Autofahren kann als Suchtverhalten betrachtet werden - eine These, die von Experten und wissenschaftlichen Erkenntnissen gestützt wird und auf neurobiologischen sowie verhaltenspsychologischen Argumenten basiert.
Neurobiologische Grundlagen
Autofahren aktiviert das Dopaminsystem im Gehirn, das für Motivation und Belohnung zuständig ist. Bereits die Vorstellung zu fahren löst neurochemische Reaktionen aus, die zur Wiederholung motivieren. Das Auto ersetzt natürliche Fortbewegung durch ein mechanisches System, das ähnliche neurochemische Reaktionen wie körperliche Bewegung auslöst.
Verhaltenssucht und psychologische Abhängigkeit
Verhaltenssüchte teilen Charakteristika mit Substanzabhängigkeiten: Kontrollverlust, fortgesetzte Ausübung trotz negativer Konsequenzen und zentrale Lebensrolle. Das Auto wird zum Instrument der Emotionsregulation - es bietet Privatsphäre, Vorhersagbarkeit und Machtgefühl. Wird Fahren zur primären Bewältigungsstrategie für Angst oder Frustration, entstehen Abhängigkeitsmuster.
Hermann Knoflacher: Das Auto im Stammhirn
Verkehrsexperte Hermann Knoflacher vertritt eine radikale Position: "Das Auto sitzt viel tiefer im Stammhirn, dort, wo Energie verrechnet wird". Er argumentiert, das Auto sei "schlimmer als eine Sucht", da es tiefer im evolutionären Gehirn verankert sei. Das Auto "ergreift vom Menschen Besitz" und transformiert ihn zum Autofahrer.
Die Kopplung geringer menschlicher Körperkraft mit enormer Maschinenkraft aktiviert primitive Gehirnregionen. Im Auto verbrauchen Menschen nur ein Sechstel ihrer Körperenergie, fühlen sich aber stark und überlegen - eine künstliche Kraftverstärkung, die psychologische Abhängigkeit vom Machtgefühl schafft.
Kontrolle und Geschwindigkeitsrausch
Hinter dem Steuer fühlen sich Menschen mächtig und autonom. Für Personen, die sich anderweitig machtlos fühlen, wird das Auto zum symbolischen Zufluchtsort. Geschwindigkeit kann zum "drug of choice" werden - G-Kräfte und Adrenalinschübe erzeugen süchtig machende Rauschzustände, besonders bei jungen Männern mit Selbstwertproblemen.
Gesellschaftliche Verstärkung
Anders als andere Süchte wird Autofahren gesellschaftlich akzeptiert und gefördert durch Infrastruktur, Gesetze und wirtschaftliche Anreize. Rechtliche Zwänge wie Stellplatzverordnungen (zurückgehend auf die Reichs-Garagenordnung von 1939) schaffen zusätzliche Abhängigkeiten.
Forschungen zur "Option Value" zeigen irrationale Überbewertung: Amerikanische Autobesitzer benötigen durchschnittlich 11.200 Dollar Kompensation für Autoverzicht - selbst bei kostenlosem Ersatztransport. Das Auto fungiert als "Sicherheitsdecke", besonders in unsicheren Zeiten wie COVID-19.
Pathologische Aspekte
Bei neurologischen Erkrankungen wird die Suchtproblematik deutlich: Parkinson-Patienten unter Dopaminagonisten-Therapie entwickeln Impulskontrollstörungen mit zwanghaftem Fahrverhalten. Dies zeigt die enge Verknüpfung zwischen Dopaminsystem und Fahrverhalten.
Gesellschaftliche Konsequenzen
Die kollektive Autosucht führt zu einer "Werteumkehr": Menschen ziehen sich in lärmgeschützte Häuser zurück und meiden den autodominierte Außenraum. Haushalte investieren mehr in Autos als in Kinder - ein Indikator verschobener Prioritäten. Die Zerstörung menschengerechter Lebensräume führt zu sozialer Isolation und Bewegungsmangel.
Fazit
Die Betrachtung des Autofahrens als Sucht ist wissenschaftlich fundiert: Das Auto aktiviert primitive Belohnungssysteme, schafft psychologische Abhängigkeiten von Kontrolle und Macht, und wird durch gesellschaftliche Strukturen gefördert. Die Parallelen zu Abhängigkeitserkrankungen sind unübersehbar.
Knoflacher's These mag radikal erscheinen, weist aber auf ein reales Problem hin: die tiefe neurobiologische und kulturelle Verankerung der Automobildependenz. Die Lösung liegt nicht im kompletten Verzicht, sondern in der Erkenntnis der Problematik und der bewussten Entwicklung eines gesünderen Verhältnisses zur Mobilität.