Regie: Volker Koepp
Darsteller: ?????
Laufzeit: 110min
FSK: ab 12 Jahren
Genre: Dokumentation (Deutschland)
Verleih: Salzgeber & Co. Medien
„Berlin – Stettin“ war ein Kinderspiel, das Volker Koepp mit Freunden nach dem Krieg in Berlin-Karlshorst spielte. Der Name des Spiels war einprägsam, er ging ihm nie ganz aus dem Kopf. Erst später wurde ihm bewusst, dass sich mit den beiden Städtenamen eigene wichtige Lebensorte verbanden: der Geburtsort Stettin (heute das polnische „Szczecin“), Berlin als Ort der Kindheit, die Landschaft dazwischen als Drehort vieler Filme: Brandenburg, Mecklenburg, Pommern.
Stettin / Broda / Greifswald, 1944–1950
Gewidmet ist der Film Koepps Mutter, Thea Koepp. Sie war 1944 mit ihren Kindern aus Stettin nach Broda bei Neubrandenburg geflohen. Die nahegelegene Torpedoversuchsanstalt im Tollensee wird bombardiert. Mit dem Kriegsende kommen russische Soldaten. Die nach Broda geflohenen Frauen leben in Angst, auch Frau Koepp. Die Kinder müssen Vergewaltigungen und Morde mitansehen. In den 1950er Jahren sind einige am Tollensee geblieben. Volker Koepp verbringt als Kind einige Sommer dort. Seine Mutter ist mit den Kindern aber schon weiter gezogen, über Greifswald nach Berlin, in den Stadtteil Karlshorst. 2006 erreicht ein Brief den Filmemacher. Doris Krause, die als Kind das Kriegsende in Broda miterlebt hat, erinnert sich darin an Thea Koepp und ihre Kinder. Volker Koepp besucht Frau Krause in Neubrandenburg, sie liest aus ihren Tagebuchaufzeichnungen von damals.
Berlin-Karlshorst, 1950er Jahre
Der Filmemacher besucht Ursula Panneke, mit der er 1950 zusammen eingeschult wurde. Die Familien wohnten in Karlshorst, die Kinder spielten zwischen den Ruinen. Brennholz wurde gegen Kartoffelschalen getauscht, Milch gab es auf Marken. In der Nähe ist das russische Militär stationiert, den Kindern der Offiziere wird irgendwann die Schule überlassen, in der Frau Panneke noch die Ereignisse des 17. Juni 1953 erlebt. Die Panzer zur Niederschlagung des Aufstands kommen aus der Karlshorster Kaserne, Volker Koepp sieht, wie in der Dorotheastraße jemand erschossen wird.
Osten Deutschlands, 1956 bis 1989 / Zehdenick
Aufwachsen in der DDR , Erinnerungen an drei Aufstände im Osten Europas, allgegenwärtiges russisches Militär, das Gefühl, dass mit dem System „etwas nicht stimmte“. Der Student der Filmhochschule in Babelsberg gerät 1968 in Konflikt mit dem Regime. Der erste Dokumentarfilm entsteht als „Strafarbeit“, um den Ausschluss aus der Schule abzuwenden. Und Koepp findet Gefallen am Dokumentarfilm-Genre und an den Protagonisten. Immer wieder dreht er in den Landschaften Elbe und Oder, zwischen Berlin und Stettin. 1988 bis 1990 entstehen in Zehdenick die Aufnahmen für die Märkische Trilogie, Koepps letzte in der DDR produzierten Filme. Dort wurden die Ziegel für den Berliner Wiederaufbau hergestellt, Koepp erlebt mit den Arbeitern die ‚Wende‘: der Abschied vom Sozialismus, die Angst vor der Bespitzelung in der Wahlkabine, die Aussicht darauf, „jetzt mit dem Grafen Lambsdorff Brüderschaft zu trinken“. Den Ausschnitt aus dem Film von damals folgt ein Besuch in Zehdenick heute. Koepp trifft Bruno Olschewski, der bis 1990 in einer Ziegelei gearbeitet hat. Dann war Schluss, jetzt holt sich die Natur alles zurück, der Sohn ist arbeitslos. „Das gibt ja nichts mehr hier“. Wiedersehen mit den Arbeitern aus der Märkischen Trilogie. Eine „lustige Runde“. Sie sehen den Film noch mal auf einem Fernseher in der Kneipe und die Erinnerungen sind ambivalent. Die schwere Arbeit, der Alkohol, der Staub. Aber auch: die Tauschgeschäfte, die Kameradschaft. Damals hatten sie gedacht, es gäbe nichts anderes. Jetzt haben sie etwas anderes kennen gelernt und können sich ein Zurück nicht mehr vorstellen. Letzter Ausschnitt aus der Märkischen Trilogie. Eine Predigt, gefilmt am 3. Oktober 1990. Thema: Mauerfall. „Wie sehr haben wir uns das gewünscht!“
