Ghost of Yōtei im Test: Ein fulminanter Rachefeldzug quer durch Ezo
Manche Spiele sind wie ein wohliger Schmaus, der vertraute Aromen neu kombiniert. Andere gleichen einem kulinarischen Wagnis, das Dich mit völlig neuen Geschmackswelten konfrontiert. Und dann gibt es „Ghost of Yotei“ – ein Gericht, das so eiskalt und scharf serviert wird wie die Rache selbst. Es ist die Fortsetzung, die nicht das Rad neu erfindet, sondern die bereits meisterhaft geschmiedete Klinge ihres Vorgängers nimmt, sie bis zur Perfektion poliert und in ein noch blutigeres, persönlicheres Gemetzel führt. Sucker Punch verlässt sich auf die Stärken von „Ghost of Tsushima“, doch anstatt uns erneut die Mär vom ehrenhaften Samurai aufzutischen, wirft uns das Studio kopfüber in den gefrorenen Abgrund einer Seele, für die Ehre nur ein Wort ist. Schnall Deinen DualSense fest, zupfe die Saiten Deiner Shamisen und folge mir in die unbarmherzige Schönheit der Insel Ezo. Es wird ein Ritt, so furios und unvergesslich wie der erste Schnee des Winters.
Ezos malerische Albtraumkulisse
Vom ersten Moment an macht „Ghost of Yotei“ klar, dass es nicht nur ein Spiel, sondern ein Gemälde ist – eines, das mit dem Blut seiner Feinde und der Tinte melancholischer Poesie gemalt wurde. Die Insel Ezo, das heutige Hokkaido, ist eine visuelle Symphonie, deren Opulenz die bereits prachtvolle Welt von Tsushima fast schon bescheiden wirken lässt. Wo der Vorgänger mit Gräsern und Ginkgobäumen protzte, zelebriert Ezo eine raue, fast schon arrogante Biodiversität. Du galoppierst durch dichte, von gleißendem Sonnenlicht durchflutete Birkenwälder, nur um kurz darauf in knietiefem Pulverschnee zu versinken, während über Dir ein Schneesturm tobt, der so realistisch wirkt, dass Du unwillkürlich nach einer dickeren Decke greifst.

Die künstlerische Direktion ist eine tour de force. Jeder Hügel, jeder zugefrorene See und jede mit Glyzinien überwucherte Ruine scheint von Hand platziert, um Dir den Atem zu rauben. Der Kurosawa-Modus ist zurück, doch die wahre Pracht entfaltet sich in Farbe: das Purpurrot der Ahornblätter, das tiefe Azurblau eines Bergsees, das unheilvolle Orange eines brennenden Dorfes bei Nacht. Es ist diese intentional komponierte Ästhetik, die Ezo eine eigene, unverwechselbare Identität verleiht. Die Entwickler wissen genau, wann sie Dir eine Postkarten-Idylle präsentieren und wann sie die Umgebung in eine klaustrophobische, bedrohliche Kulisse für den nächsten Kampf verwandeln müssen. Der Fotomodus wird Dein bester Freund, denn das Verlangen, diese flüchtigen Momente digitaler Perfektion für die Ewigkeit festzuhalten, ist omnipräsent.
Atsu: Eine Heldin, geschmiedet aus Zorn und Stahl
Jin Sakai war ein adäquater, aber auch etwas eindimensionaler Protagonist, gefangen im Korsett seines Ehrenkodex. „Ghost of Yotei“ wirft diesen Ballast über Bord und schenkt uns Atsu – und was für eine Heldin sie ist! Sie ist kein Symbol, kein Geist, sondern ein loderndes Inferno aus Rachedurst. Frech, ungestüm und von einer inneren Wut getrieben, die in jeder ihrer Handlungen spürbar ist. Wo Jin zögerte, schlägt Atsu zu. Wo Jin über Ehre philosophierte, lässt Atsu ihre Klinge singen.

