Eintrag #23, 18.10.2022, 17:50 Uhr

Sprich mit mir !

Es war an einem Dienstag, als ich in den Bus einstieg und nach einem freien Platz ausschaute. Da war noch ein Doppelsitzer.Vor mir saß eine junge Mutter, ein kleines Mädchen, noch Baby, auf dem Arm, den Kinderwagen neben sich und auf ihrer anderen Seite stand ein Junge von ungefähr vier oder fünf Jahren auf dem Sitz. Ein Blick in sein Gesicht zeigte mir, daß er wohl das Schicksal von einem mir bekannten Mädchen namens Johanna teilte. Down Syndrom.
Kaum hatte ich mich gesetzt und ihm kurz zugelächelt, begann er Kontakt mit mir aufzunehmen. Er zeigte mit seinen kleinen Fingern nach draußen und erzählte mir etwas in seiner eigenen Sprache. Kleinigkeiten verstand ich. Erfahrung von Johanna. Eine Geschichte, in der Autos auf jeden Fall eine Rolle spielten. Aufmerksam hörte ich ihm zu und versuchte, an den richtigen Stellen Antworten zu geben.

Nach einer Weile beugte er sich zu mir rüber und seine Hände zeichneten das Muster an meinem Hemd nach. Da schaltete sich die Mutter ein und wollte ihn zurückhalten. Aber ich gab ihr zu verstehen, daß alles in Ordnung sei und sie ihn gewähren lassen sollte, denn die Streifen des Hemdes waren inzwischen zu Straßen und die Knöpfe zu Kreisverkehren geworden. Phantasie hatte sich seiner bemächtigt und ich dachte an meine erste Fahrschulstunde. Unterhaltung auf zwei verschiedenen Ebenen, aber sie funktionierte.

Inzwischen war eine Frau mittleren Alters eingestiegen und besetzte den freien Platz neben mir. Ihr Blick ging kurz zu dem Jungen, der ihr sofort etwas erzählte, was sie natürlich nicht verstand. Was folgte, war eine Reaktion, die mich noch heute den Kopf schütteln läßt: Ihr Augenkontakt wechselte ruckartig zu dem kleinen Baby, welches von da an ihre einzige Aufmerksamkeit erhielt.
Gespielte Kinderfreundlichkeit. Nicht der Kinder, sondern der Umgebung wegen. Ohne jedes Verstehen, ohne jedes Verstehen wollen.

Zwei Haltestellen vor mir stieg die Mutter mit den beiden Kindern aus. Der Junge blieb einen Augenblick im Gang stehen und sagte zu seiner Mutter gewand: Mann aussteigen. Sie machte ihm klar, daß ich noch weiter fahren müßte. Ausstieg. Dann ein letzter Blick durch die schmale Öffnung der sich schließenden Türen. In dem Moment sah ich Johanna. Den Namen des Jungen kenne ich nicht. Für mich heißt er Johannes.

Ein paar Minuten blieben mir noch, meine Gedanken zu ordnen. Sie reichten zurück bis zur Kennenlernphase von Johanna, an mein Kennenlernen. Ich mußte lernen!
Und Johannes ? Hat er verstanden, daß ich ihn verstanden habe ?
Früher mußten wir Aufsätze über unsere Erlebnisse schreiben. Diesen hätte ich genannt: Mein schönstes Buserlebnis. Und die Frau neben mir ? Sie hat das ihrige verpaßt.

Und dann höre ich immer wieder den Satz: Die Kinder sind unsere Zukunft. Richtig, aber wie diese Zukunft aussieht, bestimmen wir durch unser Verhalten gegenüber den Kindern, durch das, was wir ihnen lehren. Ihnen allen. Auch jeder Johanna und jedem Johannes. Wer Kinder nicht nur in Schulklassen einteilt, sondern auch ihn gesellschaftliche, hat ihnen nie zugehört und sie nie verstanden. Geld alleine schafft keine bessere Zukunft, dies können nur die Kinder von heute, vorausgesetzt, wir hören ihnen zu, geben ihnen eine Chance. Und zwar allen.

Sie haben uns Wichtigeres zu sagen, als viele Erwachsene.

 
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