Die östlichen Landschaften
Es gibt einen Lieblingsort von Volker Koepp. Bei Gerswalde, 70km entfernt von Berlin, 70km entfernt von Sczcecin/ Stettin. Zirkelschlag um die Landschaften, die kargen Hügel aus der Eiszeit, die Niederungen der großen Ströme, die sich in die Haffs ergießen, dahinter das Meer, die Ostsee. Die Geschichte dieser Landschaft: die preußischen Provinzen, deutsche Zeit und slawische Zeit, Christianisierung, 30jähriger Krieg, Schweden und Pest, Kriege und Teilung, Entvölkerung und Neubesiedlung. Immer war Deutschland von der Elbe an „eine andere Welt“.
Koepp trifft Anetta Kahane, in Berlin geboren, Tochter jüdischstämmiger Deutscher und Kommunisten, in ihrem Sommerhaus in der Nähe von Gerswalde. Es sollte das Refugium der Mutter werden und nach ihrem Tod hat es die Tochter zuende gebaut. Der familiäre Kontext und die Schönheit der Landschaft wird seit einiger Zeit gestört von den Nachrichten rechtsradikaler Gewalt. Vier Todesopfer allein im letzten Sommer, 2002 im nahen Potzlow der Mord an Marinus Schöbel. Die Nachbarskinder treten plötzlich mit Glatzen und Springerstiefeln auf. Anetta Kahane erzählt, dass Antisemistismus und Ausländerhass in der DDR tabuisiert wurden, auf individueller Ebene gar nicht behandelt.
Die Gewalt ist nicht nur Ausdruck gegenwärtiger Verrohung – es gab sie schon in der DDR , gegenüber Ausländern, gegenüber den „Tagelöhnern“ aus dem Osten. Die Landschaften zwischen Berlin und Stettin werden immer wieder vom Menschen verändert. Windanlagen entstehen ohne Absprache mit den Bewohnern. Auf der polnischen Seite der Oder soll es bald wieder ein Atomkraftwerk geben. An der Bahnstrecke Berlin-Szczecin, vor der polnischen Grenze steht das restaurierte Schloss Wartin. Dort trifft Volker Koepp Hans-Joachim Mengel, Politikwissenschaftler und Gründer der Initiative „Rettet die Uckermark“.
Mengel wehrt sich gegen die Ignoranz der Windkraftanlagen-Betreiber gegenüber den Bewohnern der strukturschwachen Landschaft und begreift Landschaftsschutz als Menschenschutz. Als „Zugereister“ aus Nordhessen ist es ihm damit gelungen, die Stimmen vieler Menschen der Nordost-Uckermark hinter sich zu bringen. Zusammen mit seinem Kollegen Charles Elworthy nutzt er das Schloss als Kultur- und Wissenschaftszentrum.
Dessen Studenten Alexandra und Pawel erzählen von polnischem Nationalstolz und von der anti-polnischen Stimmung in Ostdeutschland. Eine „Zugezogene“ ist auch die Schauspielerin Fritzi Haberlandt, die ein verlassenes Haus in einem Dorf nahe Zehdenick gefunden und hergerichtet hat. Sie erzählt, dass jetzt die Enkel der Dorfbewohner zurückkommen und Landschaft und Dörfer neu entdecken. Fritzi Haberlandt war vierzehn, als die Mauer fiel. Seitdem hat sie sich immer wieder mit dem Thema DDR beschäftigt. Sie liest einen Monolog der Textilarbeiterin Elsbeth aus Volker Koepps Dokumentarfilm Mädchen in Wittstock (1974).
