Analyse: Bescheidenes Bildungspaket gegen Hartz-IV-Karrieren

Berlin (dpa) - Sozialverbände und Opposition kritisieren nicht nur die fünf Euro mehr beim Hartz-IV-Regelsatz als unzureichend. Auch das Bildungspaket halte bei weitem nicht das, was von der Leyen mit ihrer Chipkarte ursprünglich für die betroffenen Kinder in Aussicht gestellt habe.

Seit zehn Jahren belegt die PISA-Forschung mit jeder Studie erneut: In kaum einem anderen Industriestaat der Welt ist der Bildungserfolg von Jugendlichen so abhängig von der sozialen Herkunft wie in Deutschland. Bildungsforscher sprechen inzwischen von regelrechten «Hartz-IV-» oder «Sozialgesetzbuch-Karrieren». Leben die Eltern dauerhaft von «Stütze», ist das Scheitern der Kinder im Bildungssystem in der Regel programmiert.

Das Bundesverfassungsgericht stellt dazu in seinem Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar mit schnörkelloser Sprache fest: Ohne hinreichende staatliche Unterstützung besteht für diese Kinder die Gefahr, dass sie in ihren «Möglichkeiten eingeschränkt werden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können».

Dabei geht es den Richtern um mehr als nur um Schulmaterialien wie Bücher, Hefte oder Taschenrechner. Vielmehr gesteht das Gericht auch Kindern von Hartz-IV-Beziehern ein eigenständiges «menschenwürdiges Existenzminimum» zu - und damit ein Teilhaberecht am gesellschaftlichen Leben Gleichaltriger. Das heißt Teilhabe am Schulmittagessen und Klassenfahrten, aber auch Teilhabe an Sport und Spiel und außerschulischen kulturellen Aktivitäten wie Musikunterricht oder Vereinsleben.

Rund 1,7 Millionen der unter 18-Jährigen in Deutschland werden in Familien groß, in der die Eltern ausschließlich von Hartz-IV- Unterstützung leben. 1,1 Millionen davon sind Schüler. Rechnet man die Kinder der sogenannten Aufstocker und Geringverdiener hinzu, so sind laut dem jüngsten Bildungsbericht von Bund und Ländern insgesamt 3,4 Millionen der unter 18-Jährigen von Armut bedroht.

Mit ihrem Vorstoß für einen elektronischen Bildungschip hatte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) vor Wochen hohe Erwartungen geweckt: Auch für die Kinder der Ärmsten in dieser Gesellschaft sollte ausreichend Geld für Nachhilfe da sein, zum Beispiel für Instrumentenlernen und Musikunterricht, Museumseintritt oder Schwimmbad und Sportverein. Doch gleich, ob nun diese Hilfen nun per Chip oder klassisch per Gutschein oder Antrag abgewickelt werden: Das am Montag präsentierte Bildungspaket fällt wesentlich bescheidener aus, als es die Ankündigungen zunächst vermuten ließen.

Pauschal 10 Euro monatlich soll nach dem Gesetzentwurf jedem Jugendlichen aus einer Hartz-IV-Familie für diese außerschulischen Aktivitäten zur Verfügung stehen. Über notwendigen Nachhilfeunterricht, der dann vom Jobcenter bezahlt werden kann, entscheidet die Schule. Ähnlich ist es bei den Kosten für Klassenfahrten. Bietet die Kita oder die Ganztagsschule ein warmes Mittagessen an, übernimmt der Bund den Betrag, der über einen Euro Eigenanteil hinausgeht.

Das bisher schon vom Bund bezahlte jährliche 100-Euro- Schulbedarfspaket für Lernmaterial wird künftig gesplittet: 70 Euro gibt es im ersten Schulhalbjahr, 30 Euro im zweiten. Hiervon sollen nach dem Willen des Arbeitsministeriums nicht nur Schüler aus Hartz- IV-Familien profitieren, sondern alle Kinder von Geringverdienern, allerdings mit entsprechenden Abschlägen.

480 Millionen Euro hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) gleich nach dem Verfassungsurteil vorsorglich für das Bildungspaket in einem Sonderhaushalt geparkt. Abgezwackt wurde das Geld aus den 12 Milliarden, die der Bund laut Koalitionsvertrag bis 2013 mehr für Bildung und Forschung ausgeben will. Das Schulbedarfspaket, das künftig Schulbasispaket heißen soll, ist bereits seit der großen Koalition im Haushalt des Arbeitsministerium mit 125 Millionen Euro ausgewiesen. Neu aufbringen - und damit an anderer Stelle im Sozialetat einsparen - muss von der Leyen rund 120 Millionen Euro für das Mittagessen.

Wegen der geplanten Bildungshilfen muss von der Leyen ohnehin noch den Schulterschluss mit den Ländern suchen. Die SPD-geführten Länder werden aller Voraussicht nach nicht nur wegen der aus ihrer Sicht dürftigen 5-Euro-Erhöhung beim Regelsatz, sondern auch wegen des Bildungspaketes den Vermittlungsausschuss anrufen. Der Bildungschip, der nicht nur bei der SPD, sondern auch bei der CSU auf äußerste Skepsis stieß, ist im Gesetzentwurf nur noch als Option ausgewiesen.

Doch die Zeit eilt. Das neue Gesetz soll nach dem Willen der Verfassungsrichter zum 1. Januar greifen. Dazu müsste es aber bei der letzten Bundesratssitzung in diesem Jahr am 17. Dezember die Zustimmung der Länder erhalten. Das gilt als unwahrscheinlich.

Gleichwohl zeigte sich von der Leyen trotz der heftigen Kritik am Montag zuversichtlich. Sie halte es mit Johann Wolfgang von Goethe: «Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen.»

Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Soziales / Arbeitsmarkt
27.09.2010 · 22:37 Uhr
[3 Kommentare]
 
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