Nicht der Irre braucht Hilfe, sondern der Normale

SchlimmerFinger

Da guckste
ID: 109631
L
26 April 2006
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Hier ein Artikel aus der Welt-Online, mit dem ich voll übereinstimme und den ich euch nicht vorenthalten will:

In seinem Bestseller "Irre! Wir behandeln die Falschen" plädiert Manfred Lütz dafür, die Normalen zu therapieren. Henryk M. Broder gratuliert.

Alle guten Bücher kann man in wenigen Worten zusammenfassen. Faust: Alter Mann verfällt einer jungen Frau und verliert seine Seele; Wilhelm Tell: Scharfschützen haben mehr vom Leben; Das Kapital: Lieber reich und gesund als arm und krank. Sein Buch „IRRE!“ hat Manfred Lütz in zwei Sätzen kondensiert: „Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen.“

Lütz hat den Nagel nicht nur auf den Kopf getroffen, er hat ihn mit einem Schlag in der Wand versenkt. Unser Problem sind in der Tat die Normalen, die Unauffälligen, die Ergebenen, die tagsüber arbeiten und nachts schlafen, die ihren Urlaub ein halbes Jahr im voraus buchen; diejenigen, die quer durch Brandenburg fahren, um in Polen ein paar Euro beim Tanken zu sparen; die vor einer CO2-intensiven Reise in die Karibik eine Ablass-Spende an Green Peace überweisen; die einen Buckelwal adoptieren und die Stand-by-Funktion ihres Fernsehgeräts deaktivieren, um das Klima vor dem Kollaps zu retten.

Panizza – wegen "Liebeskonzil" im Gefängnis

Oskar Panizza war, wie Lütz, Mediziner, Psychiater und in dieser Eigenschaft Arzt an der oberbayrischen Kreis-Irrenanstalt in München. Von Geburt katholisch, aber von der Mutter nach dem Tode des Vaters protestantisch erzogen, schloss er sich der 1890 gegründeten „Gesellschaft für modernes Leben“ an, einer Vereinigung freier Geister.


Über die Grenzen Bayerns bekannt wurde er mit dem „Liebeskonzil”, einer „Himmelstragödie in fünf Aufzügen”, die 1495 im Himmel, in der Hölle und im Vatikan spielt. 1895 wurde Panizza wegen Gotteslästerung angeklagt und von einem bayrischen Gericht zu einem Jahr Gefängnis in der Haftanstalt Amberg verurteilt.

Nach Verbüßung der Strafe zog er nach Zürich, wo er die Zeitschrift „Zürcher Diskussionen” herausgab, die er vor allem mit seinen eigenen Arbeiten füllte. Darunter einem Essay über „Das Schwein in seinen poetischen, mythologischen und kulturhistorischen Aspekten”. Von Panizza stammt der Satz: „Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.” Und das klingt wie: „Wir behandeln die Falschen, unser Problem sind die Normalen.”

Was ist "irre"? Was ist "normal"?

Tatsächlich leben wir in irren Zeiten. Wir erleben epidemische Ausbrüche des Wahnsinns, der sich als Vernunft geriert. Möglich, dass es schon immer so war, aber die Allgegenwart der Medien, die Möglichkeit, jede Katastrophe in Echtzeit oder mit geringer Verzögerung zu erleben, weil immer irgendwo eine Kamera darauf wartet, den Absturz einer Concorde oder den Ausbruch eines Vulkans aufzunehmen, diese Möglichkeit lässt uns an allem, was um uns passiert, teilhaben.

Wir sind auch dabei, wenn Guido Westerwelle sich auf Englisch verhebt, Frau Käßmann eine rote Ampel überfährt und Christine Neubauer ihre Ehe für beendet erklärt. Der technische Fortschritt hat die epidemische Verbreitung des Wahnsinns viel einfacher gemacht. Wenn Sie sich davon überzeugen wollen, dass wir tatsächlich die Falschen behandeln und die Normalen unser Problem sind, dann müssen Sie nur einmal die Leserforen der großen Zeitungen besuchen.