Diese Fokussierung auf einen menschlicheren, fehlbareren Charakter verleiht der Geschichte eine dringend benötigte Schärfe. Atsus Trauma – die Ermordung ihrer Familie durch die abtrünnigen Samurai der „Yotei Sechs“ – ist der Motor einer klassischen, aber effektiven Rachegeschichte. Manchmal möchtest Du sie für ihre sture Verbissenheit schütteln, doch gerade diese Unvollkommenheit macht sie so greifbar. Ihre Interaktionen mit den wenigen Begleitern, allen voran die weise Oyuki, die einen Kontrapunkt zu Atsus Blutdurst setzt, erden die Erzählung und verhindern, dass sie zu einem simplen Rachefeldzug verkommt. Die Rückblenden in ihre Kindheit, verwoben mit den Klängen der Shamisen ihrer Mutter, fügen der Geschichte eine bittersüße, emotionale Tiefe hinzu, die man so nicht erwartet hätte.
Die süße, simple Melodie der Rache
Seien wir ehrlich: Der Plot selbst gewinnt keinen Innovationspreis. Atsu jagt die „Yotei Sechs“ unter der Führung des ebenso rachsüchtigen Lord Saito, und die Struktur erinnert frappierend an andere Open-World-Titel. Die Geschichte folgt einem vorhersehbaren Pfad, und es gibt Momente, in denen die narrative Dramaturgie künstlich gestreckt wird, wenn ein Ziel mal wieder im letzten Moment durch eine Zwischensequenz entkommt. Man fühlt sich bisweilen wie der sprichwörtliche Esel, dem man immer wieder eine Karotte vor die Nase hält.
Und doch funktioniert es. Warum? Weil die Antagonisten so herrlich hassenswert sind und jeder Sieg, jeder niedergestreckte Feind eine kathartische Befriedigung verschafft. Die Geschichte mag ein simples Vehikel sein, aber sie ist ein verdammt effektives, um Dich von einem glorreichen Kampf zum nächsten zu transportieren. Es gibt ein paar brillante Wendungen, die zeigen, welches erzählerische Potenzial hier schlummert, doch das Spiel verlässt sich lieber auf das, was es am allerbesten kann: das Kampfsystem.
Klingenballett: Die Evolution des Kampfes
Hier, im blutigen Herzen des Gameplays, erreicht „Ghost of Yotei“ seine absolute Meisterschaft. Wenn Du dachtest, die Kämpfe in Tsushima wären bereits die Speerspitze des Genres, dann mach Dich auf eine Offenbarung gefasst. Die Fluidität der Bewegungen, das Gewicht jeder Waffe, der ohrenbetäubende Klang parierten Stahls – es ist ein sensorisches Meisterwerk. Anstelle von Jins Kampfhaltungen setzt Atsu auf ein ganzes Arsenal unterschiedlicher Waffen, zwischen denen Du nahtlos wechseln kannst.
Das Katana ist Dein treuer Begleiter, doch erst die anderen Werkzeuge entfesseln das volle Potenzial. Die Kusarigama, eine Sichel an einer Kette, ermöglicht es Dir, Feinde wie Scorpion aus „Mortal Kombat“ heranzuziehen oder ganze Gruppen im Wirbelwind niederzumähen. Der schwere Odachi-Zweihänder bricht selbst die stärkste Verteidigung, während die Doppel-Katanas einen wahren Tanz des Todes entfesseln. Dieses Stein-Schere-Papier-Prinzip gegen verschiedene Gegnertypen fühlt sich nie wie eine lästige Pflicht an, sondern wie ein strategisches Puzzle, das Du mit purer Eleganz löst. Hinzu kommen frühe Schusswaffen wie die Muskete – langsam, aber vernichtend – und eine Pistole für den finalen Stoß aus nächster Nähe. Blutdürstige Spieler werden den neuen „Takashi Miike“-Modus lieben, der den Gore-Faktor auf absurde Höhen treibt.
Die Duelle sind die Höhepunkte dieser Gewaltoper. Das Meistern des perfekten Parierens ist kein optionaler Luxus, sondern eine Überlebensnotwendigkeit. Wenn Du den blauen Schimmer einer unblockbaren Attacke siehst, Dein Timing perfekt sitzt und Du mit einem einzigen, fließenden Konter den Kampf beendest, erlebst Du einen jener raren Momente puren Videospiel-Glücks.
