Innovative Enteisung: Neuartiges System setzt auf Schwingungen statt Hitze
Moderne Flugzeuge stehen vor einem altbekannten Problem: Eis auf den Tragflächen kann Auftrieb reduzieren, den Luftwiderstand erhöhen und selbst Steuerflächen blockieren. Herkömmliche Enteisungsmechanismen greifen deshalb auf heiße Triebwerksluft zurück – ein aufwendiges Verfahren, das viel Energie verschlingt. Im Rahmen des EU‑Forschungsprogramms „Clean Aviation“ haben Wissenschaftler:innen des Fraunhofer-Instituts LBF gemeinsam mit Partnern nun eine alternative, deutlich effizientere Methode entwickelt. Anstatt zu heizen, setzen sie auf gezielte Schwingungen, um Eis von Tragflächen zu lösen.

System vibriert anstatt warm zu werden
In ihrem Ansatz nutzen die Forscher:innen piezoelektrische Aktoren, um gezielt niederfrequente Schwingungen im Material der Tragfläche zu erzeugen. Sensoren registrieren zunächst die Entstehung von Eis. Sobald sich eine Eisschicht bildet, bestimmen die Messsysteme die Eigenresonanzfrequenz der betreffenden Strukturzone – also jene Frequenz, bei der das Material besonders effektiv schwingen kann. Daraufhin aktivieren die Aktoren gezielt Schwingungen im Kilohertz-Bereich, die für das menschliche Auge unsichtbar sind, jedoch das anhaftende Eis mechanisch lockern und schließlich ablösen. „Die Schwingungen bewegen sich im Bereich von wenigen Kilohertz und sind für das bloße Auge nicht sichtbar, aber sehr wirksam. Das anhaftende Eis wird gelöst und fällt ab“, erklärt Denis Becker, Forschender am Fraunhofer LBF.
Um diese Technologie zu validieren, platzierten die Forscher:innen ein Tragflächensegment in einen speziellen Vereisungs-Windkanal. Dort simulierten sie realistische Eisablagerungen an der Flügelvorderkante und testeten das Schwingungssystem unter kontrollierten Bedingungen. Die Experimente zeigten: Das Verfahren kann tatsächlich Eis effektiv lösen, ohne dass zusätzliche Heizelemente notwendig sind.
Neues System benötigt deutlich weniger Energie
Der wichtigste Vorteil dieses Verfahrens liegt im erheblich reduzierten Energiebedarf. Klassisch enteisen Flugzeuge mit heißer Luft aus den Triebwerken, was nicht nur komplex, sondern auch ineffizient ist. Gerade bei zukünftigen emissionsarmen Antrieben wie Elektro‑ oder Hybridflugzeugen wird diese Abwärme kaum mehr verfügbar sein. In diesem Kontext könnte das Vibrationsverfahren bis zu 80 Prozent Energie einsparen – ein wesentlicher Beitrag zur Nachhaltigkeit in der Luftfahrt.
Darüber hinaus ist das System relativ leicht integrierbar. Die Aktoren und Sensoren benötigen wenig Masse im Vergleich zu klassischen Heizungssystemen. Durch die präzise Steuerung der Frequenz auf Basis von Echtzeitdaten (Material, Flughöhe, Temperatur, Eisauflage) bleibt das System flexibel und effizient, auch unter wechselnden Flugbedingungen.
Erprobung unter Realbedingungen steht noch aus
Trotz der vielversprechenden Test‑Ergebnisse steht die Technik noch vor einigen Hürden. So muss sichergestellt werden, dass die Sensorik und die Aktoren auch im realen Flugumfeld zuverlässig funktionieren – mit allen dynamischen Belastungen, Temperaturschwankungen und wechselnder Eisbildung. Dass die Resonanzfrequenz im Flug konstant verändert wird, erfordert eine sehr schnelle und adaptive Steuerung, was komplexe Algorithmen und robuste Elektronik voraussetzt.
Ein weiterer Schritt in der Entwicklung wird sein, Flugversuche durchzuführen: Die Forschenden planen, das System im Windkanal weiter zu optimieren und anschließend für echte Flugtests vorzubereiten. Denn erst unter realen Bedingungen lässt sich abschätzen, wie langlebig und effizient das System ist.
Langfristig könnte die Methode nicht nur bei Flugzeugen mit traditionellen Triebwerken, sondern vor allem bei emissionsarmen Plattformen ein integraler Bestandteil der Enteisungsstrategie sein. Wenn das gelingt, ließe sich ein beträchtlicher Teil des aktuellen Energieaufwands in der Luftfahrt einsparen. Außerdem würde ein vibro-mechanisches System die Abhängigkeit von thermischen Enteisungsmethoden reduzieren und so die Klimabilanz von Flugzeugen weiter verbessern.