Was Sie dort finden, ist irre, da toben sich die unheilbar Gesunden aus, die – der Technik sei Dank – die Möglichkeit bekommen haben, sich an gesellschaftlichen Diskussionen zu beteiligen. Dabei wird es immer schwieriger, zwischen „irre” und „normal” zu unterscheiden, denn beides ist eine Frage der Definition. Und Definitionen sind Funktionen des Zeitgeistes. Vegetarier halten Kannibalen für irre, umgekehrt verhält es sich genauso. Wobei man nicht vorhersagen kann, wie lange die Sicht der Vegetarier die dominierende bleiben wird.

Und täglich stellt sich die gaga-Frage

Beamen Sie sich einfach 20, 30 Jahre zurück und stellen sich Folgendes vor. Zwei homosexuelle Männer bekommen ein Kind. Sie werden Vater. An dem Projekt sind auch zwei Frauen beteiligt. Die eine hat ihre Eizelle zu Verfügung gestellt, die andere trug das Kind aus, nachdem ihr die mit dem Sperma der beiden Männer befruchtete Eizelle implantiert wurde.

Das Kind hat also zwei Väter und zwei Mütter. Das war eine der Topnachrichten zu Weihnachten. Elton John und sein Ehemann David Furnish wurden Eltern. „Wir sind überwältigt von Glück und Freude in diesem besonderen Moment“, erklärten sie, euphorisiert wie alle Eltern.

Ich will das weder be- noch verurteilen, obwohl ich doch zu der eher reaktionären Ansicht neige, eine Mutter und ein Vater seien mehr als genug, alles darüber hinaus sei dazu angetan, das Leben des Kindes unnötig zu komplizieren. Ich frage mich nur: Wenn ich diese Art der Familienplanung bedenklich finde, reagiere ich dann normal oder verrückt? Das ist ohnehin eine Frage, die ich mir beinah täglich stelle: Bin ich gaga oder sind es die anderen?


Trittin und seine 150 Sonnenblumen-Order

Vor einigen Jahren, mitten in einem sehr kalten Winter, sind mir großformatige Plakate aufgefallen, auf denen unser Planet zu sehen war: Blau wie Enzian und pumperlgesund. Darunter der Satz: „Sibirien bleibt kalt”. Ich hatte mir bis dahin wenig Gedanken um das Wetter in Sibirien gemacht, ich hatte auch nicht angenommen, dass irgendjemand versuchen würde, Ananas in Krasnojarsk anzubauen. Ich trat näher und las das Kleingedruckte.

Es war eine Plakataktion des Bundesumweltministers zum Inkrafttreten des Kyoto-Abkommens, eine frohe Botschaft von Jürgen Trittin. Inzwischen ist er nur noch Fraktionschef der Grünen, aber immer noch in Sachen Umwelt aktiv. Zur Klausurtagung der Fraktion, letzte Woche in Weimar, hatte er bei einem örtlichen Blumenhändler 150 Sonnenblumen bestellt, ohne zu wissen, dass der Januar nicht die Zeit ist, in der bei uns Sonnenblumen gepflückt werden.

Der Blumenhändler musste sie also einfliegen lassen: Nicht aus Sibirien, sondern aus dem sonnigen Israel, wo sie das ganze Jahr blühen, ohne sich Sorgen um das Klima in Sibirien machen zu müssen.


Landwirte, die für Nichtanbau bezahlt werden

Das ist der ganz normale Irrsinn unserer Tage, von dessen Allgegenwart Sie sich überzeugen können, wenn Sie Ihren Nachbarn, der seine ortsnah angebauten Mangos im Bioladen kauft, fragen, wie es denn kommt, dass er sauberen, aus Windkraft erzeugten Strom bezieht, während der Strom, der bei Ihnen aus der Steckdose kommt, aus Atomkraft generiert wird. Wo doch zwischen seiner und Ihrer Wohnung nur der Hausflur liegt, der von einer Energiesparlampe beleuchtet wird, die nach ihrem Ableben im Sondermüll entsorgt werden muss.

