Fabeln, Legenden, Märchen ...

Woher der Frost kommt
(Fabel aus Australien)
Die Meamei oder Plejaden lebten einst auf der Erde. Es waren sieben Schwestern und wegen ihrer Schönheit berühmt. Sie hatten langes Haar, das bis zu den Hüften herabfiel, und ihre Körper waren mit Eiszäpfchen besät. Ihre Eltern lebten irgendwo weit in den Bergen und blieben dort, sie wanderten nicht umher, wie es die Töchter zu tun pflegten. Wenn die Schwestern auf die Jagd gingen, schlossen sie sich anderen Stämmen nicht an, obschon viele von Zeit zu Zeit versuchten, ihre Freundschaft zu erwerben. Besonders eine Schar junger Leute war von ihrer Schönheit so hingerissen, daß sie es gern gesehen hätte, wenn die Mädchen bei ihnen geblieben und ihre Frauen geworden wären. Die jungen Leute hießen die Berai-Berai und folgten den Meamei überall hin. Sie paßten auf, wo sie lagerten, und ließen alsdann stets Geschenke für sie da. Die Berai-Berai waren sehr geschickt im Auffinden von Bienennestern. Sie fingen sich zuerst eine Biene und befestigten dann irgend etwas Weißes, etwa eine weiße Feder, mit Gummi zwischen den hinteren Beinchen. Dann ließen sie die Biene fliegen und folgten ihr zum Nest. Den gefundenen Honig taten sie in Körbe und setzten sie im Lager der Meamei hin, die wohl den Honig aßen, aber vom Heiraten nichts wissen wollten. Doch eines Tages stahl sich der alte Wurunnah zwei von den Mädchen und fing sie mit Hinterlist ein. Er versuchte die Eiszäpfchen von ihnen loszuwärmen, doch löschte er dabei nur das Feuer aus. Nachdem sie eine Zeitlang in unfreiwilliger Gefangenschaft gewesen waren, wurden die beiden Mädchen in den Himmel hinaufgehoben. Hier fanden sie ihre fünf Schwestern wieder und blieben seitdem immer bei ihnen. Doch funkelten sie nicht mehr so prächtig wie die andern fünf; Wurunnahs Feuer hatte ihren Glanz vermindert. Als die Berai-Berai herausbekamen, daß die Meamei für immer von der Erde verschwunden waren, waren sie untröstlich. Man bot ihnen Mädchen aus ihrem eigenen Stamm an; sie wollten jedoch nur die Meamei, und sonst niemand haben. Und wie sie allen Trost zurückwiesen, wollten sie auch nichts essen und trinken; sie siechten dahin und starben. Das tat den Geistern leid, die sich doch über ihre Beharrlichkeit und Treue gefreut hatten, und so wiesen sie ihnen einen Platz im Himmel an, den sie noch heute innehaben. Wir nennen sie den Gürtel und das Schwert des Orion, den Dens sind die Sterne jedoch als die Berai- Berai bekannt. Die Dens behaupten, daß die Berai-Berai auch jetzt noch am Tage auf die Bienenjagd gehen und nachts ihre Tänze abhalten, wozu die Meamei singen. Obgleich die Meamei ihr Lager in einiger Entfernung von den Berai-Berai haben, sind sie doch nicht so weit davon entfernt, daß ihr Gesang dort nicht vernommen werden könnte. Die Dens behaupten auch, daß die Meamei als ein Vorbild für die Frauen auf der Erde leuchten. Zur Erinnerung an ihr irdisches Dasein brechen die Meamei einmal im Jahre einige Eiszäpfchen von sich ab und werfen sie hinunter. Wenn die Dens dann am Morgen erwachen und überall Eis erblicken, sagen sie: »Die Meamei haben uns nicht vergessen. Sie haben uns Eis herabgeworfen. Nun wollen wir ihnen zeigen, daß wir sie auch nicht vergessen haben.« Dann nehmen sie ein Stückchen Eis und halten es an die Nasenscheidewand der Kinder, bei denen sie noch nicht durchbohrt ist. Sobald die Nasenscheidewand infolge der Kälte unempfindlich geworden ist, wird sie durchbohrt und ein Strohhalm oder ein Knochen hindurchgezogen. »Nun,« sagen die Dens, »können die Kinder wie die Meamei singen.« Ein Verwandter der Meamei schaute gerade zur Erde hinab, als die beiden Schwestern zum Himmel emporgetragen wurden. Als er nun sah, wie der alte Kerl da unten wütend und schimpfend herumtobte und ihnen befahl, wieder herabzukommen, da machte ihm der Verdruß des Wurunnah großen Spaß, und weil er sich über die Flucht der beiden Mädchen so freute, mußte er laut loslachen. Seitdem lacht er immer; den Dens ist er als Ghindamaylännah, der lachende Stern, und uns als Venus bekannt. Wenn es im Winter donnert, sagen die Dens: »Nun baden die Meamei wieder.« Das Geräusch entsteht, wenn sie beim Bubahlarmay-Spiel hintereinander ins Wasser springen; wer dann den besten Knall erzielt, hat gewonnen; auch bei uns ist das Spiel beliebt. Sobald sie das Geräusch des Bubahlarmay-Spiels der Meamei hören, sagen die Dens auch: »Nun wird es bald regnen; die Meamei werden Wasser herunterspritzen. In drei Tagen wird er kommen.«
 
Die Entstehung der Sonne
(Fabel aus Australien)
In alten Zeiten gab es noch keine Sonne; nur Mond und Sterne leuchteten am Himmel. Damals lebten auf der Erde auch keine Menschen, sondern nur Vögel und Tiere, die viel größer waren als heute. Eines Tages gingen der Emu Dinewan und der Kranich Brälgah auf der großen Ebene am Murrumbidjee spazieren. Sie fingen an sich zu zanken und kriegten miteinander das Prügeln. Brälgah lief in ihrer Wut auf das Nest von Dinewan zu, nahm dort eins der großen Eier weg und warf es mit aller Kraft zum Himmel hinauf. Dort fiel es auf einen Haufen Feuerholz nieder und zerbrach. Der gelbe Dotter lief über das Holz hinweg und setzte es in helle Flammen, so daß die ganze Welt zu jedermanns Verwunderung hell beleuchtet wurde. Denn bis dahin war man nur an eine sanfte Dämmerung gewöhnt gewesen; nun wurde man von der großen Helligkeit fast geblendet. Im Himmel wohnte ein guter Geist; der sah, wie herrlich und wunderschön doch die Welt war, als sie durch die strahlende Helle beleuchtet wurde. Er dachte, es wäre doch schön, jeden Tag ein solches Feuer anzuzünden. Und seitdem hat er es immer getan. Jede Nacht trägt er mit seinen dienenden Geistern Feuerholz zusammen und häuft es auf. Und wenn der Haufen beinahe fertig ist, schickt er den Morgenstern aus, um den Leuten auf der Erde anzuzeigen, daß das Feuer bald angezündet werden wird. Er merkte jedoch bald, daß dies Zeichen nicht genügte, denn die Leute, welche schliefen, sahen es nicht. Und er meinte, man müßte irgendein Geräusch haben, was das Kommen der Sonne ankündigte und die Schläfer aufweckte. Aber er konnte sich nicht so recht entschließen, wem er dies schwierige Amt übertragen sollte. Eines Abends hörte er das Gelächter des Gurgurgaga, des Hahns erschallen. »Aha,« sagte er, »das will ich ja gerade haben!« Und er sagte zum Gurgurgaga, er solle fortan jeden Morgen, wenn der Morgenstern verblasse und der neue Tag heraufdämmere, so laut wie möglich lachen, damit die Schläfer noch vor Sonnenaufgang durch sein Gelächter geweckt würden. Wenn er es nicht täte, dann zünde er auch kein Feuer mehr an, und die Erde würde wieder in Dämmerung eingehüllt sein. Gurgurgaga bewahrte der Welt jedoch das Licht und willigte ein, jeden Morgen in der Dämmerung sein lautestes Lachen erschallen zu lassen. Und seither ertönt jeden Morgen sein lautes Gekakel: »Gurgurgaga, gurgurgaga, gurgurgaga!« Wenn die Geister morgens das Feuer anzünden, strahlt es noch nicht viel Hitze aus. Aber um Mittag, wenn der ganze Haufen in heller Glut steht, ist es am heißesten. Dann geht es langsam aus, bis bei Sonnenuntergang nur noch rotglühende Asche vorhanden ist, die rasch erlischt. Nur einige Stücke werden von den Geistern mit Wolken zugedeckt, um noch Feuer zu haben, damit am andern Tag der neue Holzhaufen wieder angezündet werden kann. Kinder dürfen das Lachen des Gurgurgaga nicht nachmachen. Wenn er es hört, stellt er den Morgenruf ein. Tun die Kinder es trotzdem, so wächst ihnen zur Strafe über dem Augenzahn noch ein Zahn. Denn die guten Geister wissen sehr wohl, daß dann, wenn der Gurgurgaga aufhört, mit seinem Lachen die Sonne zu verkünden, die Zeit da ist, wo es keine Schwarzen mehr gibt, und auf Erden wieder Dunkelheit herrscht.
 
