Ukraine soll Korruptionskontrollen ausgehöhlt haben
Eine Parallelwelt aus Loyalität und Lücken
Die ukrainische Regierung soll über Jahre systematisch Mechanismen ausgehöhlt haben, die eigentlich Korruption verhindern sollten – so die Recherche der New York Times. Die Vorwürfe treffen Unternehmen, die zu den empfindlichsten Bereichen des Staates gehören: Energoatom, den Betreiber der Atomkraftwerke; Ukrenergo, den staatlichen Netzbetreiber; und die Beschaffungsagentur für Rüstungsgüter.
Dem Bericht zufolge wurden Aufsichtsräte gezielt mit loyalen Personen besetzt, Sitze unbesetzt gelassen oder Satzungen so verändert, dass externe Kontrolleure kaum noch Einfluss hatten. Kompetenzen seien beschnitten worden – mit dem Ergebnis, dass hunderte Millionen Dollar ohne wirksame Kontrolle bewegt wurden. Besonders schwer wiegt der Vorwurf, dass westliche Partner trotz interner Warnungen ihre milliardenschwere Unterstützung fortsetzten.
Energoatom im Zentrum der Vorwürfe
Brennpunkt der Recherchen ist der Atomkonzern Energoatom. Dort sollen Vertraute Selenskyjs ein Netzwerk etabliert haben, das Aufsichtsgremien schwächte und Entscheidungen abschottete. Laut Bericht geht es allein hier um potenziell 100 Millionen Dollar.
Einer der zentralen Zeugen ist der Brite Tim Stone, international als Governance-Experte anerkannt. Er sollte als unabhängiger Kontrolleur in den Aufsichtsrat einziehen – und erlebte eine seltsame Kombination aus Blockade und Schweigen. Stone berichtet, er habe eine Prüfung eines milliardenschweren Projekts anstoßen wollen, bei dem alte russische Reaktortechnik angekauft werden sollte. Die Reaktion: Widerstand, Verzögerung, Abschottung. Sein Fazit klingt wie aus einem Krimi: „Das Ganze war ein einziges Rattennest.“
Warnungen überhört – und trotzdem Milliarden überwiesen
Auch bei Ukrenergo dokumentiert der Bericht politische Eingriffe. Interne Hinweise internationaler Geldgeber, wonach die staatliche Einflussnahme „anhaltend und strukturell“ sei, sollen seit Jahren vorgelegen haben. Trotzdem flossen laut Recherche weitere Milliarden an Krediten und Zuschüssen – in der Hoffnung, dass Reformen irgendwann greifen würden.
Die Diskrepanz zwischen öffentlichem Reformwillen und internen Warnmeldungen führt im Westen inzwischen zu wachsender Nervosität. Denn die Ukraine ist auf langfristige Unterstützung angewiesen – finanziell wie militärisch. Jede Zweifel an der Governance ihrer Schlüsselunternehmen trifft das Land daher weit über Einzelfälle hinaus.
Ein gefährlicher Spagat zwischen Krieg und Reform
Das Bild, das der Bericht zeichnet, ist eines Landes, das unter dem Druck des Krieges nach informellen Loyalitätsstrukturen greift – und gleichzeitig den Kampf gegen Korruption verlangsamt, der Voraussetzung für westliche Unterstützung ist. Für die Ukraine ist dieser Spagat existenziell: Ohne funktionierende Aufsicht drohen neue Skandale, ohne Vertrauen drohen versiegende Hilfsströme.
Dass ausgerechnet Energoatom, die sicherheitspolitisch wichtigste zivile Infrastruktur des Landes, im Zentrum der Vorwürfe steht, verschärft die Debatte zusätzlich. Die Frage, ob einzelne Akteure Governance-Systeme sabotierten oder ob ein systemisches Problem vorliegt, dürfte nun sowohl in Kiew als auch bei internationalen Partnern zu politischen Konsequenzen führen.