Und falls Sie mit der Bahn unterwegs sind, werden Sie ab und zu aus dem Fenster des Großraumwagens schauen und sich fragen, wo denn die ganze Natur geblieben ist, zu deren Schutz Tausende von Windrädern aufgestellt wurden. Auf den zweiten Blick wird Ihnen noch etwas auffallen: Bauernhöfe, Scheunen und Mehrfamilienhäuser, deren Dächer mit Solaranlagen bedeckt sind. Erstaunlich, werden Sie denken, dass ausgerechnet Landwirte und Häuslebauer, die als konservativ gelten, sich mit dieser Technik dermaßen schnell angefreundet haben.

Aber dem ist nicht so, der Eindruck täuscht. Was da draußen an ihnen vorbeihuscht, das sind ökologische Gelddruckanlagen. Landwirte, die früher Stilllegungsprämien von der EU dafür bekamen, dass sie nichts anbauten, speisen nun den Strom, den sie sozusagen im Schlaf erzeugen, ins Stromnetz ein und bekommen dafür etwa 30 Cent pro Kilowattstunde. Sie selbst zahlen für den Strom, den sie beziehen, nur ca. 20. Und von der kleinen Differenz leben sie. Sie und ich dagegen zahlen umso mehr für den Strom, je mehr Hausbesitzer an diesem Gewinnspiel teilnehmen. Wenn der Wahnsinn epidemisch wird, heißt er Vernunft.


Für eine Apanage kein Taliban werden

Vor einem Jahr hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle erklärt, die Bundesregierung werde sich mit 50 Millionen Euro an einem Reha-Programm für die Taliban beteiligen. Damit sollte „reuigen Taliban eine Ausstiegsschance” gegeben werden, vorausgesetzt, dass „die Taliban der Gewalt und dem Terror abschwören, alle Kontakte zu al-Qaida abbrechen und die afghanische Verfassung anerkennen”.

Daraufhin schrieb ich einen Brief an Westerwelle und machte ihn auf einen Schwachpunkt seines Projekts aufmerksam: Vorsorge ist wichtiger als Nachsorge, statt Täter zu resozialisieren, müsste man dafür Sorge tragen, dass es gar nicht zur Täterschaft kommt. Das wäre einfacher und billiger. Und ich machte Guido Westerwelle ein Angebot: Ich würde von meiner Absicht, ein Taliban zu werden, Abstand nehmen, wenn er sich dafür erkenntlich zeigen würde. Erlauben Sie mir, mich selbst zu zitieren:

„Meine Forderungen sind maßvoll: ein Reihenhäuschen in Hamburg-Blankenese, allerdings mit unverstelltem Elbblick, ein VW Passat Kombi mit je einem Satz Sommer- und Winterreifen, eine winterfeste Camping-Ausrüstung, eine Motoryacht von Aguti, eine Stereo-Anlage von Bang und Olufsen, ein iPod, ein iPhone und ein MacBook Air. Dazu eine Apanage von 2500 Euro monatlich, sozusagen als leistungsunabhängiges Grundeinkommen. Das hört sich nach viel an, ist es aber nicht. Überlegen Sie bitte, was Sie dafür bekommen: die Garantie, dass ich kein Taliban werde. Ich schwöre der Gewalt ab, noch bevor ich ihr zugeschworen habe!” Auf eine Antwort des Ministers warte ich noch immer.


Parteitage sind die Höhepunkte des Wahnsinns

Manchmal könnte man meinen, es wäre das ganze Jahr Karneval. Anfang und Ende der närrischen Saison gehen nahtlos ineinander über. Höhepunkte des Wahnsinns sind die Parteitage. Wenn Sie nur einmal Claudia Roth live on stage erlebt haben, verstehen Sie, warum in den letzten Jahren so viele Deutsche wie nie zuvor ausgewandert sind: Aus Angst, sie könnte ihre Drohung wahrmachen und die Grünen in die Regierungsverantwortung führen.

