Verfassungsgericht verlangt neue Hartz-IV-Sätze

Karlsruhe (dpa) - Die Bundesregierung muss die Regelsätze für alle gut 6,5 Millionen Hartz-IV-Bezieher neu berechnen und möglicherweise höhere Sozialausgaben einplanen. Die bisherige Berechnungsmethode verstößt gegen das Grundgesetz, entschied das Bundesverfassungsgericht am Dienstag.

Besonders für Kinder in Hartz- IV-Familien könnte es mehr Geld geben. Die Bundesregierung sagte eine rasche Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze zu, ließ aber offen, ob Bezieher von Arbeitslosengeld II nun generell höhere Leistungen erwarten können. Das Gericht hatte die Höhe der Regelsätze nicht beanstandet.

Das Urteil vom Dienstag wurde allgemein begrüßt. Sozialverbände, Gewerkschaften und Opposition sprachen von einer «schallenden Ohrfeige». Sie gehen davon aus, dass die Regelsätze steigen.

Die noch von der rot-grünen Bundesregierung eingeführte Berechnungsbasis ist nach Ansicht der Karlsruher Richter nicht nachvollziehbar. Die Kalkulation sei intransparent und orientiere sich zu wenig an der Realität. Das Gericht forderte den Gesetzgeber bis zum 31. Dezember zu einer Neuregelung auf.

Damit muss eine der größten Sozialreformen in der deutschen Nachkriegsgeschichte erheblich nachgebessert werden. Erfolgreich geklagt hatten drei Familien aus Bayern, Hessen und Nordrhein- Westfalen. Bis zur Änderung bleibt die bisherige Regelung gültig. Hartz-IV- Empfänger können aber von sofort an einen besonderen Bedarf geltend machen, wenn dieser durch die bisherigen Zahlungen nicht gedeckt ist. Ein Beispiel dafür wäre der Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung. Allein durch diese Zahlungen für den besonderen Bedarf drohen dem ohnehin schwer gebeutelten Staat in diesem Jahr höhere Ausgaben für Hartz IV.

Besonders die rund 1,7 Millionen Kinder unter den mehr als 6,5 Millionen Hartz-IV-Beziehern sollten nach dem Urteil bessergestellt werden. «Kinder sind keine kleinen Erwachsenen», monierten die Richter. Sie rügten auch, dass die Ausgaben für Bildung und das gesellschaftliche Leben ausgeklammert sind - etwa für Internetnutzung, Kino und Theater oder die Mitgliedschaft im Sportverein. Für jüngere Kinder sind derzeit 60 Prozent vom Regelsatz für Erwachsene und damit 215 Euro vorgesehen.

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) begrüßte das Urteil als Chance für Kinder. Der in der bisherigen Regelung vernachlässigte Bereich von Bildung und Schulbedarf müsse jetzt in den Vordergrund rücken. Familienministerin Kristina Köhler (CDU) sagte, die Regierung werde «schnellstmöglich» daran gehen, die Vorgaben umzusetzen.

Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte: «Ob die Hartz-IV- Sätze jetzt steigen, lässt sich nicht sagen.» Es könne sogar zu Reduzierungen kommen. FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger erwartet «überschaubare Folgen» des Urteils. Andere Koalitionsprojekte wie Steuerentlastungen würden dadurch nicht gefährdet.

Für die SPD ist mit dem Urteil auch die Mindestlohn-Debatte neu eröffnet. Es könne nicht sein, dass jemand ohne Arbeit mehr Geld bekommt als jemand, der den ganzen Tag einer Arbeit nachgeht, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann. Der DGB erneuerte seine Mindestlohn-Forderung. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) rief nach einer Grundsatzreform. «Hartz-IV war der größte Murks seit der deutschen Einheit», sagte Seehofer in München. «Das muss jetzt einer Generalrevision unterzogen werden.»

Der designierte Vorsitzende der Linken, Klaus Ernst, geht von einer Erhöhung der Regelsätze aus. Aus Sicht von Grünen- Fraktionschefin Renate Künast läuft es auf den Verzicht auf die Kopfpauschale für Kassenmitglieder und ein Aus für Steuerentlastungen für Besserverdiener hinaus - beides FDP-Projekte.

Nach Ansicht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes führt das Urteil «zwangsläufig zu deutlich höheren Regelsätzen». Je nach Altersgruppe müssten sie um bis zu 20 Prozent angehoben werden. Der Sozialverband SoVD sieht die Chance für eine sozialpolitische Korrektur. Nach Ansicht der Kommunal-Verbände führt eine Neuregelung nicht automatisch zu höheren Sätzen. Das «Lohnabstandsgebot» müsse beachtet werden.

Die Berechnung muss laut Urteil nun in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf neu erfolgen. Geschätzte Abschläge «ins Blaue hinein» seien nicht angemessen. Da die Grundlage bei den Regelsätzen für Erwachsene nicht stimme, schleppe sich der Fehler bis zur Berechnung der Kinder-Sätze durch.

Bei der neuen Berechnung kann der Gesetzgeber laut Urteil an dem Statistikmodell festhalten, das er bislang gewählt hat. Grundlage könnten die Ergebnisse der Einkommens- und Verbraucherstichprobe 2008 sein, die das Statistische Bundesamt im Herbst 2010 vollständig vorlegt. Bei Kindern müssten sich die Regelsätze an deren speziellen Bedürfnissen orientieren, betonte das Gericht. Es bestehe die Gefahr, dass sie später nicht in der Lage seien, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Dies sei mit dem Prinzip des Sozialstaates nicht vereinbar.

Der Hartz-IV-Regelsatz für Erwachsene beträgt derzeit 359 Euro. Kinder und Jugendliche erhalten nach Alter gestaffelte Leistungen, und zwar ausgehend vom Regelsatz: Unter sechs Jahren gibt es 60 Prozent (215 Euro), unter 14 Jahren 70 Prozent (251 Euro), darüber 80 Prozent (287 Euro).

Prozesse / Arbeitsmarkt / Soziales / Kinder
09.02.2010 · 17:35 Uhr
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