Kinderschicksale in DDR-Krippen: Eine historische Aufarbeitung beginnt

03. Februar 2023, 15:54 Uhr · Quelle: LifePR

Sankt Augustin, 03.02.2023 (lifePR) - Es sind erschütternde Schicksale vernachlässigter, wehrloser Kleinstkinder, die der Erfurter Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg in seinem Werk „Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen“ (erschienen 2022 bei C.H.-Beck) darstellt. So etwa den Tod des kleinen Michael, der erstickte, weil sich ein Lederriemen um seinen Hals zuzog, mit dem er über Nacht an seinem Bett angegurtet war. Oder den Todesfall des behinderten vietnamesischen Jungen Dan Ngyen, der in einem Säuglingsdauerheim kollabierte, weil er eine Überdosis von Beruhigungsmedikamenten verabreicht bekam.

Rosenberg analysiert diese Todesfälle (zusammen mit vielen anderen Kinderschicksalen) anhand amtlicher Dokumente der DDR. Auffallend an den Dokumentationen ist die Selbstverständlichkeit, mit denen die Praktiken der Fixierung und medikamentösen Sedierung von Kindern behandelt wurden. So ging es bei der amtlichen Untersuchung zum Tod von Dan Ngyen nur darum, dass man sich mit der Menge verkalkuliert hat. Die Verabreichung von Beruhigungsmitteln an sich wurde nicht in Frage gestellt. Im Fall des kleinen Michael ging es nur darum, wie der Lederriemen eingesetzt werden soll, um zukünftige Unfälle zu vermeiden. Die Fixierung an sich wurde als notwendig angesehen, da in den Wochenkrippen eine Nachtwache 30, 40 oder sogar 50 schlafende Kinder zu beaufsichtigen hatte. An den Todesfällen zeigt sich so exemplarisch die Inhumanität eines Kinderbetreuungssystems, in dem viele Kinder auch über die Nacht, getrennt von ihren Eltern, in Einrichtungen verblieben.

In den DDR-Wochenkrippen wurden die Kinder am Montagmorgen abgegeben und blieben dort bis zum Samstag oder zumindest bis zum Freitagnachmittag. In dieser Form der ganzwöchigen Kinderbetreuung auch über Nacht lösten sich die Beziehungen der Kinder zu ihren Eltern. Schilderungen zeigen, dass Kinder, die in solchen Einrichtungen waren, ihre Eltern an den Wochenenden wie Fremde wahrgenommen haben.

Noch schlimmer erging es Kindern in Säuglingsdauerheimen. Hier waren alle Kinder dauerhaft von ihren Eltern getrennt, weil z. B. das Kindeswohl gefährdet war oder weil die Eltern inhaftiert waren. Auch für das Personal war die Situation sehr belastend. Die Fluktuation war deshalb hoch. Dies verschlimmerte die Lage zusätzlich, denn so war auch der Aufbau von Ersatzbindungen zu den Erziehern extrem erschwert. Säuglingsdauerheim wie Wochenkrippe sind mit tragischen Schicksalen verbunden. Einen Einblick hierzu gibt die ARD-Dokumentation „Die Tränen der Kinder. Wochenkrippen in der DDR“.

Auch die Tageskrippen waren „nicht unproblematisch“, wie von Rosenberg im Interview mit der „Tagespost“ feststellt. Die Abgabe der Kinder in die Krippen beschrieben DDR-Forscher als einen Schock, der sich auf die Gesundheit der Kinder, ihr Gewichts- und Längenwachstum, ihre Psyche und kognitive Entwicklung negativ auswirkte. Sie verglichen, wie sich Kinder in Familien, Tageskrippen, Wochenkrippen und Säuglingsdauerheimen entwickelten. Dabei zeigte sich ein klares Muster: „Die Tageskrippenkinder schnitten in diesen Tests schlechter ab als die Familienkinder. Die Wochenkrippenkinder schlechter als die Tageskrippenkinder und am Schlechtesten waren die Ergebnisse der Kinder in den Säuglingsdauerheimen. Man kann also sagen, je weniger Zeit die Kinder in den Familien verbrachten, desto schlechter waren ihre Entwicklungswerte“. Wie von Rosenberg darstellt, galt dies nicht nur für die physische und psychische Gesundheit, sondern auch für die kognitive und sprachliche Entwicklung.

Eine öffentliche Diskussion dieser Erkenntnisse wurde von der DDR-Führung strikt unterbunden. Forschungsarbeiten mussten unveröffentlicht bleiben oder umgeschrieben werden. Zweiflern und Skeptikern wurde klar gemacht, dass jede Kritik an den Krippen als Angriff auf die sozialistische Frauenpolitik angesehen wurde. Sogar das Problem des „Hospitalismus“ war seit den 1960er Jahren tabu. Wie alle Erkenntnisse der Bindungsforschung galt das Problem als eine Erfindung der „bürgerlichen Psychologie“ und damit des Klassenfeindes, der allein darauf aus sei, den Sozialismus zu diskreditieren.

