raptor230961
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- 24 Juli 2016
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Marions Engel spielt Schicksal (Teil I)
Langsam schlurfte Emil durch die neblige kalte Morgendämmerung. Es war noch still auf den Straßen. Nur ab und zu begegnete ihm ein Auto. Der Zeitungsausträger fuhr wie jeden Morgen mit seinem Fahrrad und abschätzendem Gesicht an ihm vorbei.
“Faules Gammelpack!”, hatte er ihm einmal nachgerufen. Doch auch diese Worte taten nicht mehr weh. So vieles hatte er sich schon anhören müssen.
“Ach!” dachte er. “Jetzt aber schnell, bevor die Müllmänner kommen”. Hier war sein Lieblingsplatz. Am Tag war das eine beliebte Einkaufspassage. Ein üppiger Brunnen wurde geziert von drei kunstvoll gestalteten Figuren. Einige Bänke luden zum Verweilen und Ausruhen ein. Hier stand auch jeden Tag ab zehn Uhr ein Kiosk mit duftenden Würstchen und anderen Köstlichkeiten. Emil zog es das Wasser im Mund zusammen, wenn er daran dachte, wie er oftmals - ganz früh am morgen - im prallgefüllten Mülleimer stöberte und außer den obligatorischen trockenen Brötchen eine halbe Boulette fand. “Hmm, war das ein Fest.” Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er an vergangene Tage dachte. “Wie lecker das schmeckte.” Sogar eine halbe Essiggurke war das letzte mal noch darin eingeklemmt.
“Bouletten –“, dachte er. Seine Frau kam ihm in den Sinn. Wie lange ist das wohl schon her, als sie am Herd stand und die runden Hackfleischteilchen ins zischende Fett legte. Keiner machte die Dinger so gut wie seine Frau.Kartoffelsalat und Bouletten - Jeden Heiligen Abend gab es sie. Was ganz Alltägliches und doch etwas Besonderes für ihn und die Kinder. Der Duft von den gebratenen Fleischküchlein, der geschmückte Tannenbaum, welcher noch in der verschlossenen Stube stand und den man erst betrachten durfte, wenn nach dem Essen das Klingelzeichen des kleinen hellen Glöckchens erschall. Wie sie sich über das Essen stürzten, nur um bald in dieses heilige geheimnisvolle Zimmer zu gelangen.
All diese Erinnerungen huschten Emil durch den Sinn, als er in dem Mülleimer kramte. Oh eine halbe Wurst in einem Brötchen.
“Also, heute scheint es mir richtig gut zu gehen”, freute er sich.
Langsam wurde es heller. Der Verkehr nahm schon bedeutend zu. Hier in dem kleinen Bushäuschen, da war es etwas wettergeschützt. Da saß er oft und schaute den hektisch laufenden Menschen zu. Wie sie sich in die Busse drängten. Mitleidige, abwertende Blicke, aber auch böse und hässliche Worte musste er allmorgentlich über sich ergehen lassen. Doch seine Seele war abgestumpft. Was wussten die Leute schon von ihm. Keiner hatte eine Ahnung wie er, ein immer fleißiger Arbeiter, von einem Tag auf den anderen zuerst seinen Job und einige Jahre später dann auch seine ganze Familie verlor. Der Druck war zu groß gewesen. Egal was er versuchte, egal wie er sich aufopferte und wieviele noch so niederen Arbeiten er annahm, irgendwie schien es nie das Richtige gewesen zu sein. Er wollte für seine Familie da sein, er wollte sie versorgen, doch die Anforderungen wurden größer, das Leben teurer, die pubertierenden Kinder immer anstrengender, alles ging über seine Kräfte. Aber alles ging kaputt. Jetzt sitzt er hier. Kraftlos, auswegslos, wie ein herrenloser Hund, den keiner mag.
“Hallo”, eine helle Stimme ließ ihn aus seinen trüben Gedanken auffahren.
“Ach Marion”, ich hab dich gar nicht kommen sehen.