Die Aufgabe des Königs
(Fabel aus den Philippinen)
Ein König hatte zwei Söhne. Als er alt wurde, da wollte er einen der beiden zu seinem Nachfolger bestellen. Er versammelte die Weisen seines Landes und rief seine beiden Söhne herbei. Er gab jedem der beiden fünf Silberstücke und sagte: "Ihr sollt für dieses Geld die Halle in unserem Schloss bis zum Abend füllen. Womit, das ist eure Sache." Die Weisen sagten: "Das ist eine gute Aufgabe." Der älteste Sohn ging davon und kam an einem Feld vorbei, wo die Arbeiter dabei waren, das Zuckerrohr zu ernten und in einer Mühle auszupressen. Das ausgequetschte Zuckerrohr lag nutzlos herum. Da dachte er sich: "Das ist eine gute Gelegenheit, mit diesem nutzlosen Zeug die Halle meines Vaters zu füllen." Mit dem Aufseher der Arbeiter wurde er einig, und sie schafften bis zum späten Nachmittag das ausgedroschene Zuckerrohr in die Halle. Als sie gefüllt war, ging er zu seinem Vater und sagte: "Ich habe Deine Aufgabe erfüllt. Auf meinen Bruder brauchst du nicht mehr zu warten. Mach mich zu deinem Nachfolger." Der Vater antwortete: "Es ist noch nicht Abend. Ich werde warten." Bald darauf kam der jüngere Sohn. Er bat darum, das ausgedroschene Zuckerrohr wieder aus der Halle zu entfernen. So geschah es. Dann stellte er mitten in die Halle eine Kerze und zündete sie an. Ihr Schein füllte die Halle bis in die letzte Ecke hinein. Der Vater sagte: "Du sollst mein Nachfolger sein. Dein Bruder hat fünf Silberstücke ausgegeben, um die Halle mit nutzlosem Zeug zu füllen. Du hast nicht einmal ein Silberstück gebraucht und hast sie mit Licht erfüllt. Du hast sie mit dem gefüllt, was die Menschen brauchen."
 
Der Traum des Bettler Matsuki-Schei
(Mongolische Fabel)
Wohlig gebettet auf einer rosaweichen Wolke war der junge Bettler Matsuki-schei seinem harten Lager entwichen und schwebte über allem Irdischen, wie ein junger Gott. Nun war er jeder Sorge enthoben; denn seine Wünsche waren fortan dem Schicksal Befehl. Er wünschte sich, der Kaiser Asiens, der Beherrscher aller Mongolen zu sein. So schaute er hinab und suchte den Palast des großen Wuschangis-khan, des glücklichsten aller Kaiser. Als er ihn endlich gefunden, gefiel es ihm, sich zu wünschen, dort unten an den Stufen des Glückes sitzen zu dürfen. Also saß der junge Bettler Matsuki-schei in seine Lumpen gehüllt auf der Treppe des Palastes und streckte nach alter Gewohnheit seine Hand aus, um zu betteln. Man achtete nicht auf ihn. Eine Schar der schönsten Freier, mit den längsten und seidigsten Zöpfen des Mongolenreiches, in goldgestickten Drachengewändern, umlagerte das Tor und wartete auf die Wahl der schönen Thronerbin Nukada. Endlich erschien sie, schön wie die Ranke eines Tempelgewächses, mit einem kleinen Seidenball, den sie dem Auserwählten zuwerfen sollte. Die stolze Nukada aber mochte keinen von diesen geschmückten Laffen und warf den Ball ins Leere. Er fiel wie durch Zauber in die Hand des Bettlers. Der Drache im Banner krümmte sich, ein Wehklagen hub an, aber der Ball war gefallen und der kaiserliche Spruch war besiegelt. Man umhängte den Bettelsmann mit prächtigen Kleidern und gab ihm die kaiserliche Tochter Nukada zur Frau... Einige Tage nach diesem Ereignis starb der Kaiser Wuschangis-khan aus Kummer über dieses Ungemach. Wirklich wurde nun der Bettler Matsuki-schei Kaiser von Asien und Beherrscher aller Mongolen. - "Wehe dem, der wunschlos ist!" sagt der Weise Lao-tse. Matsuki-schei aber besaß alles; er hatte keine Wünsche mehr und wurde todunglücklich. Draußen vor dem Tor aber stand das Wort "Glück" groß in goldenen Lettern geschrieben. Darum hieß es nun, nach außen hin - "das Gesicht wahren". Aber das wunschlose Leben im Überfluß wurde immer unerträglicher. Matsuki-schei beschloß, zu fliehen. Als er sich nun eines Nachts heimlich davonmachen wollte, um sich diesem scheinbaren Glück zu entwinden, wurde er entdeckt und es gab einen heftigen Kampf. Mit übermenschlichen Kräften riß er sich los und machte einen tollkühnen Sprung durch die Wölbung eines Fensters ins Freie. Unten im Schatten einer Mauer wurde er am Arm gepackt und gewaltig geschüttelt.
Matsuki-schei erwachte aus seinem Traum. - "Ans Betteln, du Faulenzer!" hörte er die Stimme seines Stiefvaters, des alten Bettlers, der ihn unsanft von seinem harten Maisstrohlager zog, auf dem er geschlafen hatte, wie auf Wolkenkissen. Der junge Bettler Matsuki-schei murrte nicht. Er ging leichten Schrittes zur Hütte hinaus an die Bettlerarbeit und freute sich, daß er nicht der Kaiser Asiens, der Beherrscher aller Mongolen war.
 
