Eintrag #27, 01.01.2006, 05:17 Uhr

Live aus dem Kriegsgebiet Teil II

16.30 Uhr:
Ich erwache vom Hämmern an meiner Wohnungstür...
Plötzlich, in jenem kritischen Augenblick zwischen Traum und Wachsein erwarte ich wirklich die Truppen des Chaos und der Revolution vor meiner Tür und ich fühle die Wut und Entschlossenheit in mir aufsteigen, meine Wohnung bis zum letzten zu verteidigen...
Dann kehrt die Realität vollends zurück und ich begreife, daß das vermeintliche Hämmern an meiner Wohnungstür schlicht das ferne Geräusch explodierender Feuerwerkskörper ist...
So fern, wie man eben sein kann, wenn man eine Wohnung im dritten Stock mittem im Krisengebiet bewohnt...
Die Stimmung wird immer unruhiger, ich überlege, ob es nich besser sei, die Gegend aus Sicherheitsgründen zu verlassen; die Konflikte draußen scheinen sich zuzuspitzen, wiederholt ist das markante Geräusch von heulenden Sirenen zu vernehmen.

19.00 Uhr:
Die Lage scheint zu eskalieren, aus der Redaktion erreicht mich ein besorgter Anruf, ob meine Sicherheit gewährleistet sei und ob sie nicht lieber einen Wagen schicken sollten, um mich sicher aus dem Krisengebiet herauszugeleiten.
Nach kurzem Zögern stimme ich zu und bald darauf hupt ein aufgeregter Fahrer mich aus meinem Hauseingang.
Direkt vor meinem Haus werden Sprengkörper zur Detonation vorbereitet, selbst die Jüngsten helfen mit. Kurze Gedanken an terroristische Ausbildungslager in Afghanistan schießen mir durch den Kopf, während ich die Türen hinter mir zuziehe und ich vermeintliche Sicherheit eintauche...

19.05 Uhr:
Der Wagen rauscht dahin in Richtung der sicherer wirkenden Außenbezirke, der Fahrer umzirkelt potenzielle Gefahrenherde und Stoppunkte an Ampeln und Verkehrsballungen.
Ich bemerke ein kurzes Zögern, als wir eine vom Rauch der Explosionen vernebelte Brücke erreichen, doch dann wird Vollgas gegeben und wir rauschen unbeschadet durch das wolkige Dickicht.
Auch Blaulicht-erhellte Straßenabschnitte werden mit durchgedrücktem Gaspedal durchschritten und am Ende werde ich bei Freunden am Stadtrand abgesetzt, unbeschadet, aber mit düsteren Vorahnungen...
20.00 Uhr:
Es scheint merkwürdig, aber meine Freunde haben mich offenkundig erwartet, ein fertiges Essen steht auf dem Tisch, bzw. ein vorbereitetes Fondue und eine bereitgestellte Flasche Wein, die nur darauf warten, daß ich mich über sie herstürze!
Nun denn, tuen wir ihnen den Gefallen...
23.00 Uhr:
Ist es der Wein und die Drinks hinterher oder verliere ich den Bezug zur Wirklichkeit, bzw. den Bezug zu meiner Wirklichkeit, die ich bislang mit der Realität gleichsetzte?
Auch hier draußen kracht und knallt es in regelmäßig unregelmäßigem Abstand draußen vor der Tür (wenn auch nicht in so massivem Maße) und auf dem Bildschirm des Fernsehers laufen Szenen massiver Gewalt, angefeuert sowohl von den Menschen um mich herum als auch von mir selbst...

0.00 Uhr:
Ein traditioneller Countdown, ein Anstoßen, ein hysterisches Jubeln aus dem Nichts heraus; Sylvesterbräuche scheinen überall gleich zu sein.
Wie Krieger auf einer Wallfahrt stürzen wir uns in die prophezeite Schlacht, schicken Fanfaren aus Licht und Lärm gen Himmel im Kampf gegen die Geister des alten Jahres im ohnmächtigen Vertrauen auf ein besseres nächstes Jahr, gefangen in denselben Routinen, den denselben Zufällen des Schicksals wie im vorigen Jahr.
Ein gewisser Hunger, eine Art Blutrausch ergreift uns und wir geben uns dem fragwürdigen Schauspiel hin, kommentieren besonders gelungene Darstellungen mit Ahhs, Ohhs und HOOOOS!
Doch irgendwie stockt der Nachschub, stockt der Rausch, kehrt die Realität wieder zurück, eventuell getrübt durch den Schleier, den der Alkohol vor der Realität gewoben hat. Auch die Kälte kriecht zurück ins Bewußtsein, wir ziehen uns zurück in die wohlig-warme Sicherheit des Hauses und beobachten auf dem Bildschirm des Fernsehers ganz eigenen Szenen der Grausamkeit, unter anderem aus unserer Jugend, bevor wir zum vertrauten Gemetzel auf dem vertrauten Kanal zurückkehren...

3.00 Uhr:
Auf Dauer stumpft selbst äußerste Gewalt schlicht ab und einschlafende Gestalten votieren deutlich für ein Ende der sylvesterlichen Gesellschaft!
Doch in mir reift eine ungewisse Begierlichkeit, ein nagender Drang zu erfahren, was mit dem eigenen Heim passiert ist; ein Drang, die beauftragte Story zu vollenden; ein Drang, die Nacht in den eigenen 4 Wänden zu vollenden, egal, was der zu zahlende Preis sein möge.
Ich schleiche mich zurück zum Wagen und klemme mich hinters Steuer, der Gefahren für Leib und Leben vollends bewußt; der Risiken, die ich einzugehen gewillt bin...
Meine Tollkühnheit wird belohnt, ich komme unbescholten durch, kann die Welt auf meinem Weg beobachten, die geringen Schäden begutachten, die sich weitestgehend auf Umweltverschmutzung beschränken; die immer seltener werdenden Explosionen; die zunehmende Ruhe; die Möglichkeit, dies niederzuschreiben...

Ich habe überlebt! Ein weiteres Jahr in der Hölle des Lebens!
Ich bin betrunken! Ich schreibe Unsinn!
Und doch ist es nicht mehr als Realität...
 
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