“Ja, du schienst ganz weit weg gewesen zu sein”, lachte das kleine hübsche Mädchen ihn an. Sie war ein echter Sonnenschein. Vor einigen Monaten hatte er sie kennen gelernt. Das hartnäckige kleine Fräulein hatte ihn ständig mit Fragen ausgequetscht. Warum er denn immer da säße, was er denn den ganzen Tag so triebe, ob er keine Familie hätte usw. usw. Alles Fragen, an die er sich sowieso nicht gerne erinnerte. Es machte ihn anfangs wütend, doch das hübsche Gesichtchen des Mädchens strahlte so eine Klarheit und Ehrlichkeit aus, dass er irgendwann mal auf die eine oder andere Frage einging. Am schönsten war es jedoch immer für ihn, wenn sich ihre kleinen Arme dann beim Abschied um seinen abgemagerten Leib schlangen und sie ihm noch einen feuchten Kuss auf die unrasierten Wangen drückte. Wie schon so oft hatte sie ihm ein Vesperbrot mitgebracht.
“Die Oma denkt jetzt auch schon immer an dich, wenn sie die Brote richtet”, sagte sie lächelnd.
Der Schulbus kam und Marion fragte ihn noch hastig:
„Es ist morgen zwar keine Schule, aber ich hoffe du bist auch wieder um diese Uhrzeit hier. Ich werde kommen, dann haben wir etwas mehr Zeit.”, meinte sie und stieg in den mit lärmenden Kindern vollgestopften Bus. Er freute sich auf morgen und auf das kleine Mädchen - sie könnte vom Alter her auch ein Enkelkind von ihm sein.
Nach der Schule ging Marion bedächtig nach Hause. Es war der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien. Auf dem Heimweg überlegte sie, mit was sie Emil eine Freude machen könnte. Wie so oft führte sie Selbstgespräche. Sie unterhielt sich nämlich mit ihrem unsichtbaren Freund. Irgendwann hatte sie ihn plötzlich wahrgenommen. Seither gab es keinen Tag, an dem sie ihm nicht Löcher in den Bauch fragte. Er war es auch, der sie auf Emil aufmerksam gemacht hatte. Oma hatte einmal gemeint
“Sie spricht mit ihrem Engel”, als die besorgten Eltern auf das seltsame Verhalten des Kindes keine Antwort mehr fanden. Mittlerweile hatte sich jeder, der das kleine Geschöpf kannte, an die Selbstgespräche gewöhnt, die sie mit sich selbst führte. Manch einer kam auch schon mal zu ihr und fragte ihren Engel um Rat, denn der wusste auf alles eine Antwort.
“Was meinst du Angelo, was könnte Emil an Weihnachten so richtig Freude machen?” Ihre Augen wurden fragend, dann nachdenklich und nach einer Weile strahlend.
“Du meinst, wir könnten das schaffen?”
“Ich muß Mama und Papa fragen, ob er bei uns Weihnachten verbringen darf, du hast recht, keiner ist gerne alleine, schon gar nicht an Weihnachten.”
Wie lieb hatte sie ihren großen Freund, der auf alles eine Antwort wusste. Nur die Umsetzung, die musste Marion immer mit viel Mühe alleine schaffen.
So war es auch damals, als sie Emil zum ersten mal begegnet war. Angelo hatte gewollt, dass sie sich mit ihm traf. Doch bis Emil bereit war, mit ihr zu reden, das war schon ein hartes Stück Arbeit und brauchte sehr viel Geduld. Seufzend dachte sie über die ersten Male nach, doch jetzt läuft alles prima. Sie weiß auch, dass Emils Engel ein guter Freund zu Angelo ist.
Doch Emil will nicht auf seine Engel hören, so haben die beiden sich Marion als Helfer ausgesucht. Nun - Emil war wirklich eine harte Nuss. Aber - wer hört überhaupt schon auf seinen Engel? Nur ganz wenige lauschen auf die Stimme ihres Herzens. Denn dort war Angelo drin, das wusste Marion ganz genau.