwohner-Stadt zaghaft zu neuem Leben. Hausfrauen drängten sich auf den Märkten.
Vor den wiedereröffneten Banken standen die an Bargeld klammen Bürger in langen Schlangen. Die Bettler nahmen wieder ihre gewohnten Plätze ein. Lastwagen mit Kränen entfernten die bei den jüngsten Kämpfen ausgebrannten Fahrzeugwracks aus den Straßen. Autos rasten über die Boulevards des Zentrums.
«Es ist so schön, wieder zur Arbeit gehen zu können», schwärmte die Rechtsanwältin Dalia Fahim in der Nobel-Vorstadt Heliopolis. Wegen des Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung habe sie seit Beginn der Proteste gegen den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak vor zwölf Tagen das Haus nicht verlassen. «Das war wirklich kein Leben», fügte sie hinzu.
Amir Mahmud, Filialleiter eines Reisebüros unweit des Tahrir-Platzes, zählte indes seine Verluste zusammen. «Die Touristen wurden verscheucht, und eine Menge Menschen werden deshalb ihre Existenz verlieren.» Er habe es satt, mit Ausgangssperren und ohne einen einzigen Kunden leben zu müssen. «Mubarak hat doch angekündigt, dass er im September geht. Was wollen die Demonstranten noch?»
Auf dem nur wenige Schritte entfernten Tahrir-Platz, der tagelang Schauplatz von Demonstrationen war, herrschte am Sonntag eine ausgelassene, bisweilen auch trotzige Stimmung. Zehntausende waren erneut gekommen, riefen wie in den Tagen zuvor Spottparolen auf Mubarak und hielten selbst gemachte Transparente hoch. An Verkehrsampeln baumelten Stoffpuppen, die den hier verhassten Staatschef symbolisieren sollten. Doch die Frage, die der Reisebüro-Filialleiter Mahmud aufwarf, wurde auch hier diskutiert - heftig und kontrovers.
Eine Gruppe von Demonstranten umringte die junge Ärztin Marwa aus dem nahen Ain-Schams-Krankenhaus. «Es bringt gar nichts, wenn Mubarak abtritt, alle unter ihm würden bleiben, sein ganzes schlechtes System», argumentierte die junge Frau im weißen Medizinerkittel. «Wir müssen vielmehr die Verfassung ändern, damit es einen geordneten Übergang zu wirklich demokratischen Verhältnissen geben kann.»
Die Umstehenden widersprachen ihr heftig. Starke Emotionen trieben sie an. Sie hatten hier zuerst den Gewaltexzessen der Sonderpolizei, dann den brutalen Angriffen des Pro-Mubarak-Mobs widerstanden. «Hier ist Blut vergossen worden. Soll das umsonst gewesen sein, wenn wir da einfach nachgeben?», redete der Medizinstudent Mohammed, auch er im weißen Kittel, beschwörend auf sie ein. Er war vom ersten Tag an hier und hatte während der Kämpfe blutenden Demonstranten Verbände angelegt.
Auch die anderen schalteten sich aufgewühlt in die Diskussion ein, sie teilten die Ansicht Mohammeds. Die Standpunkte prallten aufeinander. Am Ende löste sich die Gruppe auf, im Weggehen diskutierten Marwa und Mohammed leidenschaftlich weiter.
«Hier ist eine ganz andere Welt als die Welt da draußen», meinte der 26-jährige Amr Abu al-Sul. Der Germanistik-Assistent von der Ain-Schams-Universität hatte gleichfalls vom ersten Tag an gegen den Präsidenten demonstriert, die Höhen und Tiefen der Protestbewegung miterlebt. Auch er sprach sich für ein Weitermachen bis zum Rücktritt aus. Doch Al-Sul war sich bewusst, dass die parallelen Welten in Kairo auf Dauer nur schwer zu halten sein würden. Seine Familie, die ganz gegen Mubarak sei, dränge ihn zusehends, nach Hause zu kommen. Schließlich räumte er ein: «Etliche meiner Freunde, die bis vor kurzem mit mir hier waren, haben aufgegeben.»