Eintrag #14, 23.10.2006, 18:34 Uhr

The war is (almost) over - Eins komma vier Megabyte.

Und da sitze ich wieder vor meinem PC. So wie jeden verdammten Tag in den letzten zweieinhalb Monaten. Auf dem selben verdammten Stuhl, in der selben verdammten Haltung den selben verdammten Monitor anstarrend. Die Bude versinkt im Chaos, aber ich habe keine Zeit mich drum zu kümmern. Der gallebittere Kaffee kriecht langsam, bedächtig die Speiseröhre hinunter, ätzt und brennt sich seinen Weg nach unten. Ich höre meine Magenwand leise jammern... warum, schon wieder?

Nur wach werden, irgendwie wach werden, damit es weiter gehen kann, mein Hirn zermarten, alles für die Sache. Ich habe wieder kaum geschlafen, keine Zeit. Was tue ich meinem Körper nur an? Wach werden, irgendwie wach werden. So geht es, jeden Tag.

Doch heute ist etwas anders. Heute fühlt es sich anders an. Immer wieder schweift mein Blick weg vom Monitor auf meinen Schreibtisch, wo sich, ganz oben auf dem Chaos, das erste mal ein Produkt des Martyriums physisch manifestiert hat. Weinroter Einband, darin 160 Seiten feines gestrichenes Papier, bedruckt mit Formeln über Formeln (allein dreihundertfünfzig, zählt man nur die nummerierten zusammen), Grafiken, Erläuterungen, Tabellen... meine Diplomarbeit. Ich kann es nicht fassen, nicht begreifen... und hätte es schon kaum noch für möglich gehalten.

Aber diese Nacht ist es passiert. Nach einer erneuten durchgearbeiteten Nacht war ich heute morgen um 08:30 so weit. Ein letztes mal "Projekt aufräumen", "Projekt erstellen". Aus TeX wird DVI aus DVI wird PS aus PS wird PDF. First pass, second pass, third pass. Alle Referenzen sind aufgelöst. Die Ausgabe des Compilers fliegt an mir vorüber, meine brennenden Augen können die Zeilen nicht mehr fokussieren. Und auf einmal ist es so weit. Eine kleine unschuldige PDF. Eins komma vier Megabyte voller Nullen und Einsen. Das kondensierte Ergebnis von einem Jahr Arbeit. Es würde auf eine einzelne Floppydisk passen. Und es füllt nicht mal ein Drittel Prozent der Kapazität meines USB-Sticks.

Als es 08:45 ist, setze ich mich auf mein Fahrrad. Ich bin wie unter Drogen. Die Welt fliegt an mir vorbei ich kann kaum alles erfassen. Die frische Luft ist ungewohnt, zu selten habe ich mein verdammtes Zimmer verlassen können in den letzten Monaten. Vom Tageslicht muss ich blinzeln. Ich hatte nur noch nachts gearbeitet, weil ich da effektiver bin. Tageslicht ist zur Ausnahme geworden. Ich spüre nicht, dass es kalt ist, spüre nicht, dass meine Beine sich bewegen, scheine fast die Straßen entlang zu schweben, wie ein Geist. Ich spüre gar nichts.

Ich betrete den Copyshop, in meiner Hand der winzig kleine USB-Stick. Es fühlt sich so eigenartig an, so verkehrt. Wie kann die Arbeit eines Jahres auf so ein kleines Ding passen?

Der Druck verläuft reibungslos. Alle Grafiken sehen top aus, die Farben brilliant, gestochen scharf. Ich streiche über das Papier, fühle wie weich es ist. Ich halte den dicken Stapel Papier in der Hand. Das erste mal ein physisches Produkt der Quälerei. Der schwere Papierstapel fühlt sich besser an als der USB-Stick. Viel besser als eins komma vier Megabyte.

Zum Glück passen die 160 Seiten in die 150er Bindung. Ich wähle Weinrot. Drei Exemplare. Als sie gebunden vor mir liegen kann ich es kaum glauben. Ich muss sie betrachten, berühren, daran riechen, sie mit allen Sinnen erfassen. Immer noch fühle ich mich wie unter Drogen. Die Blicke der Angestellten wandeln sich mehr und mehr zu Fragezeichen. Aber auch das bemerke ich kaum. Achtzig Euro kostet mich der Spaß.

Als ich das Geschäft verlasse weicht die gefühlslose Träge zum ersten mal auf, ich beginne wieder etwas zu spüren. Der Lufthauch auf meiner Haut, die schweren Ausdrucke in meiner Hand. Ich bin stolz. Stolz und glücklich. Ein bisschen fühle ich mich, als wäre ich grade Vater geworden.

Die fünf Stunden Schlaf, die ich mir danach gönne, beleben mich kaum. Nun sitze ich schon wieder hier, die brennenden Augen, die sich nur mühsam offen halten auf den Monitor gerichtet. Wie immer. Aber diesmal ist mein Baby mit mir. Es ist anders. Es gibt mir Kraft.

Und doch, noch einmal muss ich kämpfen. Morgen steht die Verteidigung an, da muss ich fit sein, agil. Hinter meinem Thema stehen. Es anschaulich präsentieren. Wie präsentiert man pure Mathematik überhaupt anschaulich? Ich fühle mich müde und ausgebrannt. Will nicht mehr kämpfen. Will Frieden mit mir selbst. Doch dieses eine mal muss es noch gehen. Diese eine quasiletale Koffeindosis noch. Diese eine Nacht noch durchracken. Dann morgen noch einmal pushen. Einen fiten Eindruck machen. Überspielen, was ich meinem Körper antat in den letzten Monaten.

Er hat so gut durchgehalten. Kaum auszudenken wäre ich krank geworden. Ich bin ihm was schuldig. Wenn ich das noch überstehe, dann tu ich Dir was gutes. Versprochen.

The war - it is almost over.

And victory is close.

Dipl.-Ing. ich komme.
 
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