Der hochmütige Geier
(Fabel aus Burma)
In grauer Vorzeit war der Geier ein friedfertiger, freundlicher Vogel, der sich mit den anderen Tieren gut verstand. An einem heißen Sommertag überflog er in großen Kreisen die weite, offene Landschaft und beobachtete mi seinen scharfen Augen eine Büffelherde. Er hatte ein krankes Tier entdeckt, und als dieses in der Hitze zusammenbrach, flog er herab, setzte sich ruhig in die Nähe des sterbenden Tieres und wartete geduldig, bis es kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Erst als er ganz sicher war, dass das Tier nicht mehr lebte, stillte er seinen Hunger. Danach flog der Geier zum Fluss, um sich gründlich zu reinigen, denn er ist ein sehr sauberes Tier. Und nach dem erfrischenden Bad stolzierte er am Flussufer entlang und unterhielt sich angeregt mit einer Ente. Dabei fiel zufällig sein Blick ins klare Wasser. Entsetzt flog der Geier in die Luft, kehrte aber sofort wieder zum Fluss zurück. Er musste wissen, ob das wirklich sein Spiegelbild gewesen war, was ihm eben so grässlich aus den Wellen entgegengelacht hatte. "Oh, wie hässlich bin ich!" stöhnte er auf "Mein Gefieder ist zwar dicht und schön, aber dieser Kopf und dieser Hals! Ich bin eine Schande für alle Vögel. Nur eine einzige große Feder ziert mein Haupt und spärliche kleine Federchen bedecken meinen Hals." Der Geier schämte sich sehr und flog zu einer fernen Felshöhle, um sich dort vor den Augen der anderen Tiere zu verbergen. Er jammerte und haderte mit seinem Schicksal. "Warum muss gerade ich so hässlich sein?" klagte er. "Selbst die Enten und die Gänse haben einen hübschen Kopf. Warum bin ausgerechne ich nicht schön!" Bekümmert aß er keinen Bissen mehr und ließ sich auch von niemanden trösten. Er wäre in seiner Höhle elend verhungert, wenn die anderen Vögel nicht Mitleid mit ihm gehabt hätten. Der königliche Adler ließ alle Vögel zu sich rufen und sprach: "Wir müssen unserem Freund helfen. jeder von uns reiße sich eine schöne Feder aus und bringe sie ihm! Dann kann der Geier seinen Kopf und seinen Hals bedecken und muss sich nicht länger vor uns schämen." Alle Vögel waren mit dem Vorschlag einverstanden und flogen mit einer Feder zu ihrem unglücklichen Freund. Bald war dieser mit den glänzensten Federn überhäuft. Und nicht nur der Kopf und der Hals erstrahlten unter dem neuen Kleid, nein, er hatte auch noch genug Federn, um seinen ganzen Körper zu schmücken. Überglücklich trat der Geier wieder in das Sonnenlicht und ließ sich von seinen Freunden unter lautem Jubel zum Fluss führen. Jetzt konnte er sich an seinem Spiegelbild nicht satt genug sehen. Immer wieder drehte er und wendete er sich und starrte voller Stolz ins Wasser. Er hatte das prachtvollste Gefieder von allen Vögeln. Von nun an flog der Geier sehr häufig zum Fluss, um sich darin zu betrachten. Von Tag zu Tag wurde er hochmütiger und blickte auf die anderen Vögel herab. Spottend verfolgte er die kleine Nachtigall: "Wie abscheulich siehst du aus. An deiner Stelle würde ich mich nicht einmal des Nachts zeigen, sondern unter der Erde verbergen und die schöne Natur nicht mit meiner Hässlichkeit beleidigen. Sieh nur meine Farbenpracht!" Von morgens bis abends flog er laut geifernd umher und wollte von allen bewundert werden. Unaufhörlich gab er mit seiner Schönheit an. "Kein Wunder, dass du nicht fliegen kannst! Mit deinem dürftigen Federkleid kommst du nicht eine Buschhöhe über das Wasser hinaus!" zischte der Geier abfällig der Ente auf dem Fluss zu. "Schau mich an, wie reich ich bin!" Der Geier plusterte sich auf, schwang angeberisch seine Flügel und schwebte eingebildet davon. Eines Morgens verkündete er allen Vögel: "Ich bin der stattlichste Vogel unter euch. Darum werde ich ab heute euer König sein. jeder muss mich verehren und mir gehorchen." Jetzt riss den Vögeln die Geduld. Laut zeternd eilten sie zum Adler und beschwerten sich über den aufgeblasenen, unverschämten Geier. Da wurde der Adler zornig: "Dieser undankbare Wicht verdient nicht unser Mitleid. Stürzt euch alle auf ihn und nehmt ihm eure Federn wieder ab!" Die Vögel ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie fielen über ihn her, zupften und rissen an seinem Gefieder, dass auch manche Feder zu Boden flatterte und vernichtet wurde, die dem Geier selbst gehört hatte. Gerupft und hässlicher als zuvor stand der Geier da. Die große Feder von seinem Kopf und auch die wenigen kleinen Federn von seinem Hals waren der Abrechnung zum Opfer gefallen.
Seit dieser Zeit sind Kopf und Hals des Geiers ohne Federn, und er ist ein zanksüchtiger Vogel geworden, der niemanden in seiner Nähe duldet.
 
Chungul und Mongol
(Fabel aus Afghanistan)
Es war einmal eine große schöne grüne Wiese. Auf dieser Wiese gab es eine Ziege, die mit ihren sieben Kindern glücklich lebte. Die Namen der Kinder waren: Chungul, Mongol, das dritte hieß Angor - und so weiter. Eines Tages wollte die Mutter hinaus auf die Wiese gehen und frisches Gras für die Kinder holen. Bevor sie gegangen ist, sagte die Mutter noch zu ihren Kindern, dass sie artig zu Hause bleiben und niemandem die Tür öffnen sollten. Die Ziege ging dann schließlich, und die Kinder warteten zu Hause auf ihre Mutter. Es gab aber draußen einen schwarzen, hässlichen und gefährlichen Wolf, der immer darauf aus war, ein hilfloses Tier zu fressen. Dieser Wolf kam zufällig an dem Ziegenhaus vorbei, als die Mutter das Haus verlassen wollte, und dachte diese Gelegenheit nutzen zu können, um die Kinder, die alleine im Haus waren, zu fressen. Der böse Wolf ging also zum Haus hin und klopfte an die Eingangstür. Die Kinder fragten ihn: "Wer ist da?" Der Wolf sagte: "Ich bin's, eure Mutter - macht die Tür auf!" Chungul, der größte Junge unter den Ziegen, erkannte jedoch, dass dies nicht ihre Mutter war, da die Stimme sehr rauh klang. Chungul sagte darauf: "Wenn du behauptest, dass du meine Mutter seiest, so zeige mir doch deine Pfoten!" Der Wolf zeigte seine schwarzen Pfoten durch den Türspalt, und die Kinder riefen: "Du bist nicht unsere Mutter. Unsere Mutter hat weiße Pfoten!" Der Wolf dachte, dass dies kein Problem sei, da er zu Hause noch einen Sack Mehl hatte. Er ging also nach Hause und tauchte seine Pfoten in das Mehl ein. Seine schwarzen Pfoten wurden jetzt weiß. Im Ziegenhaus sagte Chungul zu seinen Geschwistern, sie sollten jetzt keine Angst mehr haben, da gleich bestimmt ihre Mutter mit Gras kommen werde. Mongol fragte aber: "Wenn der Wolf noch einmal kommt, was sollen wir dann machen?" Angor antwortete darauf: "Wenn der Wolf noch einmal kommt, so soll er uns seine Pfoten zeigen, damit wir erkennen, wer es wirklich ist!" Während dieses Gesprächs klopfte es wieder an der Tür. Chungul fragte: "Wer ist da?" Der schwarze Wolf antwortete: "Ich bin's, eure Mutter!" Die Kinder sagten: "Wenn du unsere Mutter bist, dann zeige uns deine Pfoten!" Der Wolf zeigte darauf seine weißen Pfoten, die er zuvor im Mehl gefärbt hatte, durch den Türspalt. Als die Kinder die weißen Pfoten sahen, fielen sie darauf herein und dachten, es sei ihre Mutter. Und als sie die Tür aufmachten, stürmte der böse, hungrige Wolf herein und verschlang drei von den Zicklein. Aber er wusste genau, dass es sieben waren, und suchte nach den übrigen, da sie sich vor lauter Angst versteckt hatten. Das vierte erwischte er im Kamin, das fünfte im Kleiderkörbchen und das sechste unter dem Tisch. So hatte er sechs gefunden und sie verschlungen, das siebte und größte jedoch nicht. Chungul hatte sich im Gehäuse der Wanduhr versteckt, und der Wolf konnte ihn nicht finden. Da aber der Bauch des Wolfes jetzt gefüllt war und er müde war, verließ es das Haus und ruhte sich unter einem Baum in der Nähe des Flusses aus. Als die Mutter der Ziegen nach Hause kam, sah sie von weitem, dass die Haustüre offen war, und war sich schon sicher, dass irgend etwas geschehen war. Sie rannte schnell zu ihrem Haus und sah, dass die Kinder nicht da waren und dass ihr ganzes Haus verwüstet war. Sie wusste sofort, dass der schwarze Wolf gekommen war und ihre armen Kinder aufgefressen hatte. Sie fing an zu weinen und rief nach ihren Kindern: "Mongol, wo bist du, Angor, wo bist du, Chungul, wo bist du, wo seid ihr Kinder?" Chungul, der sich im Gehäuse der Wanduhr versteckt hatte, rief leise: "Hier bin ich!" Die Mutter holte ihren verängstigten, schweißgebadeten Chungul aus seinem kleinen Versteck heraus. Sie fragte, was geschehen war, und Chungul erzählte ihr langsam die ganze Geschichte mit dem Wolf. Die Mutter war traurig wegen ihrer Kinder, aber auch sehr wütend auf den Wolf. Sie sagte: "Wir müssen etwas tun und den Wolf suchen, weil er meine Kinder gefressen hat." Darauf ging sie mit Chungul hinaus, und sie suchten nach dem bösen schwarzen Wolf. Schließlich fanden sie ihn unter einem Baum auf der Wiese in der Nähe des Flusses. Als die Mutter erkannte, dass der Wolf tief am Schlafen war, sagte sie zu Chungul: "Geh bitte schnell nach Hause und besorge mir eine große Schere, einen langen Faden und eine Nadel." Chungul holte Schere, Faden und Nadel und versteckte sich hinter dem Baum. Die Mutter setzte sich neben den Wolf und sah, wie tief und fest er am Schlafen war. Langsam schnitt sie mit der Schere seinen Bauch auf, und da sah sie, dass ihre Kinder noch am Leben waren. Nacheinander sprangen sie zu ihrer Mutter und weinten. Sie nahm ihre Kinder alle in die Arme und tröstete sie: "Bitte weint nicht. Ich bin ja bei euch, alles wird wieder gut." Sie zählte ihre Kinder, und alle sieben waren da. Da sagte sie zu ihnen: "Holt so schnell wie ihr könnt viele Steine!" Als sie die geholt hatten, legte die Mutter die Steine einen nach dem anderen in den Bauch des Wolfes hinein. Anschließend nähte sie mit Nadel und Faden den Bauch zu und sagte zu ihren Kindern: "Jetzt haben wir dem Wolf seine Strafe gegeben. Lasst uns abwarten, was geschieht!" Dann versteckten sie sich alle hinter dem Baum und beobachteten den Wolf. Nach einiger Zeit wachte der Wolf aus seinem tiefen Schlaf auf und hatte Durst. Nur langsam konnte er zum Fluss gehen, da sein Bauch so schwer war. Als er am Flussufer stand und sich vornüber bücken wollte, um zu trinken, fiel er ins Wasser hinein. Und weil sein Bauch voller Steine war, konnte er nicht schwimmen und ist ertrunken. Die Ziegenmutter sagte: "Dies war die Strafe Gottes!" Und sie gingen gemeinsam nach Hause.
 
Als der alte Mann sein Pferd verlor
(Fabel aus China)
Vor sehr langer Zeit lebte einmal ein alter Mann ganz in der Nähe der Großen Mauer. Er war ein einfacher Bauer und besaß ein Pferd. Dieses Pferd war sehr wertvoll für ihn. Nun lief sein Pferd eines Tages davon. Das Pferd war in das Land der Barbaren gelaufen und es gelang dem alten Mann nicht es wieder einzufangen. Alle seine Nachbarn kamen und bedauerten ihn. Immer wieder riefen sie: "Was für ein Unglück! Wie schrecklich!" Alle waren schrecklich aufgeregt und betrübt. Doch dann geschah etwas unerwartetes. Der alte Mann wiegte den Kopf hin und her und sagte zur Überraschung aller Nachbarn: "So wie ich die Sache sehe, lässt sich doch jetzt noch gar nicht sagen, ob es ein Unglück oder nicht ist. Wer weiß, vielleicht ist es gar nicht so schlecht!" Etliche Monate später kam das Pferd plötzlich zu dem alten Mann zurück. Doch es war nicht allein - nein! Es brachte noch eine ganze Herde von Wildpferden mit sich. Diese Pferde waren sehr wertvoll, da sie als sehr schnell und wendig galten. Wieder kamen alle Nachbarn, doch diesmal beglückwünschten sie ihn. "Was für ein großes Glück, nun bist du reich! Wie wundervoll!" Doch auch dieses mal war der alte Mann sehr vorsichtig und meinte: "Man weiß nicht, wie es am Ende ausgehen wird. Man kann noch nicht sagen, ob es ein Glück oder ein Unglück bedeutet." Leider behielt der alte Mann Recht. Eines Tages wollte sein Sohn eines der Wildpferde einreiten. Doch das Pferd scheute und der Sohn fiel vom Pferd, dabei brach er sich das Bein. Natürlich kamen wieder alle Nachbarn und bedauerten den alten Mann und seinen Sohn. "Welch ein schreckliches Unglück! Was soll denn jetzt werden!" Doch der alte Mann sagte zu ihnen: "Macht euch keine Sorgen um uns. Im Augenblick sieht es wie ein Unglück aus, aber wer weiß wozu es gut ist, dass sich mein Sohn das Bei gebrochen hat. Ein Jahr später griffen plötzlich die Barbaren an und durchbrachen die Große Mauer. Alle jungen Männer aus der Gegend wurden in den Krieg einberufen und die meisten wurden dabei getötet. Doch der Sohn des alten Mannes wurde nicht einberufen, da sein Bein immer noch nicht wieder gut war. Er konnte bei seinem Vater bleiben und ihm helfen.
Dies ist das Ende der Geschichte und wir lernen daraus, dass wir vorsichtig sein sollten mit unseren Äußerungen, ob etwas Glück oder Unglück bedeutet. Aus einem augenscheinlichen Glücksfall kann ein Unglück entstehen, aber auf der anderen Seite kann ein vermeintliches Unglück auch ein großes Glück verbergen. Letzten Endes hat der alte Mann alles bekommen: Reichtum und seinen Sohn.
 
„Wie die Goldfische entstanden“ oder „Die treue Meng-Djiang“
(Fabel aus China)
Der Chinesenjunge Wang ist von allen Kindern umringt, und Mäxchen Pfiffig hat gerade nach der großen Mauer gefragt, die einstmals um das Chinesenland gebaut war. Davon wollen sie alle auch etwas wissen. "Ich will euch ein Märchen erzählen", sagte der kleine Wang, "das ist schon fast 1500 Jahre alt und ist heute noch in jedem Dorf bekannt. Ich liebe es sehr. Paßt auf:
Der Garten der Familie Meng schloß sich an den der Familie Djiang an, und zwischen beiden Gärten lag eine Mauer. In einem Jahr nun pflanzten die Meng nahe an der Wand einen Kürbis, und die Djiang pflanzten ebenfalls auf der anderen Seite der Wand einen Kürbis. Beide Pflanzen kletterten die Mauer hinauf, wuchsen oben so fest zusammen, daß sie nur noch eine einzige Pflanze bildeten.
Nachdem diese Kürbisstaude wunderschön geblüht hatte, setzte sie eine ganz besonders große Frucht an. Als der Kürbis goldgelb geworden war, wollte die Meng wie die Djiang ihn ernten. Doch wem sollte er gehören? Sie beschlossen sie, ihn zu teilen und schnitten ihn auf. Da lag in ihm ein kleines wunderschönes Mädchen. Beide Familien rissen die Mauer ein, zogen das Kind gemeinsam auf und liebten es sehr. Es erhielt den Namen Meng-Djiang. Zu dieser Zeit lebte in China der grausame und ungerechte Kaiser Shih-Huang. Dieser fürchtete die Hunnen, die von Norden her in sein Land einfielen, und ließ darum über die ganze Nordgrenze Chinas hin eine Mauer bauen. Doch weil er die Bauleute schlecht entlohnte und behandelte, so dauerte der Bau der Mauer sehr lange, kaum war ein Stück gebaut, so fiel ein anderes wieder ein, und nach langer Zeit war die Mauer immer noch nicht fertig. Da gab einer der Palastheiligen des Kaisers, der seinen Geiz kannte, ihm einem teuflischen Rat: "Eine solche Mauer, die sich zehntausend Meilen hinzieht, kann man nur bauen, wenn man jedem Mauerstück von einer Meile Länge einen Menschen einmauert. Dessen Geist hält dann Wache über dieses Mauerstück." Dem Kaiser waren seine Untertanen so gleichgültig wie Gras und Kraut, und so folgte er dem Rate seines Dieners. Das ganze Land aber erzitterte über diesen Frevel. Die Männer flohen vor den Häschern des Kaisers, ballten sich zusammen, verfluchten ihn, wagten aber nichts zu unternehmen. Nun gab es am Kaiserhof einen klugen Gelehrten, der sagte zu Shih-Huang: "Diese Art, wie Ihr Menschen zum Mauerbau verwendet läßt das ganze Land erbeben. Es werden Unruhen ausbrechen, ehe noch die Mauer fertig ist. Ich habe von einem Manne Wan mit Namen gehört. Wan heißt "zehntausend". Ergreift diesen einen, er wird für die Zehntausend-Meilen-Mauer genügen. Der Kaiser befahl, diesen Wan suchen zu lassen. Wan war ein berühmter Seidenweber und wurde seiner wunderbaren Kunst wegen von allen Menschen geliebt. Kaum hörte er von dem grausamen Befehl des Kaisers, so floh er, und viele Menschen halfen und verbargen ihn. Zu dieser Zeit war das schöne Meng-Djiang schon ein erwachsenes Mädchen. In einer hellen Mondnacht ging sie durch ihren Garten und erblickte den flüchtigen Wan, der sich auf einem Baum versteckt hielt. Als Wan das schöne Mädchen erblickte, fühlte er eine heiße Liebe zu ihr, sprang vom Baum herab und legte ihr eine seidene Schärpe um, auf der waren viele goldene Fische eingewebt. Meng-Djiang versprach Wan, seine Frau zu werden, und verbarg ihn in ihrem Gartenhaus. Als sie nach einiger Zeit sorglos beim fröhlichen Hochzeitsmahle saßen, kamen die Soldaten des Kaisers, rissen Wan von der weinenden Braut und schleppten ihn zur Mauer. Dort wurde er lebend in die Mauersteine eingeschlossen. Meng-Djiang war ihrem Wan in herzlicher Liebe zugetan. Nachdem sie viele Wochen in Tränen und Kummer verbracht hatte, machte sie sich auf den Weg zur großen Mauer und wanderte über Berge und Flüsse. Als sie endlich an die gewaltige Mauer kam, verzweifelte sie. Wie sollte sie die Stelle finden? Weinend lief sie Tage und Nächte die Mauer entlang, und diese hatte mit ihrem Kummer Erbarmen, sie fiel auseinander und gab ihr den toten Geliebten frei. Als der Kaiser von der Frau hörte, die so ihren Mann gesucht hatte, kam er selbst, sie zu sehen. Und wie er ihre überirdische Schönheit sah, beschloß er, sie zur Kaiserin zu machen. Meng-Djiang konnte sich nicht wehren, stellte aber drei Bedingungen: Sie wollte, daß für ihren Mann eine neunundvierzigtägige Totenfeier abgehalten werde, daß der Kaiser und alle seine Beamten an dem Begräbnis teilnähmen, und daß man für sie, die zukünftige Kaiserin, eine neunundvierzig Klafter hohe Terrasse am Flußufer baue. Dort wolle sie für ihren Mann das Totenopfer vollbringen. Nur unter diesen drei Bedingungen wollte sie den Kaiser heiraten. Und der Kaiser gewährte sie ihr alle. Als alles fertiggestellt war, stieg Meng-Djiang auf die Terrasse und verfluchte den grausamen und ungerechten Kaiser, der nur an sich, nicht aber an sein Volk denke. Der Kaiser wurde bleich vor Zorn, doch ehe er etwas erwidern oder befehlen konnte, warf Meng-Djiang ihre mit goldenen Fischen gewebte seidene Schärpe in den Fluß und sprang ihr nach. Jetzt befahl der Kaiser, den Fluß zu durchsuchen und sie in lauter kleine Stücke zu zerteilen. Aber so sehr sich die Soldaten mühten, den Befehl auszuführen, es gelang ihnen nicht: Der Leib Meng-Djiangs war nicht mehr zu finden. Sowie sie das Wasser berührt hatte, verwandelte sie sich in lauter kleine Goldfische, in denen die Seele der treuen Meng-Djiang nun für alle Zeiten weiterlebt."
 
