Rückwirkende Sicherungsverwahrung ist Rechtsverstoß
Straßburg (dpa) - Die rückwirkende Sicherungsverwahrung in Deutschland verletzt die Europäische Menschenrechtskonvention. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag erneut festgestellt.
Nach dem Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz» gab der Gerichtshof einem 58-jährigen Sexualstraftäter Recht - wie bereits in ähnlich gelagerten Fällen. Die Richter sprachen dem Mann über 27 000 Euro Schmerzensgeld zu. In Straßburg sind noch eine Reihe ähnlicher sogenannter «Altfälle» anhängig.
Der Vorbestrafte war 2009 aus der Sicherungsverwahrung in Bruchsal entlassen worden, sieben Jahre nach Ablauf der zur Tatzeit zulässigen Höchstdauer von zehn Jahren. Verurteilt hatte ihn das Landgericht Heilbronn 1990 wegen versuchter sexueller Nötigung zu drei Jahren Haft. Danach wurde die Sicherungsverwahrung mehrfach verlängert - Ansatz für die Kritik des EGMR: «Seine fortwährende Sicherungsverwahrung war nicht gerechtfertigt durch die Gefahr, dass er im Falle seiner Freilassung weitere schwere Straftaten begehen könnte, da diese potentiellen Straftaten nicht konkret und spezifisch genug waren», hieß es in dem EGMR-Urteil.
Die Karlsruher Gerichte sahen das ganz anders: Der Mann sei weiterhin gefährlich, also müsse er in Sicherungsverwahrung bleiben. Er habe eine Persönlichkeitsstörung und habe viele Frauen sexuell angegriffen. Erschwerend kam hinzu, dass er eine Therapie ablehnte. Seit Mai 1976 hat der Mann die meiste Zeit hinter Gitter verbracht. In Freiheit war er nur knapp acht Monate. 2004 wies das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde des Mannes ab. Nachdem das Landgericht Karlsruhe die Sicherungsverwahrung zur Bewährung ausgesetzt hat, wurde der Mann im August 2009 entlassen.
Mit dem Urteil des EGMR wächst der Druck auf die deutsche Justiz, diesen Konflikt aus der Welt zu schaffen. Das Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich zur Zeit mit dieser Frage, ist aber noch zu keinem abschließenden Urteil gekommen.
Auch die Reform der Sicherungsverwahrung in Deutschland hat das Problem der rückwirkenden Verlängerung nicht aus der Welt geschafft. Bis 1998 war die Sicherungsverwahrung in Deutschland auf zehn Jahre beschränkt. Dann wurde die Beschränkung aufgehoben. Zur Zeit gibt es noch keine klare Linie. Einige Oberlandesgerichte haben eine sofortige Freilassung der Betroffenen angeordnet, andere haben die Täter weiter in Verwahrung gelassen.