Frau Roth ist alles zuzutrauen. Sie hat vor kurzem den Iran besucht und dabei auch einem Ayatollah ihre Aufwartung gemacht, den Kopf dem Landesbrauch entsprechend keusch verhüllt. Nach ihrer Rückkehr erklärte sie, man dürfe das Land nicht auf sein Regime reduzieren und sprach sich für einen verstärkten Kulturaustausch aus, um die „Zivilgesellschaft” im Iran zu stärken.

Was den Verdacht nahelegt: Hätte Frau Roth damals die Gelegenheit gehabt, Theresienstadt zu besuchen, wäre sie von der Leistung des Lagertheaters so angetan gewesen, dass sie das Goethe-Institut aufgefordert hätte, die Kulturarbeit der Gefangenen zu unterstützen.


Der Verslust von Scham als Zeichen von Schwachsinn

Manfred Lütz sagt: „Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen.” Panizza sagt: „Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.” Dieter Bohlen sagt: „Das Problem ist: Mach einem Bekloppten klar, dass er bekloppt ist.”

Der Verlust von Scham sei ein sicheres Zeichen von Schwachsinn – das ist von Sigmund Freud. Würde er heute leben, müsste er in sein Urteil nicht nur Exhibitionisten und Exhibitionistinnen aus dem Show-Biz einschließen, nicht nur die abgetakelten Promis vom Ballermann und aus dem Dschungelcamp, sondern auch Porsche fahrende Post-Kommunisten mit einem rentengestützten Sitz im Bundestag, die über die soziale Kälte im Lande klagen.

Und nicht zu vergessen: Urlauber, die eine Reise nach Tunesien gebucht haben, ohne damit zu rechnen, dass dort eine Revolution ausbrechen und ihnen „die schönsten Wochen des Jahres” verderben könnte. Sie hätten das Hotel nicht verlassen können, Shoppen sei unmöglich gewesen, „so was ist doch kein Urlaub”, beschwerten sie sich nach ihrer vorzeitigen Heimkehr. Diese fiesen Tunesier hätten wirklich etwas Rücksicht auf Touristen nehmen können. Eine Revolution kann man immer vom Zaun brechen, Urlaub hat man nur einmal im Jahr.


Die Frage nach Gott und dem auserwählten Volk

Es bleibt schwierig, die Begriffe „irre” und „normal” sauber zu definieren und sie voneinander abzugrenzen. Manfred Lütz ist dazu in der Lage, weil er als Theologe dort ansetzen kann, wo er als Psychiater nicht weiterkommt.

Es gibt einen Raum jenseits der Realität, abseits von Fakten, Zahlen und so fundamentalen Einsichten, dass die Basis die Grundlage des Fundaments ist. Alle Versuche zum Beispiel, den Antisemitismus mit den Mitteln der Psychologie, der Soziologie und der Ökonomie zu erklären, sind auf hohem Niveau gescheitert.

Bleibt also nur die Sache mit Gott und seinem auserwählten Volk, eine Option, die auch gestandene Atheisten und dialektische Materialisten in den Wahnsinn treibt. Denn: Wenn es keinen Gott gibt, kann es auch kein von Gott auserwähltes Volk geben. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, über die wir uns mal in Ruhe unterhalten müssen, sozusagen von einem Irren zum anderen.

Quelle: https://www.welt.de/kultur/literari...r-Irre-braucht-Hilfe-sondern-der-Normale.html
 
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Typisch Broder - krakelend lautstarker Sarkasmus mit jeder Menge Wahrheit drin, die mit Absicht falsch- oder überinterpretiert wird... :mrgreen:
 
Ich mag Broders Artikel. Er bringt die Dinge mit Scharfsinn und Humor auf den Punkt. Und er spricht und schreibt fließend sarkastisch, das kann nicht jeder. :mrgreen: