Analyse: Deutschland hofft auf Gauck

Berlin (dpa) - Noch einmal, zum letzten Mal, wollte Joachim Gauck Bürger sein an diesem Tag. Deshalb ging es nach dem Gottesdienst am Berliner Gendarmenmarkt erst einmal zum Frühstück mit Familie und Weggefährten. Danach wird für ihn nichts mehr sein wie es war.

Der Reichstag in Berlin ist da schon weiträumig abgeriegelt für dieses seltsame Ereignis, das es eigentlich nur alle fünf Jahre geben soll, nun aber schon dreimal in drei Jahren: die Bundesversammlung.

Um 14.24 Uhr steht fest: Deutschland hat einen neuen Bundespräsidenten. Gauck, der 72-jährige aus Rostock, nimmt die Wahl an, auch wenn die übergroße Mehrheit, die erwartet worden ist, wegen über 100 Enthaltungen doch ein bisschen kleiner ausfällt. Eine Rolle spielt das nicht. «Was für ein schöner Sonntag», sagt Gauck in seiner kurzen Dankesrede. Und er erinnert daran, dass an diesem 18. März vor 22 Jahren die erste und letzte freie Volkskammer der DDR gewählt wurde.

Dort komme ich her, will er sagen, jetzt bin ich angekommen. Ergriffen, mit etwas brüchiger Stimme, sagt er, er fühle «unendliche Dankbarkeit». Er werde nicht alle Erwartungen erfüllen können, aber er verspreche, sich auf neue Themen und Personen einzulassen. Das Wort Freiheit fällt mehrmals, aber Gauck hat auch begriffen, dass er mehr sagen muss in den nächsten Jahren.

Im Gegensatz zu den Wetterprognosen scheint lange eine helle Berliner Sonne durch die Glaskuppel des Reichstags und bringt den Plenarsaal zum Strahlen. Es ist so etwas wie ein Festtag der Demokratie, nach alle dem Hängen und Würgen um den Rücktritt von Gaucks Vorgänger Christian Wulff, der erst vor 20 Monaten genau hier gewählt wurde. Damals war Gauck knapp unterlegen. Heute ist sein Tag - und ein Tag der Erleichterung für die Berliner Republik.

Wenige Minuten vor Beginn der Sitzung nimmt Gauck auf der Ehrentribüne Platz - neben ihm Andreas Voßkuhle, der Präsident des Verfassungsgerichts, der Merkels Wahl gewesen wäre für das höchste Amt. auf der anderen Seite Gaucks Lebensgefährtin Daniela Schadt. Eigentlich sollte der Kandidat bei den Fraktionen sitzen, die ihn unterstützen - aber zu welcher Gruppe sollte sich Gauck gesellen, wo doch so viele für ihn sind?

Am Vorabend, im Hamburger Bahnhof in Berlin-Mitte, fand sich Gauck bei einer fröhlichen Feier mit den Grünen plötzlich vor einem Plakat: «Unser Präsident». Zumindest irritiert schien der Pastor aus Rostock, und auch die Tatsache, dass Jürgen Trittin neben ihm saß, fand er noch gewöhnungsbedürftig. «Das hätte ich nie gedacht», soll er gesagt haben. Am Sonntag findet er sich neben der Grünen Renate Künast wieder, als Parlamentspräsident Norbert Lammert das Ergebnis verkündet.

Lammert hat nun schon reichlich Erfahrung mit Präsidentenwahlen, und er lässt es sich nicht nehmen, daran zu erinnern. Diese Rücktritte seien nun wahrlich «keine Errungenschaft» für die Demokratie, eine Staatskrise sei es aber auch nicht. Der Kandidat Gauck folgt den Worten Lammerts aufmerksam, zu Beifall lässt er sich nicht hinreißen. Gauck klatscht nicht, nur einmal, fast zögernd, schlägt er die Hände zusammen.

Kanzlerin Angela Merkel gibt sich fast unbeschwert, lässt sich jedenfalls nicht anmerken, dass «ihre» Kandidaten für das höchste Staatsamt nun schon zweimal gescheitert sind. Lasst uns einen guten Eindruck machen, soll ihre Parole an die Unionsfraktion gewesen sein, ein Großteil der Enthaltungen dürfte aus diesen Reihen gekommen sein.

Fast eine Stunde wird gezählt, und für viele hier ist es die Gelegenheit für kurze Gespräche. So beraten sich Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit und Hertha-Trainer Otto Rehhagel, nach der 0:6-Niederlage des Hauptstadtvereins am Vortag gegen Bayern München kein ganz lockerer Gedankenaustausch. Verlegerin Friede Springer plaudert mit SPD-Chef Sigmar Gabriel, die Kanzlerin mit dem europäischen Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Größere Menschengruppen finden sich um Hannelore Kraft, die NRW-Ministerpräsidentin, die im Mai eine auch bundespolitisch so wichtige Wahl zu bestehen hat.

Überhaupt die Ministerpräsidenten - ehemalige, amtierende und künftige. Lothar Späth, Bernhard und Hans-Jochen Vogel, natürlich Horst Seehofer. Gescheiterte Politiker wie Stefan Mappus, hoffnungsvolle wie Norbert Röttgen oder Christian Ude. Die Republik hat einen Feiertag und hofft inständig, dass die Bundesversammlung diesmal die richtige, also eine beständige Wahl trifft.

Was genau Merkel und den Rest der Republik mit Gauck erwartet, weiß noch niemand. Die Spitzen des Präsidialamtes waren sicherheitshalber schon einmal in der Nähe, um sofort nach der Wahl die ersten Anweisungen entgegenzunehmen. Manche fürchten den «Großinquisitor», den strengen Pfarrer aus dem Osten, andere fürchten auch, dass es mit ihm durchgeht bei einer Rede. Und manche sorgen sich, dass er den Druck nicht aushält, wenn einmal etwas schief laufen sollte im Schloss Bellevue oder im Kanzleramt oder sonstwo.

Aber manche sagen auch, es wäre schon viel gewonnen, wenn Joachim Gauck dann 2017, 77-jährig, in den Ruhestand verabschiedet würde, wenn er nach einer ganzen Amtszeit ginge, ein vorzeitiger Rücktritt nie in Betracht gekommen wäre. Dann kann der Kanzler oder die Kanzlerin zufrieden sein - ob er oder sie nun Röttgen oder Kraft heißt, oder immer noch Merkel.

Gleich nach Gaucks Rede leert sich der Plenarsaal, die Delegierten strömen zum Buffet. Gauck nimmt geduldig die Glückwünsche auch der letzten Wahlmänner und Wahlfrauen entgegen. Der Mann hat Zeit.

Bundespräsident
18.03.2012 · 21:33 Uhr
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