Warum uns die USA wirtschaftlich davongezogen haben – und was Europa jetzt tun muss
Sechs Jahre – mehr brauchte es nicht, um einen jahrzehntelangen Vorsprung zu verspielen. 2019 lag Deutschland bei der Produktivität noch vorn, die Wertschöpfung pro Arbeitsstunde übertraf jene der USA. Heute ist das Bild ein anderes: 83 Euro pro Stunde in den USA, nur noch 80 Euro in Deutschland. Der Rückstand wächst – und mit ihm die Sorgen um den Wirtschaftsstandort Europa.
Der Kontinent der Stagnation
Während in den USA Produktivität und Wachstum Hand in Hand gehen, scheint Europa auf der Stelle zu treten. Laut einer neuen McKinsey-Studie hat sich über die vergangenen 25 Jahre eine Produktivitätslücke von 33 Prozentpunkten zwischen den USA und den wichtigsten europäischen Volkswirtschaften aufgetan – Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien eingeschlossen.
„Deutschland hat sich zu lange auf der Stärke seiner Industrie ausgeruht“, sagt Ruth Heuss, Senior Partnerin bei McKinsey. Doch genau diese Industrie wird jetzt zum Problem: In der Fertigung, der IT, im Maschinenbau – überall steigen die US-Unternehmen schneller in der Produktivität. Lediglich im Handel und Transportwesen liegt Deutschland vorn.
Mehr Mut, mehr Bewegung
Warum? Die Studie nennt drei Hauptgründe: Investitionen, Dynamik und Mut zum Wandel.
US-Unternehmen investieren mehr in Maschinen, Software und Automatisierung – sie schaffen damit die Grundlagen für höhere Effizienz. Zudem ist der amerikanische Markt offener für „schöpferische Zerstörung“: Firmen dürfen scheitern, um Platz für neue, produktivere Akteure zu machen.
McKinsey-Forscher Jan Mischke bringt es auf den Punkt: „In den USA gilt Scheitern als Teil des Fortschritts – in Deutschland als Fehler.“ Die Folge: Weniger Wettbewerb, weniger Innovation. Als die Warenhauskette Sears bankrottging, übernahm Amazon – fünfmal produktiver – die Marktanteile. Der Effekt auf die nationale Produktivitätsstatistik? Deutlich positiv.
Starre Strukturen, teure Fehler
In Deutschland dagegen verlangsamen Regulierung und Arbeitsmarktgesetze den Wandel. Unternehmensrestrukturierungen dauern länger, Kosten sind höher, Flexibilität geringer. Laut McKinsey kostet das Deutschland rund einen Prozentpunkt Produktivitätswachstum pro Jahr – ein erheblicher Preis für bürokratische Trägheit.
Doch der größte Bremsklotz liegt im Denken: zu perfektionistisch, zu vorsichtig, zu wenig risikofreudig. „Wir überkonstruieren unsere Produkte, statt schneller am Markt zu sein“, sagt Heuss. Ein Beispiel: Elektroautos, die für minus 40 Grad entwickelt werden – obwohl sie selten nördlich des Polarkreises fahren.
Die KI-Chance
Ein Hoffnungsschimmer liegt in der künstlichen Intelligenz. Während US-Konzerne wie Google, Microsoft oder Nvidia längst KI-Modelle in ihre Abläufe integriert haben, zögern viele europäische Unternehmen. „Gerade bei generativer KI sind uns amerikanische Firmen weit voraus“, warnt Heuss. Dabei könnte der Einsatz von KI laut Schätzungen bis zu drei Prozentpunkte Produktivitätswachstum jährlich bringen – wenn Europa den Mut fasst, sie flächendeckend einzusetzen.
Der Mentalitätswandel
Trotz der düsteren Diagnose gibt es Zeichen des Umdenkens. Nach Energiekrise, Lieferkettenchaos und Rezession rückt Produktivität wieder auf die Chefetagenagenda. „Viele Vorstände haben verstanden, dass Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit wieder Priorität haben müssen“, beobachtet Heuss.
Weniger Angst, mehr Freiheit
Der Weg zurück an die Spitze führt über Reformen – und über einen kulturellen Wandel. Weniger Perfektion, mehr Pragmatismus. Weniger Angst vor Fehlern, mehr Offenheit für Neues.
Die USA haben gezeigt, dass Dynamik belohnt wird. Europa muss nun beweisen, dass es wieder wachsen will – nicht nur in Worten, sondern in Ergebnissen.


