
Geschönte Statistik - Die Wahrheit über den Arbeitsmarkt
2012 beginnt mit einem wahren Jubelkonzert über die deutsche Konjunktur. So viele Erwerbstätige wie nie zuvor in der Bundesrepublik Deutschland zählen die Statistiker für 2011, im Dezember gab es mehr freie Arbeitsplätze denn je.
Selbst die am Dienstag veröffentlichten, eigentlich negativen Arbeitslosenzahlen werden bejubelt. Denn zwar sind im Dezember 67.000 Menschen mehr ohne Job als im Monat zuvor. Doch im Vergleich zum Vorjahr ist die Bilanz positiv.
Die Liste der geschönten Zahlen
Doch die Zählweise der Bundesagentur für Arbeit (BA) kennen wir schon. Am 30. Dezember erst kam wieder ein neuer Punkt auf der Liste «geschönte Statistiken» hinzu. Da wurde bekannt, dass Arbeitslose über 58 Jahre, die bereits ein Jahr Hartz IV bezogen haben, gar nicht in der Statistik auftauchen.
Mindestens 100.000 Menschen sind davon betroffen. Rechnet man dazu die Ein-Euro-Jobber, die Minijobber, dann alle, die sich derzeit in Weiterbildungsmaßnahmen befinden und die sogenannte Stille Reserve, also jene, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht arbeitslos melden, kommt man auf rund drei Millionen Menschen, die nicht in der Statistik auftauchen, mit der sich Bundesarbeitsministerin von der Leyen so gern schmückt.
Alles nur eine Frage, wie man Arbeitslosigkeit definiert
Für Wirtschaftswissenschaftler Oliver Holtemöller vom Hallenser Institut für Wirtschaftsforschung ist das jedoch kein reales Problem. «All diese Informationen sind frei zugänglich in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit, niemandem werden Steine in den Weg gelegt, der sich für diese Details intereressiert.» Zwar räumt er ein, dass Politiker sich gern mit den niedrigen Zahlen schmücken - doch das gehöre nun mal zum Geschäft.
Holtemöller versteht die Aufregung um «geschönte Zahlen» nicht, er sieht es pragmatisch. Letztlich sei es einfach eine Frage, wie man die Arbeitslosenquote definiere und was dort hineingerechnet werde. «Und ich würde davon abraten, die Definition laufend zu ändern», empfiehlt er.
Zwischen Vollbeschäftigung und Massenarbeitslosigkeit
Doch Zahlen sind nun mal geduldig. Der Leiter des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, sieht uns mit einer Arbeitslosenquote von derzeit gut sechs Prozent schon auf dem Weg zur Vollbeschäftigung. Baden-Württemberg sei mit seinen weniger als vier Prozent schon nahe dran am Idealziel. Derweil spricht der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge noch von Massenarbeitslosigkeit. «Vollbeschäftigung ist für mich, was wir 1970 hatten, 175.000 Arbeitslose bei 350.000 offenen Stellen», sagte er in einer Diskussionsrunde bei Phönix. Derzeit sei Vollbeschäftigung eine Fata Morgana.
Vor allem der sogenannte Sockel an Langzeitarbeitslosen bereitet ihm Sorgen. Rund zwei der knapp drei Millionen Arbeitslosen sind Hartz-IV-Empfänger, und diese Zahl schmilzt kaum. Insgesamt ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger jedoch zwei bis dreimal so hoch, da sich ein Großteil in den diversen Maßnahmen befindet. «Aber die Weiterbildungen werden weggekürzt, da will die Bundesregierung bis 2015 zehn Milliarden einsparen», moniert Butterwegge.
Für ihn ein gefährlicher Trend, da Arbeitslosigkeit und Hartz IV in der Gesellschaft zunehmend als Makel empfunden werden, wie auch die Langzeitstudie «Deutsche Zustände» beschreibt. Die Hälfte der Befragten war dabei der Ansicht, Langzeitarbeitslose wollten gar nicht arbeiten. Auch der Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes vom Dezember verheißt keinen positiven Trend, stabile 14 Prozent der Deutschen sind von Armut gefährdet. Christoph Butterwegges Bilanz ist eindeutig: Der Aufschwung sei nicht nachhaltig.
Für Oliver Holtemöller ist Langzeitarbeitslosigkeit ein Problem, das sich nicht allein über Arbeitspolitik lösen lässt. «Diesen Menschen müssen wir ganz früh helfen, auf einen besseren Pfad zu kommen. Schon im Kindergarten muss anfangen werden, die Wege zu beeinflussen.» Bildung ist hier das große Stichwort, ein komplexer gesellschaftlicher Prozess.
2011 vor allem «echte» Arbeitsplätze geschaffen
Der Hallenser Wirtschaftswissenschaftler sieht jedoch positive Entwicklungen - auch was die Qualität der Arbeit betrifft, denn 2011 wurden vor allem sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen. Er führt an, dass zwischen Januar und Oktober 2011 die Zahl der geringfügig Beschäftigten von 4,877 Millionen auf 4,85 Millionen gefallen sei - also um 27.000, während die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze von 28,12 auf 28,65 Millionen gestiegen sind - und damit um mehr als eine halbe Million.
Ein weiteres großes Thema ist die Zeitarbeit. Für weniger qualifizierte Menschen ist sie eine Chance, überhaupt in Arbeit zu kommen. Doch das Image der Leiharbeiter ist schlecht, was vor allem damit zusammenhängt, dass sie weniger verdienen als Festangestellte im selben Betrieb. Im Dezember haben sich Arbeitgeber und Gewerkschaften jetzt auf einen Mindestlohn in zehn verschiedenen Branchen der Zeitarbeit geeinigt, branchenübergreifend liegt er bei 7,89 Euro pro Stunde im Westen, im Osten bei 7,01 Euro. Den höchsten Mindestlohn hat die Baubranche ausgehandelt, bei bestimmten Beschäftigungen kann er 13,70 Euro betragen.
Holtemöller hält die Leiharbeit durchaus für ein sinnvolles Instrument, von dem sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer profitieren. Zugleich schränkt er die Bedeutung der Zeitarbeit allerdings ein, denn nur etwa drei Prozent der Beschäftigten sind derzeit in Leiharbeit tätig.
Wie wird 2012?
Über die Prognosen für 2012 wird unter Wirtschaftswissenschaftlern diskutiert. «Die positiven Tendenzen dürften sich 2012 nicht mehr fortsetzen», sagt beispielsweise Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), der Financial Times Deutschland. Zur Jahresmitte hin geht er davon aus, dass die Arbeitslosenzahlen wieder steigen werden, Fachleute der Deutschen Bank prognostizieren demnach einen Anstieg von derzeit 2,78 auf 3,03 Millionen im Jahresschnitt 2012.
Holtemöller und sein Hallenser IWH sehen die Entwicklung des Arbeitsmarktes jedoch weiter positiv. «Wir haben zwar eine relativ schwache Konjunkturprognose für 2012 gegeben, gehen aber davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt weiter positiv entwickelt.» Grund dafür sei der demografische Faktor, ein Aspekt, der ebenfalls der schönen Statistik in die Hände spielt: Die Bevölkerung altert, und damit stehen schlicht weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. Deshalb wohl konnte Ursula von der Leyen bei der Vorstellung der Arbeitslosenzahlen am Dienstag auch guten Gewissens verkünden: Die Erholung werde anhalten, falls es nicht zu einem Einbruch der Weltwirtschaft kommt.