Analyse: Karlsruhe verhindert «Big-Brother-Gefühl»

Karlsruhe (dpa) - Es war das bisher größte Massenklageverfahren vor dem höchsten deutschen Gericht. Fast 35 000 Menschen haben sich gegen die massenhafte Speicherung von Telefon- und Internetdaten gewehrt - und Karlsruhe hat ihren Ruf erhört.

Ein letztes Mal mit dem scheidenden Präsident Hans-Jürgen Papier an der Spitze hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag die Vorratsdatenspeicherung gestoppt und für nichtig erklärt. In seiner derzeitigen Form ist das Gesetz nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Die bei Unternehmen auf Vorrat gespeicherten Daten von Millionen Bürgern sind «unverzüglich zu löschen». Doch es ist ein Urteil nach dem Prinzip «Nein, aber...»: Karlsruhe hat die Speicherung nicht generell verboten - und damit eine Konfrontation mit der Europäischen Union vermieden.

Telekommunikationsdaten seien «für eine effektive Strafverfolgung und Gefahrenabwehr von besonderer Bedeutung», meinen auch die Verfassungsrichter. Ein Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis könne angebracht sein. Aber: «Er ist nur verhältnismäßig, wenn hinreichend anspruchsvolle und normenklare Regelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenverwendung, der Transparenz und des Rechtsschutzes getroffen sind», betonte Papier. Diesem Anspruch wird das bisherige Gesetz nach Auffassung der Richter nicht gerecht.

Grundlage für das 2008 in Kraft getretene Gesetz ist eine EU- Richtlinie. Diese stellt Karlsruhe nicht infrage - im Gegensatz zum Verfassungsgerichtshof Rumäniens im vergangenen Jahr. Das Grundgesetz verbiete eine Speicherung «nicht unter allen Umständen», lautet ihre Argumentation. Nachdem dies klar ist, zerpflückt das Urteil das deutsche Gesetz und kassiert ein weiteres Mal ein Regierungsprojekt. Bei der Speicherung handelt es sich «um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt», betonte Papier. «Der Einzelne weiß nicht, was welche staatliche Behörde über ihn weiß, weiß aber, dass die Behörden vieles, auch Höchstpersönliches über ihn wissen können», so Papier.

Das Gesetz benenne die Verwendungszwecke der Daten nicht konkret. «Damit wird der Bundesgesetzgeber seiner Verantwortung für die verfassungsrechtlich gebotene Begrenzung nicht gerecht», erläuterte Papier. Deutliche Kopfschmerzen bereiteten den Richter auch ein möglicher Missbrauch der bei den Unternehmen gesammelten Daten.

Das Richter sagten jedoch auch, wie es gehen könnte. Wichtigste Voraussetzung: Die Daten werden von den einzelnen Unternehmen gesammelt, so dass der Staat niemals selbst in Besitz eines großen Datenpools kommt - ein «Big Brother»-System soll vermieden werden. Zugleich muss der Bund auch dafür sorgen, dass Missbrauch verhindert wird - mit einem Sanktionssystem. Zudem fordert das Urteil einen strengen Maßstab, den die Firmen technisch umsetzen müssen. Der Datenschutz dürfe nicht «unkontrolliert» in ihren Händen liegen und von ihren «Wirtschaftlichkeitserwägungen» abhängen. Die Kosten für diese Datensicherheit haben laut Urteil die Unternehmen zu tragen, da sie auch vom Datenverkehr profitieren. Diese wiederum stellten umgehend Millionenforderungen an den Bund für solche Kosten.

Die «diffuse Bedrohlichkeit», die die Datenspeicherung mit sich bringt, soll der Gesetzgeber durch Transparenz auffangen. Heißt: Der Betroffene muss erfahren, dass seine Daten übermittelt wurden. Eine heimliche Verwendung soll die Ausnahme sein und muss vom Richter kontrolliert werden. Bedingung für die Weitergabe der Daten ist, dass es einen begründeten Verdacht für eine schwere Straftat gibt. Dadurch sind auf Vorrat gespeicherte Daten für Nachrichtendienste kaum noch möglich. Etwas weniger streng zeigte sich das Gericht bei der Speicherung von IP-Adressen. Zwar soll auch dort die Anonymität nicht ganz aufgehoben werden. Aber wenn es den Verdacht für eine Straftat gibt, ist nach dem Urteil der Zugriff auf die Daten leichter möglich.

«Der Gesetzgeber ist an die Leine gelegt wie selten zuvor», kommentierte der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) das Urteil. Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, der eine der drei Klägergruppen vertrat, sprach von «knallharten Auflagen». Dies empfanden auch zwei Richter des ersten Senats: Mit einem Sondervotum distanzierten sich die Richter Wilhelm Schluckebier und Michael Eichberger von der Mehrheitsentscheidung. Vor allem der als konservativ geltende Schluckebier monierte: Dem Gesetzgeber bleibe kein «nennenswerter Spielraum» für die Ausgestaltung des Gesetzes.

Insgesamt aber blieb Karlsruhe am Dienstag dem Prinzip treu, das seit dem Urteil zur Volkszählung in den 1980er-Jahren gilt: Entscheidend ist die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Mittel. Zwar überraschten die Richter ein wenig damit, dass sie das deutsche Gesetz in Gänze kippten und nicht nur einschränkten. Aber genau genommen hieß es einmal mehr: So zwar nicht - aber anders schon.

(Internet: http://dpaq.de/4ZryG) [Bundesverfassungsgericht]: Schloßbezirk 3, 76131 Karlsruhe

Urteile / Innere Sicherheit / Datenschutz / Internet
02.03.2010 · 21:14 Uhr
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