Sonne und Mond
(Fabel aus China)
Vor langer, langer Zeit, als es auf der Erde noch keine Tiere und keine Menschen gab, wollte die Sonne den Mond heiraten. Die Sonne schickte einen Boten aus. Er sollte einen Brief zum Mond bringen. Als der Bote nach einer langen Reise zum Mond kam, gab er ihm den Brief. Der Mond öffnete ihn und las. Dann lachte er laut und rief: „Die Sonne schreibt, dass sie mich heiraten möchte. So etwas Komisches habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Als ob ich sie heiraten würde! Ich mag sie doch gar nicht!" Aber der Mond wollte die Sonne nicht kränken. Deshalb bat er den Boten: „Sag der Sonne, dass ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen werde!" Der Bote lief zur Sonne zurück. Nach einer gewissen Zeit schickte die Sonne ihn noch einmal zum Mond. „Ich warte auf eine Antwort", stand diesmal in dem Brief. „Wann werden wir endlich heiraten?" Da sann der Mond nach einer List. „Sag der Sonne, dass ich sie heiraten werde, wenn sie eine Bedingung erfüllt. Kann sie es nicht, werde ich sie nicht heiraten", gab er dem Boten mit auf den Weg. Der Bote lief zur Sonne zurück und erstattete Bericht. Aber er hatte kaum Zeit zum Ausruhen. Denn schon wieder wurde er zum Mond geschickt. „Die Sonne schickt mich!", keuchte der Bote atemlos, als er beim Mond angekommen war. „Sie möchte deine Bedingung hören." Der Mond erwiderte: „Sag der Sonne, dass ich sie nur dann heiraten werde, wenn sie mich selber holt." Als der Bote der Sonne diese Nachricht überbrachte, lachte sie und meinte: „Wenn’s weiter nichts ist! Das werde ich wohl schaffen!" Und sie machte sich auf den Weg. Aber als der Mond im Osten ankam, war die Sonne noch im Westen. Und als der Mond im Westen ankam, war die Sonne ganz weit von ihm entfernt im Osten. So sehr die Sonne sich auch anstrengte: Es gelang ihr nicht, den Mond einzuholen. Und so rennt sie bis zum heutigen Tag immer noch hinter dem Mond her.
 
Die Mondjungfrau und die Sonnenjungfrau
(Fabel aus China)
Es ist schon lange her, unendlich lange, an jene Zeiten wird sich wohl kein Mensch mehr erinnern können. Damals standen Sonne und Mond noch nicht so hoch am Himmel wie heute, sie lebten tief, ganz tief unten, knapp über der Erde. Heute weiß niemand mehr, dass der Mond und die Sonne zwei schöne Jungfrauen waren, und es war schwer zu entscheiden, welche von den beiden die lieblichere war. Es genügte, den Kopf zu heben, und die Menschen konnten mit den Himmelsjungfrauen plaudern. Und die Kinder? Die fanden immer wieder irgendwo eine Leiter und rissen von zu Hause aus, um Sonne und Mond am Himmel zu besuchen. Und der Himmel? Ja, dort war es so schön, dass man es kaum mit Worten sagen kann. Der Fußboden war mit weißen seidenen Schäfchenwolken bedeckt, als Vorhänge dienten blassblaue luftige Wölkchen, und wenn es Abend wurde, zündete die Mondjungfrau die Sterne an, damit die Menschen unten auf der Erde etwas sehen konnten. Wenn manchmal die Mondjungfrau und die Sonnenjungfrau auf die Erde nieder stiegen, schloss selbst die Königin der Blumen, die Pfingstrose, beschämt ihre Blüte. Kein Wunder! Die Himmelsjungfrauen hatten Gewänder aus weißen Wolken, auf den Köpfen trugen sie ein Diadem aus Morgenröte, und ihre Schürzen waren aus leuchtenden Regenbogen. Und dennoch wurden die Mondjungfrau und die Sonnenjungfrau nicht hochmütig; sie waren freundlich und halfen bereitwillig den Menschen. Manchmal schoben sie ihre blauen Vorhänge zur Seite und blickten aus dem Fenster, um mit den Menschen zu plaudern. Am liebsten hatten sie die Kinder. Die Knirpse ließen sie ja auch nie in Ruhe. Sooft sie nur konnten, kletterten die Kinder für ein Weilchen auf so eine duftige Wolke, um zu schaukeln. Wenn sich die Kinder dann verabschiedeten, pflückte die Mondjungfrau für sie fast immer ein paar Sterne. Doch nichts auf der Welt währt ewig. Es begab sich, dass unter den Leuten ein böser Mensch auftauchte, dessen Seele schwärzer war als die schwärzeste Nacht, und dieser Mensch kletterte einmal in den Himmel, trampelte mutwillig mit seinen schmutzigen Sandalen auf den weißen Teppichen herum, zerriss die Vorhänge, und wisst ihr, was dieser Verwegene noch tat? Er stahl der Mondjungfrau ihre Feiertagsschürze, jene, die aus Regenbogen gemacht war. Also, fragt lieber nicht, wie sich die beiden Jungfrauen da ärgerten! Noch am gleichen Abend zogen sie fort und übersiedelten hoch in den Himmel hinauf. Am nächsten Tag erwachten die Kinder, blickten zum Himmel empor, doch wo waren denn die Himmelsmuhmen? Und so riefen und weinten sie. Der Mondjungfrau taten ihre Lieblinge leid, und sie stieg herunter, um mit ihnen zu spielen. Doch plötzlich tauchte abermals jener böse Mensch auf, er packte die Mondjungfrau und wollte sie um keinen Preis wieder loslassen. Als die Sonnenjungfrau dies sah, zog sie eine Nadel aus ihrem Haar und setzte mit ihr dem Spitzbuben tüchtig zu, ja sie stach ihn sogar in die Augen, so dass er die Mondjungfrau sofort los ließ. Seit jener Zeit trägt die Sonnenjungfrau stets die Nadel bei sich, und wehe dem, der es wagt, ihr ins Gesicht zu sehen: Gleich beginnt sie, ihn unerbittlich zu stechen. Nicht so die Mondjungfrau. Die kann bis zum heutigen Tag die Welt unten nicht vergessen, vor allem nicht ihre Lieblinge, die Kinder. Und wenn es Abend wird, steigt sie still auf den Himmel, schaut durch die Fenster in die Behausungen der Menschen, und wenn die Kinder schlafen, streicht sie ihnen mit ihren kühlen Strahlen über das Haar.
 
