Irgendwie fühlte ich mich mit einem Detail meines Aussehens plötzlich nicht mehr wohl. Also drehte ich, ohne lange zu überlegen, den Schlüssel in der Wohnungtür um und machte mich auf den kurzen langen Weg in die Rosenstraße. Es war Freitag nachmittag als ich vor dem Laden meines Friseurs stand. Im selben Moment öffnete ein junges Mädchen, eine Friseuse, die Tür, um einer älteren Dame mit Rollator den Weg freizumachen. Und so ließ sie mich anschließend, ohne Rollator, hineinschlüpfen. Ein Blick in die Runde zeigte mir, daß ich im Moment der einzige Kunde war. Super, gleich die Jacke ausgezogen und mich auf einem Stuhl niedergelassen. Kurze Erklärung meinerseits, wie sie sich mit meiner Haarpracht beschäftigen solle. Kein Problem, war ihr Kommentar, um, nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte, hinzuzufügen: Die sind aber wirklich schon ganz schön lang. Dies allerdings in einem Ton, der vermuten ließ, daß sie lange Haare nicht besonders toll findet. Ob nur beruflich oder auch privat kann ich nicht sagen.
Auf jeden Fall machte ich es mir bequem und versuchte, im Spiegel vor mir, mich zurechtzufinden. Im Vordergrund ich, dahinter die junge Dame. Da blieb mein Blick aber sofort an einem, nein zwei bestimmten Körperteilen hängen. Nein, nicht was Du jetzt denkst. Es waren ihre Arme, die ihre Hände in Bewegung setzten, um Kamm und Schere die notwendige Arbeit verrichten zu lassen. Diese Arme zeigten mir nämlich ein ganzes Bilderbuch in welches ich mich vertiefen konnte, während sie bemüht war, alles irgendwie zu ordnen und zu kürzen. Eigentlich habe ich ja immer ein Buch in der Tasche, um überall wo ich sitze, lesen zu können. Hier war das nicht nötig, weil mir Geschichten in Form von Bildern zur Betrachtung - eine andere Form des Lesens - dargeboten wurden.
Gerade war ich beim rechten Arm oben angekommen, als sie mir mit Hilfe eines kleinen Spiegels meinen Hinterkopf zeigte und die Frage stelle, ob es so in Ordnung sei. War es eigentlich, aber ich konnte das Buch doch jetzt nicht einfach zuklappen, ohne die Bilder des linken Arms betrachtet zu haben. Und bis zum nächsten Besuch hätte ich vergessen, wo ich stehengeblieben war. Außerdem war gar nicht sicher, daß sie dann wieder hinter mir stehen würde, vielleicht dort gar nicht mehr beschäftigt war, denn das Personal wechselt dauernd. Jedenfalls gab ich ihr zu verstehen, daß sie ruhig noch etwas kürzen könne. So konnte ich wenigstens noch einen flüchtigen Blick auf den zweiten Teil des Buches werfen. Am Ende mußte ich allerdings feststellen, daß die ganzen Bilder irgendwie keinen zusammenhängeden Text ergaben und manches so einfach gar nicht zu entziffern war. Lag vielleicht auch daran, daß sie sehr schnell arbeitete und mir so einzelne Teile immer wieder davonliefen. Als sie nach wenigen Minuten ihre Frage erneut stellte, habe ich es allerdings für gut befunden, denn ich wollte es an meinem Hinterkopf ja nicht zu einer weiteren Glatze kommen lassen.
Im Nachhinein stellte sich mir allerdings die Frage, welche Gedanken einer Friseuse durch den Kopf gehen, wenn sie sich mit den Haaren einer fremden Person beschäftigt. Entstehen dabei auch kleine Geschichten ? Sollte ich sie dort erneut treffen, werde ich versuchen eine Unterhaltung in diese Richtung zu lenken. Dafür benötige ich dann aber sicher noch längere Haare. Und vielleicht gibt es beim nächsten Besuch bei ihr schon eine Fortsetzung.
Ja, die Zeiten ändern sich. Früher mußten Friseure ihre Kunden immer mit irgendwelchen Geschichten aus dem Leben unterhalten. Heute zeigen sie nur noch ihre Arme und der Kunde ist beschäftigt. Vielleicht sollte ich meine Geschichten demnächst auf meinen Hinterkopf tätowieren lassen, dann hätte die Dame beim Schneiden auch was zu lesen. Das wäre dann so etwas wie künstlerische Intelligenz.
Jetzt verlasse ich diesen haarigen Ort besser ganz schnell.