Eintrag #31, 14.01.2007, 11:11 Uhr

unabhängige gerichte

ich bin bei heise auf den folgenden artikel gestossen. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24438/1.html um ehrlich zu sein, halte ich mounir el-motassadeq nicht gerade für ein unschuldslamm, und er wurde ja auch in keinem prozess freigesprochen. ich finde es aber besorgniserregend, wenn ein deutsches gericht angewiesen wird, seine bewertung einer unbestrittenen beweislage entsprechend einer klaren vorgabe "von oben" zu ändern.

die frage ist doch nun, wer dieses urteil zu verantworten hat. das gericht hat die beweislage bezüglich des mordvorwurfes erst als unschuldsbeweis, dann als schuldbeweis gewertet. also entweder hat es den angeklagten im ersten prozess trotz bewiesener schuld vom mordvorwurf freigesprochen oder im zweiten prozess trotz bewiesener unschuld verurteilt. strafvereitlung und verurteilung unschuldiger sind beides straftatbestände.

natürlich kann (und wird) man es so auslegen, dass das gericht seinen irrtum nach der darlegung des bgh eingesehen hat. im zweifel hat sich das bgh auch geirrt, und das gericht hat den irrtum nur übernommen - upps. mit anderen worten, es gibt keinen juristisch verantwortlichen mehr. und weil das hier so schön geklappt hat, wird sich das verfahren in zukunft sicher etablieren.

ich habe kein verständnis dafür, dass die verfassungsbeschwerde des angeklagten abgelehnt wurde. das verfahren vor dem verfassungsgericht hätte so oder so zu einer begründeten entscheidung geführt. dass mounir el-motassadeq sein verfahren verloren hat, ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal. dass der rechtsstaat auch verloren hat, macht mich betroffen. und dass von al-qaida bis npd die gegner des rechtsstaates so bereitwillig mit argumenten versorgt werden, macht mir angst.

ich bin der meinung, dass wir eine wirkungsvolle verfassungsjustiz brauchen. die verfassung ist geltendes recht, das in der praxis aber kaum als solches realisiert wird. wenn man verstösse gegen die verfassung praktisch nicht untersucht, weil sie theoretisch gar nicht sein können, können sie eben theoretisch doch wieder sein, weil sie ja praktisch keine konsequenzen haben.

wie die masse der verfassungsbeschwerden zeigt, wird dem grundgesetz als gesetz in der realität kaum beachtung geschenkt. gäbe es instrumente, um bei mutmasslichen verletzungen der grundrechte zumindest eine legitime juristische bewertung einzufordern, wäre uns so manche krise und mancher skandal erspart geblieben. aber es scheint doch so zu sein, dass wir demokratie, rechtsstaatlichkeit, kurz das, was uns das grundgesetz garantieren sollte, in debatten gar zu gern auf unserer seite haben. wir sind ja die gutmenschen, die demokraten. aber bitte, bitte. das muss theoretisch bleiben. in der praxis wollen wir schon lieber pragmatisch und manchmal eben auch undemokratisch zur sache gehen.

das grundgesetz als unantastbares recht zu sehen, würde uns zum nachdenken zwingen. im moment können wir uns das immer noch so schön sparen. wir nehmen einfach die naheliegendste lösung, und wenn es verfassungsmässig bedenklich ist, dann jubeln wir das wort "sachzwang" und haben damit alle hindernisse aus dem weg gehustet. und wohin hat es uns gebracht? selbst jetzt, wo überall der aufschwung tobt, wo arbeitslosenzahlen und neuverschuldung spürbar sinken, sind die absoluten zahlen noch gigantisch und beängstigend genug. gut, nun kann man fragen, was hätten uns da die grundrechte genutzt?

ganz einfach. wir hätten feststehende prämissen gehabt, und wären dadurch gezwungen gewesen, unser handeln einem konzept unterzuordnen. wir hätten konkrete ziele gehabt, und entsprechend die konsequenzen unserer handlungen durchdacht. weil wir das alles nicht hatten, ist das agieren zum panischen reagieren, das reformieren zum kopf- und konzeptlosen deformieren geworden.

es gibt diesen berühmten satz: frage nicht, was der staat für dich tun kann, frage, was du für den staat tun kannst. dieser satz wird aber nur dann sinnvoll, wenn der staat irgendetwas darstellt, das diese unterstützung seiner bürger auch verdient. ich denke, dieses land sollte sich nicht nur demokratisch und rechtsstaatlich nennen. es sollte auch seine formellen ideale in der praxis vertreten und verteidigen, und zwar nicht in erster linie dort, wo es darum geht, die "bösen anderen" zu bekämpfen, sondern vor allem dort, wo es eben auch mal unangenehm oder kompliziert sein kann.

aber mal ehrlich, wer ist heute schon noch demokrat? und wer, von den wenigen, will wirklich in die politik? und es ist ja richtig. ich selbst mach es auch nicht. Ich bin kein vorkämpfer. ich kann also auch niemanden wirklich anklagen. aber ich kann besorgt sein, und das bin ich auch und wollte es nur mal sagen.
 
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