Lange unterschätzt: Der stille Einfluss alltäglicher Medikamente auf die Darmgesundheit
Ein banaler Infekt, ein kleines Schmerzmittel gegen Kopfweh, ein Mittel gegen Sodbrennen – für viele Menschen sind das alltägliche Kleinigkeiten.
Wer denkt da schon daran, dass diese harmlos wirkenden Medikamente im Körper nicht nur gegen Beschwerden helfen, sondern möglicherweise auch den
Nährboden für schwerwiegendere Erkrankungen bereiten könnten? Genau das legen neue Forschungsergebnisse der Universität Tübingen nahe: Nicht nur
Antibiotika, sondern auch gängige, rezeptfreie Medikamente können die Darmflora stören – und damit gefährlichen Krankheitserregern den Weg ebnen.

Ein schleichender Einfluss auf das Mikrobiom
Das Darmmikrobiom, also die Gesamtheit der Mikroorganismen im Verdauungstrakt, spielt eine Schlüsselrolle für unsere Gesundheit. Es hilft bei der
Verdauung, produziert Vitamine und schützt uns vor Krankheitserregern. Gerät diese komplexe Gemeinschaft aus dem Gleichgewicht, können sich krankmachende
Keime leichter ansiedeln. Bekannt ist dieser Effekt vor allem von Antibiotika, die neben schädlichen Bakterien auch die „guten“ Darmbewohner angreifen.
Doch laut den Tübinger Forscher:innen können auch viele andere Medikamente ähnliche Auswirkungen haben.
In der Studie wurden Dutzende Wirkstoffe getestet, die üblicherweise nicht mit antimikrobieller Aktivität in Verbindung gebracht werden:
Magensäureblocker, Schmerzmittel, Entzündungshemmer, Psychopharmaka. Dabei stellte sich heraus, dass viele dieser Mittel die Zusammensetzung des
Mikrobioms verändern – teils subtil, teils deutlich. Die Folge: Nützliche Bakterien werden unterdrückt, während pathogene Keime wie
Clostridioides difficile profitieren. Die Forscher:innen fanden heraus, dass unter dem Einfluss dieser Medikamente Gene aktiviert werden,
die den Krankheitserregern helfen, sich besser im Darm festzusetzen.
„Dass auch Nicht-Antibiotika diesen Effekt haben, hat uns überrascht“, sagte Studienleiter Borko Amulic. Besonders kritisch sei, dass diese Medikamente
oft langfristig oder dauerhaft eingenommen würden – im Gegensatz zu Antibiotika, die typischerweise nur für eine begrenzte Zeit verschrieben werden.
Der schleichende Einfluss auf das Mikrobiom sei daher besonders besorgniserregend, da er sich über Wochen oder Monate hinweg aufbauen könne,
ohne dass es unmittelbar auffällt.
C. difficile – ein Profiteur mit gefährlichem Potenzial
Ein besonderer Fokus der Untersuchung lag auf dem Keim Clostridioides difficile. Dieser Erreger ist gefürchtet für seine Fähigkeit,
im Darm toxische Entzündungen auszulösen – vor allem dann, wenn die schützende Mikrobiota geschwächt ist. Bisher galt der Zusammenhang mit
Antibiotikagabe als klarer Risikofaktor. Die neuen Erkenntnisse erweitern das Bild: Auch andere Medikamente können offenbar das Risiko für
eine C.-difficile-Infektion erhöhen.
„Unsere Daten zeigen, dass bestimmte gängige Medikamente die Besiedlung durch C. difficile deutlich begünstigen können“, so Amulic.
Besonders brisant ist, dass der Erreger auch in Kliniken und Pflegeeinrichtungen eine große Rolle spielt – also dort, wo Menschen ohnehin geschwächt
und besonders anfällig sind. Eine gestörte Darmflora macht es C. difficile leichter, sich auszubreiten und Krankheiten zu verursachen,
die von Durchfall bis hin zu lebensbedrohlichen Darmentzündungen reichen.
Die Tübinger Forscher:innen fanden zudem heraus, dass C. difficile unter dem Einfluss bestimmter Medikamente Gene anschaltet,
die seine Fähigkeit zur Kolonisierung steigern. Er passt sich also aktiv an veränderte Bedingungen im Darm an – ein Mechanismus, der bisher vor allem
bei antibiotikabedingten Veränderungen bekannt war. Jetzt scheint klar: Auch andere Medikamente können diesen Mechanismus in Gang setzen.
Neue Fragen für die Medikamentenforschung
Die Studien werfen nicht nur Fragen zur konkreten Wirkung einzelner Medikamente auf, sondern auch grundsätzliche zur Arzneimittelsicherheit.
Wenn selbst Mittel, die ursprünglich nicht antimikrobiell wirken sollen, das Mikrobiom beeinflussen, müssen diese Effekte künftig stärker berücksichtigt werden.
Das betrifft sowohl die Entwicklung neuer Präparate als auch die Verschreibung und Einnahme bereits zugelassener Medikamente.
Bislang ist die Wirkung vieler Arzneien auf das Mikrobiom kaum oder gar nicht untersucht worden – eine Lücke, die sich zunehmend als problematisch herausstellt.
Die Forscher:innen fordern daher eine stärkere Berücksichtigung des Mikrobioms in klinischen Studien und eine genauere Beobachtung möglicher Nebenwirkungen,
gerade bei langfristiger Einnahme. Auch Patient:innen könnten sensibilisiert werden: Nicht alles, was rezeptfrei erhältlich ist, ist automatisch unbedenklich.
Insgesamt zeichnen die Ergebnisse ein komplexes Bild. Medikamente haben oft mehr Wirkungen als nur die, für die sie ursprünglich entwickelt wurden.
Das ist keine neue Erkenntnis – doch dass selbst vermeintlich harmlose Mittel wie ein Antazidum oder ein Schmerzmittel das Gleichgewicht im Darm stören können,
dürfte viele überraschen. Und es zeigt einmal mehr: In unserem Körper ist alles miteinander verbunden – auch wenn wir es nicht immer gleich merken.