Oberste Priorität war die rasche Eingliederung der Mütter in die Arbeitsprozesse. Der Wochenurlaub für Mütter war 1945 (also noch in der Sowjetischen Besatzungszone) auf sechs Wochen verkürzt worden. Kinderärzte forderten Ende der 1950er Jahre, diesen Wochenurlaub auf drei Monate zu verlängern, um Müttern mehr Zeit zum Stillen zu geben. Anlass dazu gaben schwere Ernährungsstörungen, an denen viele Säuglinge starben. (Der Übergang zu künstlicher Säuglingsnahrung war damals schwieriger als heute). Trotzdem lehnte die DDR-Führung einen längeren Wochenurlaub ab.

In der Tschechoslowakei (ČSSR) wurde der Wochenurlaub auf drei Monate verlängert. Zu Beginn der 1960er Jahren starben in diesem sozialistischen „Bruderland“ fünfmal weniger Säuglinge an Magen-Darmerkrankungen. Von Rosenberg schließt daraus, dass die DDR für die Gewinnung (weiblicher) Arbeitskräfte den Tod von Säuglingen „billigend in Kauf“ nahm.

Der Vorrang der Frauenerwerbstätigkeit vor dem Kindeswohl war nicht bloß wirtschaftlich, im Mangel an Arbeitskräften begründet. Vielmehr war die DDR-Führung überzeugt von ihrer marxistisch-leninistisch begründeten Mission, die (deutschen) Frauen zu befreien. So verkündete eine für den Krippenausbau zuständige Funktionärin, dass mit der Gründung der DDR „endlich auch im Leben der deutschen Frau die Wende eingetreten“ sei, „die für die sowjetische Frau schon die Oktoberrevolution 1917 brachte“. Krippen galten ihr als unerlässlich, um „die Frau zu befreien, ihre Ungleichheit gegenüber dem Manne […] zu verringern und aus der Welt zu schaffen“. Bis heute wird die DDR-Kinderbetreuungspolitik aus unter dem Aspekt der Frauengleichstellung betrachtet. Aus dieser Perspektive gilt sie noch immer vielen als eine „Errungenschaft“ der DDR und geradezu vorbildlich (für Westdeutschland).

Die Schattenseiten des DDR-Betreuungssystems für Kinder zu thematisieren, ist noch immer schwierig. So wird Rosenberg unterstellt, dass er als Westdeutscher den Ostdeutschen erklären wolle, dass „mit ihnen etwas nicht stimmt und die Krippen daran schuld sind“. Aber gerade darum geht es in seiner Forschung gar nicht. Vielmehr leistet er eine zeithistorische Dokumentation dessen, was man im DDR-Staatsapparat über die Probleme der Kleinstkinder in Krippen wusste, aber öffentlich nicht sagen durfte.

Was aus den Krippenkindern wurde, welche Folgen ihre „beschädigte Kindheit“, ist noch gar nicht Gegenstand seiner Aufarbeitung der DDR-Dokumente. Die medizinisch-psychologische Erforschung der Lebensschicksale von Wochenkrippenkindern steht noch ganz am Anfang. Erkenntnisse hierzu sind von dem Forschungsprojekt „Bindung und seelische Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder“ zu erwarten, das 2022 an der Universitätsklinik Rostock begonnen wurde. Der aktuelle Erkenntnisstand wird bei einem Symposium zur „wochenweisen Fremdbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern und ihrer Folgen“ am 21-23. April diskutiert werden. Es ist zu hoffen, dass diese verdienstvollen Bemühungen zur Aufklärung der systemischen Kindesmisshandlung im SED-Staat auch von den Medien beachtet werden, die in anderen Fällen (zu Recht) mit Vehemenz „historische Aufarbeitung“ fordern.

Florian von Rosenberg: Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen, C.H.-Beck 2022.

Hierzu: https://www.die-tagespost.de/politik/die-ddr-war-nicht-familienfreundlich-art-234639

Zur ARD-Dokumentation: https://www.mdr.de/tv/programm/sendung-763858.html

Zum laufenden Forschungsprojekt: https://kpm.med.uni-rostock.de/forschung/studien#c177683

Zum Symposium vom 21.-23. April 2023: http://wochenkinder.de/aktuelles/symposium/

Mit Hinweisen für Betroffene zu Selbsthilfegruppen: http://wochenkinder.de.