Drei dumme Leute
(Fabel aus China)
In alter Zeit gab es einen Kreisvorsteher, der sich für sehr klug hielt. Eines Tages sagte er zu seinen Boten: „Ich gebe euch drei Tage Zeit. Ihr sollt drei dumme Leute finden und sie zu mir bringen.“ Die Boten machten sich gleich auf die Suche, doch so sehr sie sich auch bemühten, am ersten Tag fanden sie keinen. Am zweiten Tag sahen sie einen Menschen, der auf einem Pferd ritt und gleichzeitig ein riesiges Bündel in der Hand trug. Sie gingen zu ihm und fragten ihn: „Du reitest doch ein Pferd. Wieso trägst du selbst das Gepäck?“ Der Reiter erwiderte: „Es ist für das Pferd schon anstrengend genug, dass es mich tragen muss. Wenn ich auch noch das Gepäck auf das Pferd packe, ist es für das Pferd doch noch schwerer, nicht wahr?“ Als die Boten dies vernommen hatten, freuten sie sich sehr: sie hatten den ersten dummen Menschen gefunden. Sie nahmen ihn mit. Am dritten Tag kamen sie an einem Stadttor vorbei und sahen dort einen Menschen, der mit einem Bambus in die Stadt hineingehen wollte. Das Stadttor war klein, der Bambus aber war sehr lang. Er nahm den Bambus zuerst vertikal, kam aber nicht durch das Tor. Dann nahm er ihn horizontal, konnte es aber auch nicht schaffen. Er war äußerst besorgt. Schließlich brach er den Bambus in zwei Teile, so dass er ihn durch das Tor tragen konnte. Als die Boten dies sahen, war auch der zweite dumme Mensch gefunden. Sie nahmen auch ihn mit. Am vierten Tag brachten die Boten die zwei Leute, die sie gefunden hatten, zu dem Kreisvorsteher. Sie erzählten dem Vorsteher, was die Männer getan hatten. Als der Vorsteher dies hörte, sagte er lachend zu dem zweiten Mann: „Du bist wirklich sehr dumm! Wieso wirfst du den Bambus nicht über die Mauer hinüber?“ Als die Boten dies vernahmen, sagten sie sofort: „Wir haben auch den dritten gefunden.“
 
Wer ist der Sünder?
(Fabel aus China)
Es waren einmal zehn Bauern, die gingen miteinander über Feld. Sie wurden von einem schweren Gewitter überrascht und flüchteten sich in einen halb zerfallenen Tempel. Der Donner aber kam immer näher, und es war ein Getöse, daß die Luft ringsum erzitterte. Kreisend fuhr ein Blitz fortwährend um den Tempel her. Die Bauern fürchteten sich sehr und dachten, es müsse wohl ein Sünder unter ihnen sein, den der Donner schlagen wolle. Um herauszubringen, wer es sei, machten sie aus ihre Strohhüte vor die Tür zu hängen; wessen Hut weggeweht werde, der solle sich dem Schicksal stellen. Kaum waren die Hüte draußen, so ward auch einer weggeweht, und mitleidlos stießen die andern den Unglücklichen vor die Tür. Als er aber den Tempel verlassen hatte, da hörte der Blitz zu kreisen auf und schlug krachend ein.
Der eine, den sie verstoßen hatten, war der einzige Gerechte gewesen, um dessentwillen der Blitz das Haus verschonte. So mußten die neun ihre Hartherzigkeit mit dem Leben bezahlen.
 
Das Zauberfaß
(Fabel aus China)
Es war einmal ein Mann, der grub auf seinem Acker ein großes, irdenes Faß aus. Er nahm es mit nach Hause und sagte zu seiner Frau, sie solle es rein machen. Wie nun die Frau mit der Bürste in das Faß fuhr, da war auf einmal das ganze Faß voll Bürsten. Soviel man auch herausnahm, es kamen immer neue nach. Der Mann verkaufte nun die Bürsten, und die Familie hatte ganz gut zu leben. Einmal fiel aus Versehen ein Geldstück in das Faß. Sofort verschwanden die Bürsten, und das Faß füllte sich mit Geld. Nun wurde die Familie reich; denn sie konnten Geld aus dem Faß holen, soviel sie wollten. Der Mann hatte einen alten Großvater im Haus, der war schwach und zittrig. Da er sonst nichts mehr tun konnte, stellte er ihn an, Geldstücke aus dem Faß zu schaufeln, und wenn der alte Großvater müde war und nicht mehr konnte, ward er böse und schrie ihn zornig an, er sei nur faul und wolle nicht. Eines Tages aber verließen den Alten die Kräfte. Er fiel in das Faß und starb. Schon war das Geld verschwunden, und das ganze Faß füllte sich mit toten Großvätern. Die mußte der Mann nun alle herausziehen und begraben lassen, und dafür brauchte er das ganze Geld, das er bekommen hatte, wieder auf. Und als er fertig war, zerbrach das Faß, und er war wieder arm wie zuvor.
 
