Es war einmal, in einem Wald, den die Menschen längst vergessen hatten, ein Einhorn namens Lyra. Lyras Fell war so weiß wie der erste Schnee, und ihr Horn schimmerte in allen Farben des Regenbogens, wenn die Sonne es küsste. Sie lebte zwischen uralten Eichen und plätschernden Bächen, immer auf der Suche nach den leisen Melodien, die der Wind durch die Blätter sang.
Doch seit Monden schon war eine seltsame Stille über den Wald gefallen. Die Lieder des Windes klangen traurig, und Lyra spürte eine Leere, die tiefer ging als die kälteste Schlucht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt den fröhlichen Hufschlag eines Artgenossen gehört oder das sanfte Leuchten eines anderen Horns in der Ferne gesehen hatte.
Eines Tages, als die Traurigkeit sie fast zu erdrücken drohte, beschloss Lyra, sich auf eine Reise zu begeben. Sie wollte die anderen finden, ihre Familie, ihre Herde. Vielleicht hatten sie sich in den hohen Norden aufgemacht, zu den schneebedeckten Gipfeln, wo die Luft nach Eiskristallen schmeckte.
Wochenlang wanderte sie. Sie durchquerte die schimmernden Ebenen von Atheria, wo einst Hunderte von Einhörnern im Mondschein getanzt hatten. Doch die Ebenen waren leer. Sie stieg hinauf in die Nebelberge von Lior, wo ihre Art die Wolken streifte. Nur Stille antwortete ihr auf ihren Ruf, der sich in den Felsen brach und verhallte.
Die Hoffnung begann in ihr zu welken, als eine winzige, zitternde Stimme sie aus ihren Gedanken riss. Es war ein junger Fuchs, der zusammengekauert unter einem Farnblatt saß.
"Du... du bist eines von den Leuchtenden", flüsterte der Fuchs mit großen Augen.
Lyra neigte ihren Kopf. "Ich suche meine Artgenossen. Weißt du, wo sie sind?"
Der Fuchs senkte den Blick. "Meine Großmutter hat Geschichten erzählt. Von großen Herden, die das Land vor langer Zeit durchstreiften. Aber die Menschen... sie kamen mit Eisen und Feuer. Sie jagten das Licht in euren Hörnern, denn sie glaubten, es würde ihnen Macht und ewiges Leben schenken."
Lyras Herz krampfte sich zusammen. Die Erinnerung kam wie eine Flutwelle zurück – nicht als klare Bilder, sondern als Gefühl: Schreie, die in der Nacht erstickten, das Erlöschen unzähliger Lichter, die panische Flucht.
"Die Großmutter sagte", fuhr der Fuchs fort, "dass sie das letzte Leuchten vor vielen, vielen Menschenaltern gesehen hat. Hoch im Norden. Ganz allein."
Die Wahrheit traf Lyra mit der Wucht eines Felssturzes. Sie war nicht nur allein. Sie war die Letzte. Das letzte Einhorn in einer Welt, die ihre Art vergessen hatte. Die Stille war kein Zufall; sie war ein Grabmal.
Eine unbeschreibliche Trauer erfüllte sie. Sie warf den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus, der nicht aus ihrer Kehle, sondern aus ihrer Seele zu kommen schien. Es war ein Klagen um all die Verlorenen, ein Lied der Einsamkeit, das so rein und schmerzerfüllt war, dass die Sterne am Himmel zu zittern schienen.
Doch als ihr Schrei verklang, geschah etwas Seltsames. Aus der Tiefe ihrer Verzweiflung stieg eine neue, ruhige Gewissheit. Sie war die Letzte. In ihr lebte die ganze Geschichte ihres Volkes, ihre Magie, ihre Lieder, ihre ganze Essenz. Ihr Dasein war kein Zufall, sondern eine Pflicht.
Sie kehrte nicht in den alten Wald zurück. Stattdessen ging sie dorthin, wo die Welt am lebendigsten war – in die Herzen der unberührten Natur. Sie wanderte durch Wälder, über Hügel und entlang von Küsten, und wo immer ihre Hufe den Boden berührten, sprossen Blumen in Farben, die es nie zuvor gegeben hatte. Ihr Horn, das einst nur im Sonnenlicht schimmerte, leuchtete nun von selbst, ein sanfter Mond, der die Dunkelheit erhellte.
Sie wurde zur Hüterin der Magie, die die Welt fast verloren hätte. Die Tiere kamen zu ihr, um Trost und Führung zu finden. Die Bäume neigten sich ihr zu, und die Quellen plätscherten klarer in ihrer Gegenwart.
Lyra war immer noch allein, aber sie war nicht mehr einsam. Sie trug die Erinnerung an alle anderen in sich, und solange sie lebte, war die Magie der Einhörner nicht ausgelöscht. Sie war das Ende einer Ära und der leise, unsterbliche Anfang einer neuen – ein einsamer, strahlender Bewahrer der Wunder in einer Welt, die das Wunderbare so leicht vergaß.