Kritik an Israels Einreise-Verbot für Grass

Tel Aviv/Berlin (dpa) - Mit einem Einreiseverbot hat Israel auf das umstrittene Gedicht von Günter Grass reagiert und ist damit selbst in die Kritik geraten.

Innenminister Eli Jischai von der strengreligiösen Schas-Partei erklärte den Literaturnobelpreisträger nach dessen Israel-Kritik zur Persona non grata (unerwünschten Person). Die israelische Zeitung «Haaretz» nannte dies am Montag «hysterisch» und eine «Überreaktion». Der israelische Historiker Tom Segev sprach im Interview mit «Spiegel Online» von einem «absolut zynischen und albernen Schritt des Innenministeriums». Auch in Deutschland gab es kritische Stimmen.

Grass wollte sich auf dpa-Anfrage zum Einreiseverbot und zur weiteren Debatte um sein jüngstes Gedicht nicht äußern.

Segev sagte, die Motivation des Ministers zu diesem Schritt sei der Versuch, «seine politische Zukunft zu sichern». Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, kritisierte das Einreiseverbot als übertrieben und populistisch. «Ich glaube, dass der Innenminister gar nichts von Deutschland versteht», sagte er am Sonntagabend in den ARD-«Tagesthemen». «Er betreibt Innenpolitik. Ich halte das für falsch.»

«Die Reaktion der israelischen Regierung ist unangemessen und wird dem Thema nicht gerecht», sagte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, «Handelsblatt Online». Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck, sagte «Handelsblatt Online»: «Das ist unsouverän und demokratisch nicht klug. Ich hoffe, dass man das noch einmal überdenkt.» Das Auswärtige Amt wollte sich zu dem Einreiseverbot nicht äußern.

Grass behauptet in seinem Gedicht «Was gesagt werden muss», dass der Iran von einem atomaren Präventivschlag durch Israel bedroht sei, der das iranische Volk auslöschen könne. Er wirft Israel vor, als Atommacht den Weltfrieden zu gefährden.

Die Hamburger Autorenvereinigung rief dazu auf, die Auseinandersetzung in der Literaturszene zu führen. «Dass sie in den politischen Bereich überschwappt, mag einem Autor, der erkennbar Lust am Streit hat, vielleicht nicht ungelegen kommen», sagte Sprecher Peter Schmidt. Aber hier gehe es um mehr als die Befindlichkeit eines Günter Grass. «Hier geht es um die Freiheit der Kunst, die ein Charakteristikum demokratisch verfasster Staaten ist. Und die sollte auch gelten, wenn ein Kunstwerk nur mit mühevoller Vorstellungskraft und Verwendung von geistigen Gehhilfen als solches wahrnehmbar ist.»

Israels Innenminister Jischai sagte, das Gedicht habe darauf abgezielt, «das Feuer des Hasses auf den Staat Israel und das Volk Israel anzufachen». Grass wolle so «die Idee weiterbringen, die er früher mit dem Tragen der SS-Uniform offen unterstützt hat». Jischai sagte im israelischen Rundfunk sogar, man müsse dem 84-Jährigen nun eigentlich den Literaturnobelpreis aberkennen. Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman sagte, die Äußerungen von Grass seien ein Ausdruck des Zynismus. Dagegen schrieb die Zeitung «Haaretz»: «Grass, ein Literaturnobelpreisträger, hat nicht mehr getan, als ein Gedicht zu schreiben. Der Staat Israel hat durch seinen Innenminister auf hysterische Weise reagiert.»

In Deutschland ging die Kritik an dem 84-Jährigen Schriftsteller weiter. In einem Beitrag für die «Bild am Sonntag» schrieb Außenminister Guido Westerwelle (FDP): «Israel und Iran auf eine gleiche moralische Stufe zu stellen, ist nicht geistreich, sondern absurd.» Und er fuhr fort: «Iran verweigert völkerrechtswidrig seit Jahren umfassende Zusammenarbeit bei der Kontrolle seines Nuklearprogramms.» Iran habe das Recht auf eine zivile Nutzung der Atomenergie. Es habe aber nicht das Recht auf atomare Bewaffnung. «Wer die davon ausgehende Bedrohung verharmlost, verweigert sich der Realität.»

Auch Schriftstellerkollegen kritisierten Grass: Rolf Hochhuth schrieb von Scham, Daniel Jonah Goldhagen warf Grass vor, er bediene Klischees und Vorurteile. Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», es sei «ein ekelhaftes Gedicht», das politisch und literarisch wertlos sei. «Der Iran will Israel auslöschen, das kündigt der Präsident immer wieder an, und Günter Grass dichtet das Gegenteil», sagte Reich-Ranicki, der als polnischer Jude nur knapp der Deportation in die deutschen Vernichtungslager entging.

Der Schriftsteller Wolf Biermann verteidigte Grass «im Namen der Meinungsfreiheit», sein Israel-Gedicht aber bezeichnete er als «literarische Todsünde». In der «Welt am Sonntag» schrieb der Liedermacher, «wenn dem Künstler keine originellen Ideen mehr kommen, versucht mancher sich an einem künstlichen Tabubruch wie Grass».

Der Iran lobte Grass in höchsten Tonen. «Dieses Gedicht wird zweifellos dazu beitragen, dass auch das schlafende Gewissen des Westens nun aufweckt wird», schrieb der iranische Vizekultusminister Dschawad Schamghadri dem 84-Jährigen in einem Brief, der von der Nachrichtenagentur Mehr veröffentlicht wurde.

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Tagesthemen-Bericht
Literatur / Israel / Iran
09.04.2012 · 12:34 Uhr
[9 Kommentare]
 
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