Das große Wasser
(Fabel aus China)
Es war einmal eine Witwe, die hatte ein Kind. Das Kind hatte ein gutes Herz, und alle Leute hatten es lieb. Eines Tages sagte das Kind zu seiner Mutter: »Alle andern Kinder haben eine Großmutter, ich allein habe keine. Das macht mich sehr traurig.« »Wir wollen dir eine Großmutter suchen«, sagte die Mutter. Nun kam einmal eine alte Bettlerin vors Haus, die war sehr arm und schwach. Als das Kind sie sah, sprach es zu ihr: »Du sollst meine Großmutter sein!« Und es ging zu seiner Mutter und sagte: »Draußen ist eine Bettlerin, die will ich als Großmutter haben.« Die Mutter wars zufrieden und rief sie ins Haus. Die Alte aber war sehr schmutzig und voll von Ungeziefer. Da sagte der Junge zu seiner Mutter: »Komm, wir wollen die Großmutter waschen!« So wuschen sie die Frau. Die aber hatte sehr viele Läuse. Die suchten sie alle und taten sie in einen Topf. Der ganze Topf ward voll davon. Da sprach die Großmutter: »Werft sie nicht weg; vergrabt sie im Garten! Und ihr sollt sie erst wieder ausgraben, wenn das große Wasser kommt.« »Wann kommt denn das große Wasser?« fragte der Knabe. »Wenn den zwei steinernen Löwen vor dem Gefängnis die Augen rot werden, dann kommt das große Wasser«, sagte die Großmutter. Da lief der Knabe zu den Löwen, aber ihre Augen waren noch nicht rot. Die Großmutter sprach auch zu ihm: »Mach ein kleines Schiff aus Holz und verwahre es in einem Kästchen!« Das tat der Junge. Jeden Tag lief er nun zum Gefängnis und sah die Löwen an, also daß die Leute auf der Straße sich darüber verwunderten. Eines Tages, als er beim Hühnerschlächter vorbeikam, fragte ihn der, warum er immer zu den Löwen laufe. Da sagte der Junge: »Wenn den Löwen die Augen rot werden, so kommt das große Wasser.« Der Schlächter aber lachte ihn aus. Und am andern Morgen in aller Frühe nahm er Hühnerblut und strich es den Steinlöwen auf die Augen. Als der Junge sah, daß die Löwen rote Augen hatten, lief er schnell nach Hause und sagte es seiner Mutter und Großmutter. Da sprach die Großmutter: »Grabt nun rasch den Topf aus und holt das Schifflein aus dem Kasten!« Als sie den Topf ausgruben, waren lauter echte Perlen darin, und das Schiff wurde größer und größer, wie ein wirkliches Schiff. Die Großmutter sprach: »Nehmt den Topf mit euch und steigt in das Schiff! Wenn nun das große Wasser kommt, so mögt ihr die Tiere, die daher getrieben werden, retten; aber die Menschen, die Schwarzköpfe, sollt ihr nicht retten!« Da stiegen sie ins Schiff, und die Großmutter war auf einmal verschwunden. Nun begann es zu regnen, und der Regen strömte immer stärker und stärker vom Himmel herunter. Schließlich waren es nicht mehr einzelne Tropfen, sondern es war nur noch eine Wasserflut, die alles überschwemmte. Da kam ein Hund vorbeigetrieben, den retteten sie auf ihr Schiff. Bald darauf kam ein Mäusepaar mit ihren Jungen; die quiekten laut aus Angst. Die retteten sie auch. Das Wasser stieg schon bis an die Dächer der Häuser. Auf einem Dach saß eine Katze, die machte einen krummen Buckel und schrie kläglich. Sie nahmen sie auch in ihr Schiff. Aber das Wasser wurde immer größer und stieg bis an die Wipfel der Bäume. Auf einem Baume saß ein Rabe, schlug mit den Flügeln und krächzte. Auch ihn nahmen sie zu sich. Schließlich kam ein Bienenschwarm daher. Die Tierchen waren ganz naß geworden und konnten kaum mehr fliegen. Da ließen sie auch die Bienen zu sich herein. Endlich kam ein schwarzhaariger Mensch auf den Wellen vorüber. Der Knabe sprach: »Mutter, den wollen wir auch retten!« Die Mutter wollte nicht: »Die Großmutter hat uns doch gesagt, wir dürfen keine Schwarzköpfe retten.« Der Knabe sprach: »Wir wollen den Mann doch retten. Ich habe Mitleid mit ihm und kann es nicht mit ansehen, wie er im Wasser dahintreibt.« So retteten sie denn auch den Mann. Allmählich verlief das Wasser sich wieder. Sie stiegen aus ihrem Schiff und verabschiedeten sich von dem Manne und den Tieren. Da wurde das Schiff wieder klein, und sie packten es in die Schachtel. Der Mann aber war lüstern nach ihren Perlen. Er ging hin zum Richter und verklagte den Knaben und seine Mutter. So wurden sie beide ins Gefängnis geworfen. Da kamen die Mäuse und gruben ein Loch in die Mauer. Zu dem Loch kam der Hund herein und brachte ihnen Fleisch, und die Katze brachte ihnen Brot, so daß sie im Gefängnis nicht Hunger leiden mußten. Der Rabe aber flog weg und kam wieder mit einem Briefe an den Richter. Der Brief war von einem Gott geschrieben, und es hieß darin: »Ich wandelte als Bettlerin in der Menschenwelt umher. Da hat der Knabe und seine Mutter mich aufgenommen. Der Knabe hat mich behandelt wie seine Großmutter und sich nicht davor geekelt, mich von meinem Schmutz zu waschen. Darum habe ich sie gerettet aus dem großen Wasser, in dem ich die sündige Stadt, darin sie lebten, zerstörte. Du, o Richter, mußt sie freilassen, sonst werde ich Unglück über dich bringen.« Der Richter ließ sie vor sich kommen und fragte, was sie getan hätten und wie sie durch das Wasser hergekommen seien. Sie erzählten ihm nun alles, und es stimmte mit dem Briefe des Gottes überein. Da strafte er den Mann, der sie verklagt hatte, und ließ sie beide frei. Als der Knabe herangewachsen war, da kam er in eine Stadt. In der Stadt waren sehr viele Menschen, und es hieß, die Prinzessin wolle heiraten. Um aber den rechten Mann zu bekommen, hatte sie sich verschleiert in eine Sänfte gesetzt und mit vielen anderen Sänften auf den Marktplatz tragen lassen. In allen Sänften saßen verschleierte Frauen, und die Prinzessin war mitten darunter. Wer nun die rechte Sänfte traf, der sollte die Prinzessin zur Frau bekommen. Da ging er auch hin, und als er auf den Platz kam, da sah er, wie die Bienen, die er aus dem großen Wasser gerettet hatte, alle um eine Sänfte schwärmten. Er trat auf die Sänfte zu, und richtig saß die Prinzessin darin. Die Hochzeit wurde nun gefeiert, und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.
 
Der gelbe Storch
(Fabel aus China)
In China war’s. Da lebte vor langer, langer Zeit ein armer Student mit Namen Mi. Er war so arm, dass er sich nicht einmal eine Tasse Tee leisten konnte. Wer weiß, wie es ihm ergangen wäre, wenn da nicht ein gütiger Wirt gewesen wäre! Dieser Wirt gab Mi jeden Tag eine Tasse Tee und eine Schale Reis, und er ließ ihn umsonst bei sich wohnen. - Ja, wäre der Wirt nicht gewesen, der Student Mi wäre wohl verhungert. So ging das eine lange Zeit. Doch eines Tages packte der Student sein Bündel zusammen. „Höre Wirt, ich muss nun fort. Ich danke dir und ich kann dir deine große Güte nicht vergelten. Doch ich will dir etwas dalassen, was vielleicht mehr wert ist, als ich dir schulde.“ Und er zog ein Stück Kreide aus der Tasche, gelbe Kreide, und damit malte er an die Wand der Teestube einen Storch. Der sah aus wie ein richtiger Storch, nur dass er gelb war. „Diesen Storch lasse ich hier, Wirt! Wenn am Abend deine Teestube voller Menschen ist, dann klatscht alle miteinander dreimal in die Hände – und der Storch wird tanzen. Doch hüte dich, lass ihn niemals für einen Menschen alleine tanzen, dann verschwindet er für immer.“ Damit wandte sich Mi um und ging fort. Es wurde Abend. Die Teestube war voller Menschen, da dachte der Wirt an die Worte des Studenten. ‚Ich muss es einmal ausprobieren!’ Und er bat die Gäste: „Lasst uns alle zusammen dreimal in die Hände klatschen, so – klatsch, klatsch, klatsch!“ Und wirklich! Der Storch stieg von der Wand herab. Er breitete seine langen Flügel aus und tanzte durch die ganze Teestube. Er tanzte, er schwebte fast, ab und zu berührte er einen mit den Flügelspitzen, aber nur ganz zart, - und die Leute waren wie verzaubert. Als der Storch überall einmal herum war, faltete er seine Flügel zusammen, stieg wieder an seine Wand und blieb dort. Die Leute saßen da mit offenem Mund und konnten nicht glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten. Doch dann erzählten sie es ihren Freunden und Nachbarn. Die kamen am nächsten Abend, um den Storch tanzen zu sehen. Bald sprach es sich herum, und nun war die Teestube jeden Abend voller Menschen. Von nah und fern kamen sie, um dieses Wunder zu sehen. Bald war der Wirt ein wohlhabender Mann. Auch der Präfekt des Kaisers, ein reicher und mächtiger Beamter, hörte von diesem Wunder. Eines Tages kam er mit seinen Dienern in die Teestube. „Wirt, dein Storch soll auch für mich tanzen, nur für mich allein!“ Und er befahl seinen Dienern, die anderen Gäste aus der Teestube hinauszutreiben. Dann war er alleine mit dem Wirt. Er legte einen Beutel voll Gold auf den Tisch. Als der Wirt das viele Gold sah, vergaß er, was der Student gesagt hatte. Er klatschte dreimal in die Hände, diesmal allein – klatsch, klatsch, klatsch! Und wirklich, der Storch stieg von der Wand herab. Doch seine Flügel breitete er nur ganz wenig aus, drehte sich einmal um sich selbst – müde und krank sah er jetzt aus – und stieg wieder an die Wand und blieb dort. Der Präfekt tobte und schrie: „Das war alles! Das ist Betrug, ich will mehr für mein Geld. Lass deinen Storch noch einmal tanzen, aber richtig!“ Der Wirt klatschte in die Hände, er klatschte noch einmal und noch einmal, doch der Storch blieb, wo er war. Es war schon spät in der Nacht, da klopfte es an der Tür der Teestube. Der Wirt öffnete. Draußen stand der Student Mi. Er sprach kein Wort, er zog nur eine kleine Flöte aus der Tasche und spielte eine zarte, traurige Melodie. Er ging zur Wand, drehte sich um, der Storch stieg herab und beide liefen aus der Teestube hinaus in die dunkle Nacht, durch dunkle Gassen und Straßen, zum Stadttor hinaus – und niemand hat sie je wieder gesehen.
Ja , die alten Leute haben uns diese Geschichte erzählt und sie wissen: Wenn es ein Wunder gibt, ist es immer für alle da. Wenn es einer für sich allein haben will, verschwindet es für immer.
 
