Eintrag #25, 23.12.2005, 21:05 Uhr

Er hat mich reingelegt!

Nein, nicht nur mich, er hat alle reingelegt!
Wer er ist?
Er ist Jorge Semprun, kommunistischer Untergrundkämpfer, KZ-Häftling in Buchenwald, Ex-Führungsmitglied der KP in Spanien, Schriftsteller.

Ein Mensch, der mE so verdammt beneidenwert genial schreibt, daß mich seine Worte immer wieder wie in einem Strudel verschlingen, hinabsaugen auf den Grund ihrer Bedeutung, mich packen und festhalten, bis ich nach Luft ringe und eine Pause einlegen muss, um weiterlesen zu können!

Und er hat mich reingelegt!
Alle Bücher, die ich bislang von ihm gelesen habe handelten von einem Thema und das ist seine Zeit in der Résistance im II. Weltkrieg, seine Zeit im KZ und die Zeit im Untergrund in Spanien im Auftrage der KP.

In seinem allerersten Buch, Die große Reise, berichtet Semprun von der 5-tägigen Fahrt nach Buchenwald, eingequetscht in einen Güterwaggon mit mehreren Dutzend anderer Gefangener.
An seiner Seite: Der Junge aus Semprun, mit dem er sich während der Fahrt unterhält, sein Anker und Gefährte während der Reise.

Gemeinsam stehen sie die Reise durch, überleben die gedrängte Enge, die Kälte, den Hunger, den Durst der Reise.
Und dann, plötzlich, am Ende dieser Reise, ohne ersichtlichen Grund, während man sich als Leser beinahe freuen will, daß sie es geschafft haben ("geschafft" und zwar lebendig im KZ anzukommen...), da stirbt der Junge aus Semur plötzlich.
"Laß mich nicht alleine..." haucht er noch Semprun ins Ohr, dann verlischt sein Lebenslicht.

Während ich diese Szene las befand ich mich gerade in einer Übung zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Schon allein die unglaubliche Banalität und Langweiligkeit dieses Faches fordern einen geradezu heraus, sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Ich hatte es nicht mehr ausgehalten, habe gierig und benommen weitergelesen, die letzten Seiten in mich aufgesogen und plötzlich war der Junge aus Semur einfach tot, gestorben in einem Güterwaggon vor den Toren von Buchenwald.

Derweil erklärte der Übungsleiter vorne gerade etwas über das Gesamtwirtschaftliche Sparen und auf welches Konto Investitionen verbucht werden sollten.
Ich wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihn (und die anderen Studenten, die mehr oder weniger interessiert zuhörten) angeschrien, was er sich dabei denke, derartig unwichtigen und banalen Schrott zu lehren angesichts der Tatsache, daß der Junge aus Semur tot war. Tot seit über 60 Jahren immerhin, nichtsdestotrotz hatte dieser Tod für mich keinerlei Brisanz und emotionale Härte eingebüßt, hatte ich doch gerade eben erst von diesem Tod erfahren.

Damals schrieb ich in mein Notizbuch, welches ich fast immer bei mir trage:
"Kennst du das Gefühl, wenn die eigenen Gedanken so schwer sind, daß sie dein Bewußtsein mit sich ziehen hinab in die Tiefen des eigenen Körpers, fern von der Welt, wie in einen Brunnen?
Und das nur, weil der Junge aus Semur tot ist, tot seit 62 Jahren und doch habe ich erst eben davon erfahren und empfinde es darum, als wäre es gerade eben erst passiert. Tot seit 62 Jahren und doch bin ich vermutlich der Einzige im gesamten Saal, der davon weiß und auch ich habe es eben erst erfahren.
Dabei sollten wir alle wissen, daß der Junge aus Semur tot ist und wir alle sollten wissen, wie er gestorben ist."


Man merkt: Ich war fertig!

Und jetzt, kurz vor Ende seines Buches Schreiben oder Leben, welches ich im Moment lese, offenbart Semprun ziemlich lapidar, daß es den Jungen aus Semur niemals gegeben hat.
Ja, Semprun war in jenem Zug, er war in Buchenwald, er hat all das erlebt, von dem er erzählt. Aber den Jungen aus Semur hat er erfunden. Aus dem Hut gezaubert wie ein Kaninchen.
Es hatte mich immer verwundert, warum der Junge damals einfach so plötzlich gestorben ist, aber ich hatte es nicht hinterfragt, hatte nichteinmal die Möglichkeit erwogen, es könne sich um eine erfundene Persönlichkeit handeln!

Und jetzt fühle ich mich irgendwie hintergangen.
Dass der Junge nur erfunden ist ändert nichts an der Aussagekraft Sempruns Bücher, ändert nichts an der Brillianz seiner Sprache und der Botschaft seiner Bücher.
Aber es verändert beinahe alles, was ich fühle, wenn ich an seine Erzählung zurückdenke.
Nein, eigentlich ändern sich die grundlegenden Gefühle nicht. Ich habe schon an anderer Stelle den Tod fiktiver Personen betrauert und niemals hat die Tatsache, daß es diese Menschen nicht gegeben hat etwas an meinen Gefühlen geändert.
So auch diesmal nicht.
Für denjenigen der nicht dabei war macht es eh keinen Unterschied, ob er einen realen Tod erzählt bekommt oder einen erfundenen, so lange die Erzählung gut ist.
Und trotzdem bleibt doch eine gewisse Empörung zurück, eine innere Aufgewühltheit und Verblüffung.
Er hat mich reingelegt...
 
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