Analyse: Merkel spricht vom «Krieg»

Masar-i-Scharif/Kundus (dpa) - Die Soldaten in Kundus sprechen schon seit geraumer Zeit von einem Krieg - ein Wort, das die Bundesregierung lange vermied. Aus dem eskalierenden Konflikt am Hindukusch wurden im offiziellen Duktus «kriegsähnliche Zustände», während aus getöteten Soldaten «Gefallene» wurden.

Nun ist die Realität endgültig in der Bundesregierung angekommen. Bei ihrem ersten Truppenbesuch in Afghanistan seit mehr als eineinhalb Jahren schildert Merkel die Lage am Samstag so unverblümt wie nie zuvor.

Vor mehreren hundert Soldaten sagt die Kanzlerin in Kundus: «Wir haben hier nicht nur kriegsähnliche Zustände, sondern Sie sind in Kämpfe verwickelt, wie man sie im Krieg hat.» Kurz darauf, bei ihrer zweiten Station im Feldlager in Masar-i-Scharif, wiederholt sie ihre Einschätzung vor Journalisten. «Wenn man sich mit der Realität unserer Soldaten befasst, ist das eben in der Region Kundus so, dass sie in wirklichen Gefechten stehen - so wie Soldaten das in einem Krieg tun. (...) Ich finde, das sollte man beim Namen nennen.»

Merkel vermeidet zu sagen, dass Deutschland sich im Krieg befinde. Die Bundeswehr ist auf Einladung der afghanischen Regierung und mit einem Mandat der Vereinten Nationen am Hindukusch - und nicht als Invasionsarmee wie einst die Wehrmacht in den Nachbarländern. Deutschland sei diesmal nicht der Angreifer, betont Merkel denn auch. Die Erfahrungen, die die Soldaten nun in Kundus machten, seien für die Bundesrepublik völlig neu. «So etwas kannten wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht. Wir haben uns das von unseren Eltern und Großeltern erzählen lassen.»

Die Soldaten wissen Merkels Besuch und ihre Offenheit zu schätzen. «Wichtig ist, dass wir hier über unsere Ängste sprechen können und auch über unsere Sorgen», sagt der 29-jährige Oberfeldwebel Alexander H. aus Niedersachsen. «Ich bin seit fast sechs Monaten hier. Ich weiß gar nicht mehr, wie meine Tochter aussieht. Die ist zweieinhalb.» Und der 23 Jahre alt Stabsgefreite Oliver O. aus Bayern meint: «Je mehr Besucher hier sind, desto mehr erfährt die deutsche Bevölkerung von diesem Einsatz. Die deutsche Öffentlichkeit interessiert sich nicht wirklich dafür, was wir hier machen. Es sei denn, es geht um schrecklichste Nachrichten.»

Schreckliche Nachrichten gibt es nur Stunden vor der Ankunft Merkels, die von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und dem Generalinspekteur der Bundeswehr, Volker Wieker, begleitet wird. Ein erst 21 Jahre alter Hauptgefreiter stirbt, nachdem sich beim Reinigen einer Waffe ein Schuss löst; eine Notoperation kann ihn nicht retten. «Das ist einfach nur traurig», sagt die ergriffene Kanzlerin. Bei der Gedenkfeier in Masar-i-Scharif fügt sie hinzu: «Es ist grausam, eine Woche vor Weihnachten die Nachricht vom Tod des geliebten Sohnes und Bruders zu bekommen.»

Neun Tote hat die Bundeswehr in Afghanistan in diesem Jahr zu beklagen - und der Hauptgefreite war der einzige, der bei einem Unfall ums Leben kam. Die anderen acht Deutschen fielen bei Anschlägen oder in schweren Gefechten mit den Taliban. Nie zuvor töteten die radikalislamischen Aufständischen in einem einzelnen Jahr so viele Bundeswehr-Soldaten. In Deutschland sind die Befürworter des Einsatzes längst eine Minderheit.

Auch die Unterstützung im Bundestag bröckelt. Der Druck wächst, die Soldaten möglichst bald abzuziehen. Die SPD fordert einen verbindlichen Zeitplan und eine Reduzierung des Kontingents vom kommenden Jahr an. Die Bundesregierung stellt Ende 2011 für einen Abzugsbeginn in Aussicht, auf einen Termin festlegen will Merkel sich aber auch am Samstag in Masar-i-Scharif nicht. Ein Abzugsbeginn «setzt voraus, dass die Lage auch so ist, dass man das verantworten kann», sagt sie. Sie ist sich darin mit Guttenberg und den Militärs in Afghanistan einig, die vor einem fixen Datum warnen.

Dass die Lage derzeit alles andere als stabil ist, erfährt Merkel nicht nur in Gesprächen mit den Soldaten. Seit die Kanzlerin im April 2009 zuletzt in Kundus und Masar-i-Scharif war, hat die Gewalt am Hindukusch weiter zugenommen. Konnte Merkel damals noch die Innenstadt von Masar-i-Scharif besichtigen, sind Ausflüge diesmal ausgeschlossen. Die Anschlaggefahr ist zu hoch.

Merkel trifft Präsident Hamid Karsai und den Kommandeur der Internationalen Schutztruppe Isaf, David Petraeus, innerhalb der sicheren Campmauern in Masar-i-Scharif. Dass die Zusammenarbeit mit der afghanischen Regierung nicht immer leicht ist, kann man aus ihren anschließenden Worten heraushören. Auf die Frage, ob Karsai versprochen habe, die Korruption zu bekämpfen, sagt Merkel: «Er hat konkret ehrlich gesagt gar nichts versprochen.»

Die Fortschritte in Afghanistan seien «noch nicht so, wie wir uns das vorstellen», sagt Merkel bereits vor dem Gespräch mit dem Präsidenten. Danach meint sie: «Ich gehe mit dem Eindruck hier weg, dass natürlich noch unendlich viel zu tun ist.» Es gebe aber auch Erfolge. So gehe die zivile Entwicklung voran, und militärische Operationen hätten Ergebnisse gebracht.

Ob die Erfolge so ausbaufähig sind, dass die Nato-geführte Isaf die Verantwortung für die Sicherheit im Land wie geplant bis 2014 an die Afghanen übergeben kann, ist völlig offen. Die Übergabe der ersten Provinzen soll bereits bis Mitte kommenden Jahres geschehen. Ende 2011 soll eine erste Bilanz des Übergabeprozesses gezogen werden, bei einer Afghanistan-Konferenz wieder in Deutschland, in Bonn. Dort, wo dann vor zehn Jahren die Entsendung einer internationalen Truppe beschlossen worden war - im Glauben an einen baldigen Sieg über die Taliban und an Frieden in Afghanistan.

Konflikte / Bundeswehr / Afghanistan
19.12.2010 · 07:56 Uhr
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