Der Fuchs und der Tiger
(Fabel aus China)
Der Fuchs begegnete einst einem Tiger. Der zeigte ihm die Zähne, streckte die Krallen hervor und wollte ihn fressen. Der Fuchs sprach: »Mein Herr, Ihr müßt nicht denken, daß Ihr allein der Tiere König seid. Euer Mut kommt meinem noch nicht gleich. Wir wollen zusammen gehen, und Ihr wollet Euch hinter mir halten. Wenn die Menschen mich sehen und sich nicht fürchten, dann mögt Ihr mich fressen.« Der Tiger wars zufrieden, und so führte ihn der Fuchs auf eine große Straße. Die Wanderer nun, wenn sie von fern den Tiger sahen, erschraken alle und liefen weg. Da sprach der Fuchs: »Was nun? Ich ging voran; die Menschen sahen mich und sahen Euch noch nicht.« Da zog der Tiger seinen Schwanz ein und lief weg. Der Tiger hatte wohl bemerkt, daß die Menschen sich vor dem Fuchse fürchteten, doch hatte er nicht bemerkt, daß der Fuchs des Tigers Furchtbarkeit entlehnte.
 
Der Mebaru
(Fabel aus Japan)
Vor langer, langer Zeit ging einmal ein kleiner Bub zum Angeln ans Meer, und wie er so am Strand saß und seine Fischleine ins Wasser hängte, rauschte ein großer Fisch heran, biß zu, riß den Angelhaken ab und verschwand in der Tiefe. Der Junge brach in Tränen aus und heulte laut: “Mein Angelhaken, jetzt ist mein liebster Angelhaken weg, was mach ich nur?” Das Gejammer drang hinunter bis zum Meereskönig, er stieg an die Wasseroberfläche empor und fragte freundlich: “Na, na, was ist denn los, warum mußt Du so arg weinen?” Der Junge schnupfte auf und klagte: “Gerade eben hat mir ein großer Fisch meinen Angelhaken weggenommen.” Und schon wieder wollte er in Tränen ausbrechen. “So beruhige Dich doch und weine nicht mehr. Das ist alles nicht so schlimm. Weißt Du was, ich suche Dir deinen Angelhaken und bringe ihn zurück. Ich meine, das sollte für mich nicht allzu schwierig sein.” “Oh ja, bitte, das wäre fein. Willst Du das wirklich für mich machen?” Der Bub wischte sich das feuchte Gesicht mit dem Ärmel ab und guckte den Drachenkönig hoffnungsvoll an. “Gut, dann warte mal ein Weilchen, ich komme bald wieder.” Der Meereskönig begab sich hinunter in sein Drachenschloß, und er rief die Lebewesen, die im Meer hausen, zu sich. Sie kamen herbei und standen erwartungsvoll vor ihrem Fürsten. “Wer von Euch hat heute einen Angelhaken an sich genommen? Dieser Haken ist sogleich bei mir abzuliefern!” So fragte er, die Meerestiere schauten eines zum anderen, aber es meldete sich niemand. Nach einer Weile traf noch ein Polyp, der sich auf der Jagd verspätet hatte, ein, und der sprach: “Melde gehorsamst, mein Nachbar, der Mebaru, läßt sich für die heutige Versammlung entschuldigen. Er fühlt sich gar nicht wohl und liegt mit starken Halsschmerzen zu Bett.” Der Meereskönig horchte auf: “So ist das, aha, bring mir den Mebaru sogleich hierher, ich habe da einen Verdacht.” Der Polyp vernahm den Befehl, und so schnell er konnte, führte er ihn aus. Der Mebaru erschien im Drachenschloß, wurde vor seinen König gebracht, und der fragte ihn: “Erinnerst Du Dich an den kleinen Jungen, der heute morgen am Strand gesessen hat? Sein Angelhaken sei ihm gestohlen worden, hat er mir geklagt. Hast etwa Du diesen Haken genommen?” Der Mebaru wollte sich nicht recht zu einer Antwort bequemen, aber dann sagte er doch schleppend: “Ja, mein König, das war ich.” - “Dann gib ihn heraus, aber sofort!” “Das kann ich leider nicht, so gerne ich auch möchte. Er steckt mir tief im Schlund, und ich kann ihn nicht rausziehen. Ich wäre ihn gerne los, er macht mir beträchtliche Halsschmerzen.” “So, mein Lieber, dann komm mal her zu mir, nahe, ganz nahe!” Der Mebaru trat dicht vor den König, dieser zog sein Schwert, und mit einem Hieb spaltete er den Mund des Fisches, so daß er riesengroß klaffte. Der Angelhaken war nun leicht zu entfernen. Der Meereskönig entließ seine Untertanen und stieg wieder an die Wasseroberfläche empor. Am Strand wartete geduldig der kleine Bub, und als ihm der Wasserfürst seinen Angelhaken aushändigte, wußte er sich vor Freude nicht zu lassen. Er machte seine artigsten Verbeugungen und dankte dem Meeresbeherrscher sehr für seine Mühe. Der Mebaru erholte sich wieder von der Operation, die man an ihm vorgenommen hatte. Sein Maul aber wuchs nicht mehr zusammen, und bis auf den heutigen Tag gehört er zu den Fischen, die einen großen Rachen haben.
 
Die Fuchshochzeit
(Fabel aus Japan)
Es lebte einst ein Ehepaar weiße Füchse, und die hatten einen Sohn, so nett und glatt, wie nur je einer zu sehen war, schneeweiß, wie seine Eltern. Als der junge Fuchs erwachsen war, da sagte ihm sein Vater:" Jetzt will ich mich aufs Altenteil setzen und dir das Regiment des Hauses überlassen. Suche du dir eine Frau und fang an, selbst zu wirtschaften; mit Rat und Hilfe will ich dich gern zu jeder Zeit unterstützen." Der junge Fuchs dankte seinem Vater aufs verbindlichste und begann sogleich mit Eifer zu arbeiten und den neuen Hausstand vorzubereiten. Die Frage, wen er als Braut heimführen sollte, war auch sehr bald entschieden, denn gar nicht weit wohnte ein anderes Paar weißer Füchse, die ein Töchterchen hatten, das seiner Schönheit halber berühmt war, sein Fell strahlte weithin und war so glatt wie Seide. Nun war es vor allen Dingen nötig, die Einwilligung der Eltern des schönen Mädchens zu haben. Ein geschickter Brautwerber fand sich und brachte die Angelegenheit in der üblichen Weise, mit allen erdenklichen Höflichkeitsbezeugungen, ohne weitere Hindernisse in Gang. Geschenke vom Freier kamen an, und der Bote, der sie mit zierlich gesetzten Glückwünschen anschleppte, ward mit reichem Lohn entlassen. Nun wurde eine Zusammenkunft der Brautleute verabredet, damit sie sich doch vorher kennen lernten, ehe die Braut in ihres Mannes Haus käme; das übliche Fass Sake wanderte in die Wohnung des künftigen Paares, und es blieb nichts übrig, als einen guten, glückbringenden Tag im Kalender für die Hochzeit auszuwählen. Endlich kam dieser heran; aber leider war es recht schlechtes Wetter. Schwere Wolken zogen unablässig am Himmel dahin, und fast beständig fielen Regenschauer herab. Dennoch setzte sich der Zug mit der Braut zur rechten Zeit in Bewegung, und, siehe da, bei vollem, strömendem Regen lachte die Sonne, gerade als die Braut unterwegs war. Alle Welt wunderte sich und war darüber sehr erfreut, und daher sagt man noch heutzutage in Japan, wenn bei vollem Regen die Sonne scheint:" Die Braut des Fuchses geht in ihres Mannes Haus." Hier angelangt, leerte die schöne Braut die Sakeschale, von der zuvor ihr Bräutigam getrunken; dann waren alle vergnügt und tanzten, sangen und tranken nach Herzenslust. Und so lustig die Hochzeit, so glücklich war das fernere Dasein des jungen Paares. Füchslein, alle nett und weiß von Pelz, der eine noch runder und kräftiger als der andere, umsprangen sie bald in Menge und gediehen zur Freude der Eltern und des würdigen alten Großvaters, der nicht verfehlte, jeden derselben seinen Schutzpatronen, der Göttin und dem Gotte von Inari, vorzustellen und sie ihrem Schutze zu empfehlen. Und die Götter halfen auch getreulich, die ganze Familie vor bösen Hunden und anderen Feinden zu bewahren, und so dauerte das Glück viele viele Geschlechter hindurch bis auf den heutigen Tag.