Tether setzt auf eine riskante Zinswette
Der drittgrößte Kryptowert der Welt trägt den Namen „Stablecoin“, doch seine Stabilität ist kein Naturgesetz. Tether, mit 185 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung das zentrale Schmiermittel des Kryptohandels, nutzt sein Reservenkonzept zunehmend für Renditewetten – und verliert damit den Abstand, der ein solches Instrument eigentlich auszeichnen müsste.
Die Bonitätswarnung legt eine stille Risikoarchitektur offen
S&P Global stufte Tethers Bonität jüngst auf die niedrigste Bewertungsstufe herab. Die Ratingagentur kritisiert nicht den Mechanismus des Stablecoins an sich, sondern die Struktur seiner Reserven. Während andere Anbieter ihre Bestände vollständig in Bargeld oder Bargeldäquivalenten halten, bestehen bei Tether nur 77 Prozent aus solchen sicheren Anlagen.
Die verbleibenden 23 Prozent verteilen sich auf Gold, Bitcoin, Unternehmensanleihen, Kredite und weitere Positionen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie volatil sind – und sich in Stressphasen anders verhalten als US-Staatsanleihen. Genau diese Diskrepanz bringt den Mechanismus eines Stablecoins unter Druck: Er muss jederzeit vollständig gedeckt sein.
Die Zinswende verändert das Geschäftsmodell
Tethers Entscheidung lässt sich nur vor dem makroökonomischen Umfeld verstehen. Sinkende US-Leitzinsen drücken die Renditen kurzlaufender Treasuries, die bisher den Hauptteil der Stablecoin-Reserven ausmachen. Für Tether verringern sich damit die Zinseinnahmen – ein relevanter Baustein des Geschäftsmodells, da der Anbieter die hinterlegten Kundengelder selbst anlegen kann.
In dieser Logik dienen Gold und Bitcoin als Kompensation: Beide Werte profitieren tendenziell von fallenden Zinsen. Doch was auf dem Papier wie eine Diversifizierung aussieht, ist in Wirklichkeit eine Wette auf Marktverläufe. Steigen die Zinsen unerwartet oder geraten Risikoanlagen unter Druck, verlieren diese Bestände schnell an Wert. Für einen Stablecoin ist das kein akzeptables Szenario.
Die Logik des Stablecoins verlangt eine 100-Prozent-Deckung – ohne Interpretationsspielraum
Das Grundprinzip eines Stablecoins ist simpel: Jeder Coin ist ein Anspruch auf einen Dollar. Die Reserven müssen also jederzeit ausreichen, um alle Halter auszuzahlen. Sobald ein Anbieter sich von diesem Prinzip entfernt, entsteht ein Liquiditätsrisiko – und bei Tether potenziell ein systemisches, da der Coin im Kryptomarkt als primärer Liquiditätspool fungiert.
Die Markthistorie liefert ein warnendes Beispiel: Der Kollaps von Terra Luna im Jahr 2022 zeigte, wie schnell ein „sicherer“ Wert kippen kann, wenn die Mechanik dahinter nicht robust ist. Bei Tether würde ein Vertrauensverlust nicht eine einzelne Plattform treffen, sondern den gesamten Handelsfluss. Stablecoins sind die Ein- und Ausgänge der Kryptomärkte – und Tether ist mit Abstand der wichtigste.
Die stille Akzeptanz der Anleger zeigt eine problematische Risikokultur
Bemerkenswert ist nicht nur Tethers Strategie, sondern die Reaktion des Marktes: Es gibt kaum Widerstand. Ein Anbieter, der theoretisch keinerlei Risikoanlagen braucht, investiert Milliarden in volatile Vermögenswerte – und die Nutzer reagieren mit Achselzucken.
Das zeigt zwei strukturelle Probleme. Erstens eine hohe Risikotoleranz vieler Kryptoinvestoren, die Stabilität weniger als Garantie denn als praktischen Komfort betrachten. Zweitens eine Marktstruktur, in der Alternativen zwar existieren, aber keinen vergleichbaren Netzwerkeffekt haben. Tether wird genutzt, weil alle Tether nutzen.
Die eigentliche Gefahr liegt im Timing einer möglichen Stressphase
Ein Stablecoin bricht nicht durch die Regulierung oder durch Ratings, sondern durch einen plötzlichen Liquiditätsbedarf. Sollte ein Ereignis eintreten, das auch nur einen Teil der Anleger zu massenhaften Rückgaben bewegt, müsste Tether seine Reserven schnell liquidieren. Der Wertverlust von Bitcoin oder Gold in einer panischen Marktphase könnte dann genau jene Lücke reißen, die das Konstrukt destabilisiert.
Dass ein Szenario wie ein gleichzeitiger Rückzug von 77 Prozent der Nutzer unwahrscheinlich ist, mag stimmen. Doch der Zweck eines Stablecoins ist nicht, Stress auszuhalten – sondern Stress auszuschließen. Genau hier untergräbt Tether sein eigenes Wertversprechen.
Ein unnötiges Risiko für ein Instrument, das eigentlich keins braucht
Tether müsste diese Zinswette nicht eingehen. Die etablierten Stablecoins zeigen, dass ein vollständig risikoarmes Reserveportfolio möglich ist – und im Zweifel mehr Vertrauen schafft als zusätzliche Rendite. Dass der Markt dies bislang toleriert, sagt viel über seine jugendliche Struktur aus: Er sucht Effizienz und Geschwindigkeit, solange sie funktionieren.
Gerade deshalb bleibt die Frage bestehen, wie lange ein System gutgeht, das Stabilität verspricht, aber Rendite sucht. Die Kosten eines Fehlschlags wären höher als die Zinsen, die Tether heute zusätzlich verdient.


