Es war an einem rauhen, trüben Spätherbstmorgen. Da packte der Maler Herbst seinen Pinsel und seine Palette in den Ranzen und sagte: "Wie schade, daß alles so vergänglich ist auf dieser Welt! Nun muß auch ich schon wieder Abschied nehmen. Äpfel, Birnen und Pflaumen, die ich so lustig bunt angemalt habe, sind abgeerntet worden. Und die hübschen goldenen, braunen und roten Blätter, mit denen ich mir soviel Mühe gab, werden von der garstigen Pustefrau abgerissen. Kahl und öd sieht die Welt aus. Selbst meine letzten Blumenkinder, die standhaften Astern, senken ihre Köpfchen müde herab. Aber es ist halt so - jedes Ding hat seine Zeit, und wenn sie verstrichen ist, heißt es scheiden!"
"Nicht so mißmutig, lieber Malersmann, Ihr seid doch von Natur aus ein fröhlicher Geselle", sagte die alte Nebelfrau, die mit ihrem Spinnrocken nahe am Bahndamm saß und weiße silbrige Fäden über das Land hinausschickte.
"Du hast gut reden", maulte der Herbst. "Aber mir fällt das Fortgehen wirklich sehr schwer. Nichts ist übriggeblieben von meiner Pracht, und dabei bin ih doch wohl unter all den vier Jahreszeiten der größte Künster!"
"Das bis du wahrlich", tröstete die Nebelfrau. "Doch sieh, auch für Frühling und Sommer mußte es ein Scheiden geben. Dabei verstanden auch sie ihr Handwerk. Und dem Winter wird es eines Tages auch so ergehen."
Da seufzte der Herbst: "Sie ließen aber alle etwas Hübsches zurück, das ihnen beim Abschied ein Lebewohl zuwinkte, der Frühling die Maiglöckchen und Pfingstrosen, der Sommer die Nelken, leuchtend Sonnenblumen, üppige Blumenwiesen und die schwellenden Früchte - und selbst der Winter wird wenigstens von den tapferen Schneeglöckchen heimgeleitet. Nur ich bin ganz einsam trotz aller Mühe und Plage, die ich mir gemacht habe!" Da kicherte die Nebelfrau:
"Du bist töricht, lieber Malersmann, schau dich nur mit offenen Augen um. Auch für dich ist ein Blumenkind da, das dir die Treue hielt!"
Ungläubig blickte der Herbst auf. Im selben Augenblick entdeckte er, daß die Erde kurz vor seinen Füßen lebendig wurde. Sie warf einen winzigen Hügel auf, wie wenn ein vorwitziger Maulwurf am Werk sei. Aber schon brach aus dem Erdhügel ein frischer, saftiger Blumenstengel, an dem ein alllerliebstes Blumenkind im zartlila Röckchen schaukelte.
Zuerst war der Herbst sehr erschrocken und rief: "Du vorwitziges Ding, was soll das heißen? Die Pustefrau wird dir dein Röckchen zerzausen, der Sturmwind deinen Stengel brechen und die Kälte dich elend machen. Hast du die Zeit vergessen, die euch zarten Blumenkindern beschieden ist?" Da lachte die kleine Blume: "Nur keine Aufregung, lieber Malersmann. Ich bin halt ein Trödelblümchen. Die Weckuhr des Frühlings, der meine Verwandten, die Krokusse, weckte, und den Einzug des Sommers habe ich tatsächlich verschlafen. Ich habe im Traum gedacht: "Jetzt blühen so viele Blumen überall, da merkt es sicherlich niemand, wenn du noch ein Nickerchen machst."
Doch jetzt sind zwei Tränen aus deinen Augen auf mich gefallen und ließen mich munter werden. Sieh, Maler Hebst, zwar bin ich ein vorwitziges Ding, das die Zeit verpaßte, aber dafür blühe ich auch nun ganz allein, dir zur Freude und zum Trost!"
Behutsam streichelte der Herbst das Blümchen und sagte:"Vergib, daß ich dich schalt, du unerschrockenes Blumenkind. Du sollst fortan immer dann blühen, wenn ich heimkehre ins Wetterhaus, und ich will dich Herbstzeitlose nennen!"
"Welch hübscher Name", lobte die Nebelfrau, und auch das zartlila Blümchen fand ihn wunderschön. Es gab Maler Herbst mit seinem Blumenglöckchen das Abschiedgeläut.
Und so ist es geblieben, Jahr für Jahr. Stets dann, wenn der Herbst die Erde verläßt, findet man auf den Wiesen, in den Wäldern und auf den Bahndämmen als letztes Blumenkind die kleine Herbstzeitlose.