Eine Welt, die entdeckt werden will
Auch abseits der Hauptgeschichte überzeugt „Ghost of Yotei“. Sucker Punch verzichtet dankenswerterweise darauf, die Karte mit Icons zuzupflastern. Stattdessen leitet Dich der Wind zu Deinem Ziel, oder Du spielst eine bestimmte Melodie auf Deiner Shamisen, um versteckte Schreine und heiße Quellen zu finden. Dieses organische Erkunden fühlt sich ungemein befriedigend an. Die Nebenquests sind mehr als nur Füllmaterial; sie erzählen eigene kleine Geschichten – von übernatürlichen Mysterien bis hin zur Jagd auf legendäre Banditen. Besonders positiv fällt die Einbindung der Ainu auf, der indigenen Bevölkerung Hokkaidos, deren Kultur respektvoll und als natürliche Erweiterung der Spielwelt dargestellt wird.

Die Progression ist klug gelöst: Statt stumpfer Erfahrungspunkte verbesserst Du Atsus Fähigkeiten, indem Du die Welt erkundest und ihre optionalen Inhalte meisterst. Dies verleiht jedem Schrein und jedem Duell eine greifbare Bedeutung. Zwar sind einige der besten Fähigkeiten tief in den optionalen Skill-Trees vergraben, was eine gewisse Erkundungsbereitschaft voraussetzt, doch dieser Ansatz belohnt Neugier und macht das Abklappern der Karte lohnenswert.
Wenn der Controller zum Pinsel wird
Während viele Spiele das Touchpad des DualSense als verzichtbares Gimmick behandeln, macht „Ghost of Yotei“ es zum Herzstück einer überraschend sinnlichen Erfahrung. Plötzlich wird der Controller in Deiner Hand zum Pinsel, mit dem Du kalligraphische Zeichen malst. Er verwandelt sich in die Saiten von Atsus Shamisen, die Du mit präzisen Streichbewegungen zum Klingen bringst. Selbst beim Zubereiten von Reisbällchen wird das Pad genutzt, um Dir das Gefühl zu geben, die Zutaten wirklich zu formen. Diese haptische Finesse schafft eine Immersion, die weit über das übliche Maß hinausgeht. Das Geniale daran: Du kannst diese Mini-Aktivitäten zwar überspringen, aber warum solltest Du, wenn sie so herrlich befriedigend sind? Es sind diese kleinen Perlen der Controller-Innovation, die demonstrieren, wie viel ungenutztes Potenzial im DualSense schlummert.
Aber Sucker Punch belässt es nicht beim haptischen Feintuning. Im Optionsmenü verstecken sich drei Regiemodi, die nicht einfach nur Filter sind, sondern radikale Neuinterpretationen des visuellen und akustischen Erlebnisses. Der Kurosawa-Modus ist zurück, nun mit noch subtileren Graustufen-Kontrasten und einem leicht körnigen Film-Look. Für Hardcore-Fans gibt es den Takashi Miike-Modus: Hier spritzt das Blut in bizarren Fontänen, und die Kamera rückt gefährlich nah an die Schlächterei heran. Der absolute Geheimtipp aber ist der Watanabe-Modus, eine Hommage an „Samurai Champloo“. Hier legt sich ein milchiger Lo-Fi-Filter über die Welt, dazu erklingt ein Soundtrack mit entspannten Hip-Hop-Beats – als würde Nujabes höchstpersönlich die Shamisen sampeln. Diese Modi sind keine Spielerei, sondern konsequente Stilbrüche, die „Ghost of Yotei“ zu drei grundverschiedenen Erfahrungen transformieren.

Doch die wahre technische Meisterleistung offenbart sich im Alltäglichen: der Performance. Selbst in den hektischsten Schlachten mit Dutzenden Gegnern bleibt die Framerate auf der PS5 butterweich. Ladezeiten? Ein Mythos! Selbst beim schnellen Reisen über die halbe Insel dauert es kaum länger als ein Wimpernschlag. Und das Beeindruckendste: Diese flüssige Erfahrung gibt es bereits auf der Basis-PS5 – ohne die Notwendigkeit eines Pro-Modells. Hier zeigt ein Team, wie man Hardware bis an ihre Grenzen ausreizt, ohne ins Stolpern zu geraten. Eine technische Referenz, die Maßstäbe setzt.


