Gespräch: «Europa muss die Politische Union wagen»

Berlin (dpa) - Die Euro-Schuldenkrise ist eine Zerreißprobe für die Europäische Union. Ein Rettungsplan aus der Misere fehlt aber bislang. Der bekannte Historiker Heinrich August Winkler fordert mehr Integration.

Im dpa-Interview beschwört der Autor des vielbeachteten Werks «Der lange Weg nach Westen» die Politische Union. Ohne eine politische Einigung, sei die Währungsunion zum Scheitern verurteilt.

Herr Winkler, derzeit ist die Euro-Schuldenkrise allgegenwärtig. Steht die Europäische Union auf der Kippe?

Winkler: «Soweit würde ich nicht gehen. Wir müssen uns aber darauf vorbereiten, dass die EU eines Integrationsschubs bedarf - und sich eines Tages vom Staatenverbund in ein föderatives Gebilde wandeln muss. Das ist ein Fernziel, aber wir dürfen die Finalität des europäischen Einigungsprozesses nicht länger verdrängen.»

Warum glauben sie das?

«Es gibt einen Zusammenhang zwischen der jetzigen EU-Krise mit der deutschen Einheit im Jahr 1990. Bei den Verhandlungen zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten François Mitterrand konnte Bonn seine Position nicht durchhalten, die darin bestanden hatte, eine Politische und eine Währungsunion simultan zu verwirklichen. Die Politische Union und die Währungsunion wurden entkoppelt und in getrennten Verhandlungen beraten. Das endete dann im Vertrag von Maastricht, der aber nur die Währungsfrage umfassend regelt. Die Politische Union blieb auf der Strecke.»

Die Finanzwelt fordert, zum Maastricht-Vertrag zurückzukehren. Danach dürfen vor dem Bankrott stehende Banken und Staaten nicht mehr auf EU-Hilfe hoffen. Was halten Sie davon?

Winkler: «Sparauflagen müssen verbunden werden mit einem Wettbewerbsprogramm für schwache Länder. Es ist unrealistisch anzunehmen, dass man die Probleme der Schuldnerländer löst, indem man ihnen immer mehr Geld zuschaufelt. Europa muss die Politische Union wagen, die zugleich Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion ist.»

Ist die Politische Union zurzeit überhaupt noch realistisch?

Winkler: «Es werden vermutlich nicht alle 27 Mitglieder der EU bereit sein, den Schritt in Richtung mehr Integration zu gehen. Dies werden zunächst wohl nur die 17 Euroländer tun können, aber sie müssen offen sein für alle, die mehr europäische Einheit wollen. Ich finde es übrigens bemerkenswert, das heute gerade von Polen die wichtigsten Impulse für den europäischen Einigungsprozess ausgehen. Von Polen kommen mehr Visionen über die künftige Gestalt der Union als von dem vielzitierten Tandem Deutschland-Frankreich.»

Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?

Winkler: «Berlin wie Paris betreiben eine eher situationistische Politik des "von Fall zu Fall Fortwurstelns". Die ist dem Projekt Europa so wenig angemessen wie eine Politik, die glaubt, man könne durch die Kraft des Willens Berge versetzen. Wir brauchen eine konzeptionelle Politik, die über den Tag hinaus denkt und vom Imperativ der politischen Einigung ausgeht - ohne diesen Willen wird die Währungsunion scheitern.»

Was fehlt Europa vor allem?

Winkler: «Ein Wir-Gefühl, dass vom Polarkreis bis zur Peleponnes, von Lissabon bis Lodz reicht. Ein Wir-Gefühl von Karelien bis Kurdistan kann ich mir aber nicht vorstellen.»

Geht es ans Eingemachte, ist vom europäischen Geist nichts zu spüren?

Winkler: «Diese Beobachtung ist nicht weit hergeholt. Wir erleben immer wieder Politiker, die nach dem Motto handeln: Positive Leistungen gehen auf unser Konto zurück, alle Unannehmlichkeiten kommen aus Brüssel. Damit kommen wir aber nicht weiter.»

Wie lässt sich die Euro-Schuldenkrise historisch einordnen?

Winkler: «In der Vergangenheit gab es Staatenbünde. Die EU ist mehr als ein Staatenbund und weniger als ein Bundesstaat. Sie ist ein Gebilde dazwischen, da helfen historische Parallelen nicht weiter. Die Währungsunion von Ländern unterschiedlicher wirtschaftlicher und finanzieller Leistungskraft macht die Sache so schwierig.»

Zu den Wackelkandidaten zählte von Anfang an Griechenland. Trotzdem kam das Land in die Eurogruppe. Ein Fehler?

Winkler: «Natürlich war die Aufnahme Griechenlands ein Fehler, der auf eine ungeheure Leichtfertigkeit der damaligen Akteure zurückzuführen ist. Die hielten sich an die Maxime: Wir hinterfragen die Angaben nationaler Statistikämter gar nicht erst. Alle, die sich einigermaßen mit Griechenland auskannten, wussten, dass die Daten aus Athen nicht stimmen konnten.»

Sollte man Griechenland fallen lassen - wie von Ökonomen gefordert?

Winkler: «Das wäre Eskapismus. Wir müssen begreifen, dass Hilfen nicht nur Opfer der Geberländer sind, sondern es auch in unserem ureigensten Interesse steht, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit schwacher Mitgliedsstaaten fördern. Das muss mit der Überprüfung der bisher verfolgten Wirtschafts-, Finanz-, Steuerpolitik einhergehen.»

Dann müsste sich also Schuldnerländer wie Griechenland auf Einschnitte ihrer Souveränität einstellen?

Winkler: «Das geschieht ja bereits - wenn auch nur auf Zeit. Langfristig müssen diese Länder aber zu voll handlungsfähigen Teilnehmern werden wie die Geberstaaten.»

Welche Rolle sollte Deutschland in diesem Prozess übernehmen?

Winkler: «Deutschland ist die stärkste Volkswirtschaft in der EU und hat darum eine besondere Verantwortung, um die es sich nicht herummogeln kann. Der polnische Botschafter Marek Prawda hat kürzlich gesagt: "Wir müssen den Deutschen Mut machen, sich ihrer Verantwortung für Europa zu stellen." Vom Weimarer Dreieck - Frankreich, Deutschland Polen - können wichtige Impulse ausgehen.»

EU / Finanzen
17.07.2011 · 09:40 Uhr
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