Report: Tausende gegen elf Castoren

Gorleben (dpa) - Selbst mit Hunderten von Schafen und Ziegen blockieren die Bauern im Wendland den Castor-Transport mit Atommüll. Tausende andere Atomkraftgegner - Jung und Alt - tanzen ausgelassen auf der Straße, die direkt zum Zwischenlager Gorleben führt.

Viele trotzen der Kälte dort schon seit Sonntag: Noch nie zuvor harrten so viele Castor-Gegner aus, noch nie zeigten die Demonstranten eine solche Ausdauer. Mit ihrem Protest wollen sie Schwarz-Gelb zu einer Umkehr bei ihrem Atomkurs zwingen.

Und der Kraftakt hat sich aus ihrer Sicht gelohnt: Sie erreichen den wohl längsten Stopp eines Castor-Transports, den es je gab. Aber vor allem setzen die Atomkraftgegner jetzt darauf, dass die Debatte um die Zukunft der Atommüll-Endlagerung neu geführt wird. Sie halten den nahe gelegenen Salzstock für zu unsicher und wollen nicht, dass der Müll aus dem nur ein paar hundert Meter entfernten Zwischenlager eines Tages dort für alle Zeit vergraben wird. Selbst eine 79-jährige Frau mit Rolator macht bei der Sitzblockade in Gorleben mit.

Trotz der Castor-Strapazen verlieren die renitenten Bauern, die immer wieder der Polizei mit Traktorblockaden das Leben schwer machen, ihren Humor nicht. «Die sind schon ziemlich schwach die Treckerfahrer, da kann es mal vorkommen, dass sie nicht mehr weiterkönnen und ihr Fahrzeug auf der Kreuzung abstellen müssen», sagt Monika Tietke von der Bäuerlichen Notgemeinschaft am Montag zu den wieder plötzlich entstehenden Traktor-Blockaden bei Gorleben. Die Polizei spricht von Trecker-Sperrungen im ganzen Wendland.

Der Aufstand ist seit Tagen eine extreme Belastungsprobe für Atomkraftgegner wie Polizei. Viele Einsatzkräfte sind durch den Dauereinsatz verbraucht, wegen der Blockaden kommen viele Einheiten zum Austausch der Beamten kaum durch. Die Demonstranten packen sich in Thermofolien ein und schützen sich mit Strohsäcken vor der Kälte.

Am Sonntagabend räumte die Polizei im stockdunklen Wald bei Harlingen tausende Atomkraftgegner von den Schienen - viele waren seit 20 Stunden dabei, die Räumung dauerte sechs Stunden. Die 19- stündige Schienenblockade mit zeitweise 5000 Teilnehmern sei einer der längsten und größten in der Geschichte der Bundesrepublik, meint Jochen Stay, ein Kopf der Anti-Atom-Bewegung. Er schwärmt von einer «Sternstunde des gewaltfreien Widerstands».

Die Einsatzkräfte seien umsichtig vorgegangen, wird immer wieder betont. Ein seltenes Lob für die Polizei. Regierung und Atomkonzerne würden den Entsorgungsstreit auf dem Rücken der Beamten austragen, heißt es. Die Polizei habe schon vorher angekündigt, sie werde mit Fingerspitzengefühl vorgehen, sagt der niedersächsische Linken- Fraktionschef Manfred Sohn, der rund zwölf Stunden bei der Aktion auf den Gleisen dabei war.

Die Demonstranten im Gleis erzwingen, dass der Castor-Zug - 30 Kilometer vor der Verladestation Dannenberg - auf freier Fläche 12 Stunden geparkt werden muss. Dort wohnende Atomkraftgegner sind nicht gerade erfreut, dass sie beim Blick aus dem Fenster auf elf riesige Behälter mit hochradioaktiver Fracht schauen.

Viele Langzeit-Blockierer gestalteten wenige Kilometer entfernt im Gleis sogar die Auflösung ihres Protests als kleine Party. Immer wenn die Sicherheitskräfte bei einzelnen Menschengrüppchen ansetzen, um sie wegzutragen, greift eine Band in die Tasten. «Take me home» singen die Musiker, Lagerfeuer brennen. «Es war eine faszinierende Stimmung», heißt es immer wieder. War es 2001 die 16-jährige Marie, die sich mit anderen Robin-Wood-Aktivisten an Gleise kettete und so den Castor zu einem langen Stopp zwang, ist es diesmal die pure Masse Mensch, die den Polizei-Wunsch nach einem schnellen Ende der tagelangen Castor-Odyssee durchkreuzt.

Die Anti-Atom-Initiativen senden nach einigen Krawallen am Sonntagvormittag auch das Signal aus, der Protest müsse gewaltfrei sein. Nach der stundenlangen Räumung des Schienenabschnitts bei Harlingen geht die Nervenprobe weiter. Viele hundert Demonstranten werden in einer Sammelstelle unter freien Himmel stundenlang festgehalten. «Abschalten, Abschalten» rufen die Demonstranten, als der Castor dann am Montagmorgen um neun Uhr an ihnen vorbeirollt.

Kurz vor 09.30 Uhr erreicht der weiße Zug Dannenberg - nach knapp 68 Stunden Fahrt. Er war am Freitag um 14.20 Uhr nahe der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague gestartet. Da das Verladen der Castoren in Dannenberg den ganzen Montag über dauert, stellt dieser Atommülltransport auch bei der Fahrtzeit einen Rekord auf. Der bisher längste Transport war der 2008. Er dauerte 79 Stunden.

Während in Dannenberg Castor um Castor verladen wird, strömen immer mehr Menschen zur Blockade am Zwischenlager. Allen ist klar: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei mit der Räumung beginnt. Gegen den einsetzenden Regen spannen die Protestler Planen über ihre Köpfe. «Wir bleiben hier», sagt der 30-jährige Christoph Höltke aus Köln. Kampflos will hier keiner die elf Castoren an sich vorbei rollen lassen. Das Signal Richtung Kanzleramt soll schließlich nicht die Wirkung verfehlen. Je teurer der Castor-Transport desto heftiger die politische Debatte danach, lautet das Motto.

Atom / Transporte / Gorleben
08.11.2010 · 22:53 Uhr
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