Familie & Kind
[lifepr.de] · 03.02.2023 · 15:54 Uhr
[0 Kommentare]
Ankunftszentrum für Flüchtlinge (Archiv)
Berlin - Der Migrationsexperte Gerald Knaus widerspricht der Deutung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die Ampel-Maßnahmen hätten zu einer Reduzierung der Asyl-Anträge geführt. "Ich sehe keine Trendwende", sagte Knaus dem "Tagesspiegel". "2023 haben wir einen neuen Höhepunkt bei Asylanträgen in Europa erlebt, nun geht die Zahl wieder zurück, aber 20.000 Asylanträge im August sind historisch […] (00)
vor 7 Minuten
Selma Blair
(BANG) - Selma Blair schaut sich des Öfteren ‚Eiskalte Engel‘ an. Die 52-jährige Schauspielerin, die seit einigen Jahren an Multipler Sklerose erkrankt ist, machte durch ihre Darstellung in dem Film aus 1999 Schlagzeilen, als sie ihre Kollegin Sarah Michelle Gellar küsste. Bei einem kürzlichen Auftritt bei den ‚The Daily Front Row’s 11th Annual Fashion Media Awards‘ verriet Selma, dass sie ihre […] (00)
vor 3 Stunden
Deutschland ist Europameister bei der Abfrage von Nutzerdaten – und Vize weltweit
709.400 Mal forderten deutsche Behörden seit dem Jahr 2013 Nutzerinformationen von den Konzernen Microsoft, Google, Apple und Meta an. Bezogen auf die Einwohnerzahl liegt unser Land damit unangefochten auf Platz 1 in der EU – und weltweit hinter den USA auf Platz 2. Bei den Anfragen geht es nicht nur um strafrechtliche Ermittlungen. User-Daten sind auch für Behörden interessant – besonders in Deutschland 9 Millionen […] (00)
vor 1 Stunde
PS5 Pro: Offizielle PlayStation-Grafik zeigt die neue Konsole
Seit mehr als einem Jahr hält sich das Gerücht, dass irgendwann im späten 2024 eine PlayStation 5 Pro erscheinen wird. Bereits diesem Monat soll die „neue“ Konsole präsentiert werden. Vor der echte Ankündigung scheint Sony die Hardware allerdings offen gezeigt zu haben. Im offiziellen PlayStation-Blog wurden Pläne angekündigt, anlässlich zur 30-jährigen Feier von PlayStation. Neben einigen Events […] (00)
vor 3 Stunden
Luke Mockridge setzt sich ab
Eigentlich sollte Luke Mockridge am späten Donnerstagabend die neue Show Was ist in der Box moderieren, doch die Verantwortlichen haben die Sendung laut „DWDL“ kurzfristig abgesetzt. Die ProSiebenSat.1-Gruppe hat sich gegenüber Quotenmeter nicht geäußert, was daran liegen könnte, dass die Presselounge seit acht Monaten fehlerhafte Links aufweist. Mockridge sagte im Podcast „Sätze wie "Es gibt Menschen ohne Beine und ohne Arme, die wirft man ins […] (04)
vor 3 Stunden
Verleihung Deutscher Fernsehpreis 2023
Paris (dpa) - Seine Podcast-Häme über Para-Sportler kostet den Comedian Luke Mockridge eine geplante TV-Show bei Sat.1. Die spöttischen Aussagen des Komikers hatten kurz vor Abschluss der Paralympics in Paris für Wirbel gesorgt, der private Fernsehsender verzichtete daraufhin auf den für 12. September geplanten Start des neuen TV-Formats «Was ist in der Box?» mit dem schon länger umstrittenen 35- […] (02)
vor 2 Stunden
Red Lobster wird an Investorengruppe verkauft
Der in Schwierigkeiten geratene Seafood-Restaurantkette Red Lobster hat einen wichtigen Schritt zur Restrukturierung gemacht. Ein Insolvenzrichter hat den Verkauf des Unternehmens an eine Gruppe von Kreditgebern genehmigt, die das Ziel verfolgt, die angeschlagene Kette wiederzubeleben. Unter der Leitung von Fonds, die von Fortress Investment Group verwaltet werden, sowie Co-Investoren TCW Private […] (00)
vor 48 Minuten
 
Johannes Winkel (Archiv)
Berlin - Junge-Union-Chef Johannes Winkel sieht die Migrationspolitik als Hauptursache für die […] (04)
Große Bühne für «Abi '89 – Aufbruch im Umbruch»
Der Kulturkanal 3sat strahlt die Dokumentation Abi '89 – Aufbruch im Umbruch aus. Diese wird am Mittwoch, […] (00)
EnBW-Chef kritisiert neues Strommarktdesign als riskant und ineffizient
Ein dringender Appell für Effizienz und Kostenkontrolle Georg Stamatelopoulos, der […] (00)
Review: SwitchBot K10+ Pro: Smarter Mini-Saugroboter mit Power & Präzision
Zu den zeitraubendsten Aufgaben im eigenen Zuhause gehört zweifellos die Reinigung. Gerade in […] (00)
Paralympics Paris 2024 - Felix Streng
Paris (dpa) - Der Kurvenlauf hat Prothesen-Sprinter Felix Streng die Silbermedaille gekostet. […] (02)
Temptation“: Musiker empört über Angebot für GTA 6-Song
Wie viel bot Rockstar für den Song? Laut Martyn Ware bot das Unternehmen lediglich 7.500 US- […] (00)
 
 
Suchbegriff