Eintrag #26, 01.01.2006, 04:15 Uhr

Live aus dem Kriegsgebiet Teil I

Jedes Wort, daß ich schreibe ist wahr!
Wahr insoweit, als daß jede erlebte Realität, jedes Bewußtsein nur ein Modell jener Welt ist, die wir als real existierende Welt bezeichnen.
Was ich beschreibe ist somit nicht mehr als der Schatten auf der Wand von Platons Höhlengleichnis.
Und doch ist es alles wahr; so wahr wie eine Erzählung nunmal sein kann...

31.12.2005
ca. 12:00 Uhr:
Ich weiß nicht, welche Fügungen des Schicksals mich dazu auserkoren haben, aber kurz nach meinem Erwachen erreichte mit der Ruf der Redaktion:
Ich solle einen Insiderbericht schreiben über die Geschehnisse der kommenden Nacht, man habe so einen Verdacht, daß dabei eine interessante Geschichte herumkommen werde.
Nun, als Student fragt man nicht lange, wenn es darum geht, die eigenen Lebensumstände ein wenig aufzubessern, ich willigte ein und versprach, spätestens am nächsten Tag einen detaillierten Bericht der Ereignisse der kommenden Nacht abzuliefern.
Ich machte gedanklich Notizen, verglich meine Tagesplanung mit dem, was die Redaktion evtl. erwarten könnte und überschlug, inwieweit ich von der erlebten Realität abweichen könnte, um die Story ein wenig zu würzen, ihr den notwendigen Pep zu verleihen, die sie benötigte, um wirklich von Interesse zu sein.
Es war das übliche Mißverständnis, daß die Realität zu uninteressant sein könnte, um eine interessante Story liefern zu können...

13.30 Uhr:
Seit dem Tag vor meinem 23. Geburtstag lebe ich in Berlin-Neukölln, präziser in der Hermannstraße, nicht gerade das, was man als erste oder auch nur zweite Adresse in Berlin bezeichnen würde, aber die Wohnung ist spitze, die Miete billig und der Weg zur Uni nicht allzu weit und kompliziert. Soziologen würden Neukölln (besonders meine Wohngegend) wohl als Problembezirk bezeichnen: Viele Ausländer, viele Arbeitslose und ja, auch viele Studenten, angelockt eben durch jene billigen Mieten.
Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, daß ich die Flugzeuge im Anflug auf den Flughafen Berlin-Tempelhof direkt von meinem Fenster aus beobachten kann....
Vielleicht war es eben jener Wohnort, der jemanden in der Redaktion dazu veranlaßt haben mag, gerade mich auszuwählen, als es darum ging, eine Story über den Sylvesterabend zu schreiben.
Wie auch immer, einer alten Tradition der Faulheit folgend machte ich mich um etwa diese Zeit herum dazu auf, endlich die letzten Einkäufe für Sylvester, namentlich Brot und Aufschnitt für die nächsten Tage als auch Sprengmaterial für die kommende Nacht, zu erwerben.
Jedem Leser sollte Walmart ein Begriff sein. Kombiniert das mit Neukölnn, wie es oben beschrieben ist und dem Datum und der Uhrzeit und ihr bekommt eine Ahnung von dem, was mir blühte!
Aber hey, wer will sich schon beschweren, ich bekam was ich wollte und selbst ein Parkplatz unter dem Werbeschild von Walmart (welcher von den Konstrukteure mit Sicherheit niemals als Parkplatz gedacht gewesen ist) fiel mir recht leicht in den Schoß!
Was sind schon 20 Minuten an der Kasse, wenn andere Leute 30 Minuten warten müssen und man die Gelegenheit hat, gedanklich die eigenen Reportage des Tages zu formulieren?
Und so geschah es, daß zum Zeitpunkt meines Eintreffens in meiner Wohnung eine Idee Gestalt angenommen hatte; eine Idee, wie ich diesem Tag gerecht werden könnte und die einzige Lösung schien mir zu sein: Do it like a war correspondent!
Wer jemals in einer Großstadt am Sylvesterabend in einer Sozialbausiedlung unterwegs gewesen ist wird meine Motivation verstehen können!
So, here it is:

14.00 Uhr:
Ich sitze in meiner Wohnung direkt im Herzen des Krisengebietes und beobachte vom Fenster aus gespannt die Vorgänge auf der Straße. Ich sitze und sehe, ich sitze und höre, doch vor allem sitze und fühle ich! Die Stunden vor Sylvester besitzen immer eine gewisse Spannung; diese implizite Erwartung, daß alles, wirklich alles geschehen könnte.
Der Mob hat sich bewaffnet, die Luft riecht nach Gewalt und Schießpulver, jugendliche Gruppen streuen in der Gegend herum und alle paar Sekunden kracht es an irgendeiner Ecke oder ein Lichtblitz zwingt die Aufmerksamkeit plötzlich wieder in Richtung des Fensters, der nächsten Straßenecke, hin zu jener Rauchsäule, die hinter dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenecke aufsteigt...
Man überlegt, ob die Luft in Paris am Vorabend der Französischen Revolution genauso gerochen haben mag, am Vorabend der Oktoberrevolution in Rußland, am Vorabend jedweder Revolution!

16.00 Uhr:
Die Läden haben geschlossen, im Radio laufen Berichte über aufgedeckte, illegale Verkäufe und beschlagnahmte Sprengstoffe im 3-4-stelligen Kilobereich und unwillkürlich fragt man sich: Ist das nur die Spitze des Eisberges? Was geschieht wirklich da draußen?
Die Spannung scheint sich zu verstärken oder ist das nur die zunehmende Nervosität vor der eigenen Verantwortung, einen weitestgehend objektiven Bericht der Geschehnisse abzuliefern?
Die Anspannung beginnt ihren Tribut zu fordern, cih beschließe, mich kurz hinzulegen...
Cya in part II...
 
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