Europas Chipindustrie 2026: Diese Schritte sind jetzt unverzichtbar
Europas Schlüsselfrage: Warum dominiert die KI-Welle fast ausschließlich die USA?
Seit KI-Modelle wie ChatGPT die Techwelt umgekrempelt haben, strömen Milliarden in Rechenzentren, Spezialchips und Software. Doch der Löwenanteil dieser Gewinne landet in den USA. Besonders NVIDIA hat die neue Nachfrage in eine Marktmacht verwandelt, die historisch ist: rund 80 Prozent des globalen Markts für KI-Hochleistungsprozessoren, ein Börsenwert über fünf Billionen Dollar – und ein Vorsprung, der in Jahren, nicht Quartalen, gemessen wird.
Europa verfügt zwar über starke Zulieferer wie ASML, Infineon, STMicroelectronics oder Merck. Doch im Kern der KI-Revolution, bei den Rechenchips selbst und den entsprechenden Ökosystemen, ist der Kontinent kaum vertreten. 2026 wird zu einem Jahr, in dem sich entscheidet, ob diese Lücke dauerhaft bleibt – oder ob Europa endlich eine konsistente Strategie formt.
Europas Stärken sind da – aber sie werden nicht orchestriert
Dass Europa mithalten kann, ist keine romantische Wunschvorstellung, sondern eine Frage der Struktur. Kai Beckmann, Chef des Elektronikgeschäfts bei Merck, beschreibt Europa als „eine Region mit technologischer Tiefe, hochentwickelter Industrie und exzellenten Forschungseinrichtungen“. Tatsächlich spielen europäische Unternehmen in der globalen Halbleiterkette eine Schlüsselrolle:
• ASML liefert als einziger Konzern weltweit die EUV-Lithografie
• Merck dominiert Spezialmaterialien für Chipfabriken
• Siemens ist führend bei industrieller Software und Automatisierung
• Europas Forschungseinrichtungen gelten als Spitze in Materialwissenschaft und Photonik
Doch Europas größte Schwäche liegt im Systemischen: Es gibt keine zusammenhängende Industrie-, KI- und Forschungspolitik. Stattdessen laufen nationale Programme nebeneinander her, Fördergelder verpuffen in Parallelstrukturen, und jeder Mitgliedstaat verfolgt seine eigene strategische Autonomie. Für eine Technologie, die globale Ökosysteme benötigt, ist diese Zersplitterung Gift.
2026 braucht Europa einen Masterplan – nicht weitere Einzelprogramme
Beckmann fordert deshalb ein Umdenken: nicht Autarkie, sondern strategische Souveränität. Konkret bedeutet das: Europa muss sich auf jene Kettenglieder konzentrieren, in denen es bereits Weltmarktführer hervorbringt – Lithografie, Spezialchemie, Fertigungsautomation – und diese ausbauen, statt Ressourcen in Felder zu streuen, in denen die USA oder Asien jahrzehntelang voraus sind.
Dazu gehört:
• Massive F&E-Investitionen in GenAI-relevante Schlüsseltechnologien
• Gemeinsame Industrieprogramme statt nationaler Patchwork-Förderung
• Koordinierte Strategie mit klaren Prioritäten und Zeitplänen
• Konzentration auf globale Nischen, die Europa kontrollieren kann
Mit anderen Worten: Europa muss nicht das nächste NVIDIA bauen, sondern die Technologieplattformen liefern, ohne die auch NVIDIA nicht existieren würde.
Cluster statt Inseln: Warum Europa seine Innovationsgeografie neu denken muss
Beckmann sieht die Zukunft in „GenAI-zentrierten Innovationsclustern“ – hochvernetzten Ökosystemen aus Unis, Zulieferern, Herstellern, Start-ups und Großkunden. Regionen wie Eindhoven, Dresden oder Grenoble beweisen bereits, dass Europa solche Systeme aufbauen kann. Doch ihre Wirkung verpufft, solange sie nicht skaliert werden.
Öffentliche Gelder sollten sich 2026 auf sogenannte Innovationsanker konzentrieren:
Chipfabriken, Forschungseinrichtungen, Testzentren, Design-Hubs – Orte, die kritische Fähigkeiten bündeln und damit ganze Ökosysteme nach sich ziehen. Die USA machen es mit ihren „Tech Hubs“ vor, Ostasien mit seinen Halbleiter-Zentren schon seit Jahrzehnten.
Bürokratieabbau: Europas unsichtbarer Wettbewerbsnachteil
Ein oft belächelter, aber zentraler Punkt ist der regulatorische Rahmen. Europas Planungs- und Genehmigungsprozesse zählen zu den langsamsten der Welt. Für eine Branche, die in Innovationszyklen von Monaten denkt, ist das ein Standortnachteil, den weder Geld noch Talent ausgleichen können.
BDI-Digitalexpertin Iris Plöger bringt es auf den Punkt: Europa könne die globalen Lieferketten maßgeblich prägen – aber nur, wenn Genehmigungen schneller, Regeln klarer und Förderstrukturen einfacher werden. Deutschland und die Niederlande bauen die modernsten Chipmaschinen der Welt, doch für eine neue Fertigung in Europa sind selbst zwei Jahre Vorlauf oft zu wenig.
Ohne Talente wird es kein KI-Europa geben
Sowohl Beckmann als auch Plöger warnen: Europa hat Talent – aber es verliert zu viele davon. Notwendig sind:
• gezielte Ausbildungsoffensiven für Deep-Tech und Halbleiter
• konkurrenzfähige Karrierepfade in Europa
• Visa-Programme, die mit den USA mithalten können
Vor allem die Schnittstelle KI-Halbleiter gilt als kritisches Berufsprofil, in dem schon heute ein globaler Wettbewerb herrscht. Wer diesen Wettlauf verliert, verliert die Industrie.
Lieferketten sichern – aber ohne Abschottung
In einer Zeit geopolitischer Spannungen liegt es nahe, auf Abschottung zu setzen. Doch Beckmann warnt vor protektionistischen Reflexen. Europa solle stattdessen seine Stärken als Verhandlungsmacht einsetzen: Technologie gegen Zugang, Know-how gegen Marktöffnung. Ein fairer Tausch statt politischer Blockbildung.
Gerade in der Lithografie, Spezialchemie und industriellen KI verfügt Europa über Fähigkeiten, die weltweit einzigartig sind – und entsprechend hohe Verhandlungsmacht erzeugen.
Was 2026 entscheiden wird
Europa steht nicht am Rand des KI-Zeitalters, sondern mitten in dessen Maschinenraum. Doch 2026 wird ein Jahr, in dem sich entscheidet, ob der Kontinent seine Rolle ausbaut oder ob die Lücke zu den USA irreversibel wird.
Drei Faktoren werden darüber entscheiden:
- Ob Europa seine Politikarchitektur vom Flickenteppich zur Strategie macht
- Ob die EU industrielle Cluster endlich im großen Stil finanziert und skaliert
- Ob Bürokratie, Genehmigungen und Talente endlich ein Level erreichen, das global konkurrenzfähig ist
Europa wird nicht die nächste NVIDIA hervorbringen. Doch Europa kann die Technologien bauen, die NVIDIAs Erfolg erst möglich machen. Wenn es gelingt, diese Stärken zu bündeln, könnte 2026 der Beginn eines strategischen Comebacks werden – und nicht das nächste Jahr der Erklärungen, warum man den Anschluss wieder nicht geschafft hat.


