Wer hatte an diesem Nachmittag wen zuerst entdeckt ? Das kleine Kind mich oder ich das kleine Kind ? Und vor allen Dingen, wer reagierte zuerst und nahm Kontakt auf ? Und wie ? Viele Fragen. Das "Zentrum für vorsprachliche Entwicklung" in Würzburg könnte mir bei der Beantwortung vielleicht helfen.
Ganz in mein Buch vertieft, saß ich auf der sonnigen Bank, als ich im Unterbewußtsein das Vorbeigehen zweier Menschen wahrnahm. Eine junge Frau mit einem Kleinkind, daß gerade die ersten Gehversuche unternahm, an der Hand. Das Kind bleibt stehen, lächelt und schaut zu mir rüber während ich winke, aber es traut sich nicht zurückzuwinken. Stumm lächelnd steht es da an der Hand seiner Mutter, läßt seinen Blick nicht von mir weichen, aber ohne ein Wort, ohne einen Laut. Die Mutter: Er hat keine Scham, andere zu beobachten. Meine Antwort, das ist auch gut so, denn nur durch beobachten lernt er. Sie gehen weiter, ich sage tschüss, was aber keine Reaktion bewirkt, außer, daß der Kleine sich immer wieder zu mir umdreht.
Dann sind sie einen Augenblick aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Plötzlich tauchen sie wieder auf, aber zu dritt. Der Kleine auf dem Arm seines, wie ich annehme, Vaters, dem sie wohl entgegengegangen sind. Sofort schaut das Kind wieder lächelnd zu mir rüber. Der Vater wirft nur einen kurzen Blick in meine Richtung, während mir die Mutter schmunzelnd einen schönen Tag wünscht. Das Kind bleibt stumm, lächelt aber weiter. Dann biegen alle drei in die nächste Seitenstraße ein.
Was mag in dem Kind wohl vor sich gegangen sein ? Was mag es gedacht haben, wenn es denn schon etwas gedacht hat. Denken Kinder in dem Alter schon ? War das Schauen und Lächeln auch schon eine Art Sprache ? In der Begründung zum Institutionenpreis Deutsche Sprache 2025 steht, daß Kleinkinder auch mit Akzent weinen. Lächeln sie auch mit Akzent ? Wollte dieses Kind mir etwas sagen ? Hat es mir vielleicht sogar etwas mitgeteilt, was ich nicht verstanden habe ? In einigen Jahren würde ich es gerne noch einmal treffen und danach fragen. Es würde sich nicht mehr erinnern und mir auch keine Aufklärung über seine heutige Sprache, das Lächeln geben können. Sprache ist ja so vielfältig. Die Kindergesichter von dem japanischen KünstlerYoshitomo Nara - "Angry Girls" - Kinderdarstellungen mit bedrohlichen, trotzigen, wütenden Augen - fallen mir wieder ein.
Und jetzt lächel ich, statt zu schreiben. Ob diese Sprache bei einem alten Mann auch funktioniert ?