Wittstock, 1974 bis 1997
Wiedersehen mit Elsbeth in Wittstock, zum Zeitpunkt der ersten Dreharbeiten achtzehn Jahre alt, jetzt ist sie 54. Insgesamt sieben Filme hat Volker Koepp über die Mädchen und Frauen des Textilwerks OTB (Obertrikotagebetrieb) gedreht, das heute geschlossen ist. Elsbeth hat ihr bisheriges Leben in Wittstock verbracht. Sie war nach der OTB-Zeit Drogerieverkäuferin, in der Pflege und im Sozialbereich tätig, im Kaufhaus, auf dem Markt, im Tourismusbüro, war Reinigungskraft und ist seit drei Jahren bei der gleichen Firma Kundenbetreuerin. Viel Geld ist in die Herrichtung der Stadt geflossen. Gut, dass Koepp und Plenert diesmal in Farbe drehen, denn so können sie festhalten, wie schön die Stadt ist. Aber es gibt auch Probleme. Rechtsradikale Jugendliche haben den Jugendclub aufgemischt, in dem Elsbeth gearbeitet hat. Es gibt viel Frust und wenig Arbeit. Auch Renate trifft Volker Koepp wieder. Sie war im OTB Meisterin und Abteilungsleiterin, konnte sich eine politische Karriere vorstellen. Aber die Heirat kam dazwischen und später die Entlassung. Aber das Engagement ist geblieben: „Ich verkrafte den Kapitalismus heute noch nicht!“ Zuletzt hat sie als Zimmermädchen gearbeitet. „So ist das Leben – aber schön ist es doch.“ Zum Schluss die Frage an den Regisseur: „Warum hast du denn diesmal bessere Fragen gestellt?“
Schwaan / Mecklenburg, 1979
1979 porträtierte Volker Koepp in Tag für Tag die selbstbewussten Schweißerinnen Karin und Jutta in einem Kreisbetrieb für Landtechnik. Kennen gelernt hatte er sie bei einer Vorführung seines Films Gustav J. (1973), und in der Dreherei, am Fließband, hat er sie danach zum ersten Mal gefilmt. Beide trifft er nun wieder, sie leben immer noch im mecklenburgischen Schwaan. Nach der Wende haben sie im Betrieb weiter gearbeitet, bis dieser vom Hauptbetrieb abgetrennt wurde und später Konkurs anmelden musste. Nach zwei AB-Maßnahmen erhält Karin heute Erwerbsunfähigkeitsrente. Obwohl sie damals für die deutsche Einheit auf die Straße gegangen ist, ist sie heute vom Westen enttäuscht. Als Ostdeutsche fühlt sie sich abgestempelt, die Aufteilung der Löhne in Ost- und West-Tarife findet sie empörend. Nach wie vor ist sie in der Gewerkschaft aktiv, seit 1991 ist sie ehrenamtlich am Sozialgericht tätig. „Es geht dort immer ums Geld“. Für den Filmemacher setzt sie noch mal den Schweißhut auf. Karins Mutter kommt zu Besuch. Sie ist Jahrgang 1922, in Pennow/Neubrandenburg geboren. Sie war Bäuerin, hat in einer Bäckerei gearbeitet, in einer Wirtschaft und in einer Heilstätte in der Küche. Als ihr erster Mann auf dem Acker vom Blitz erschlagen wurde, musste sie mit drei Kindern von vorn anfangen. Sie freut sich, dass sie so alt geworden ist, dass sie noch was vom Westen hat. Stettin, heute Pawel und Alexander, die Studenten von Charles Elworthy, holen sich an der Stettiner Uni ihr Diplom ab. Ihre Familien begleiten sie. Pawels Vater, gebürtig aus Galizien und 1944 im Zuge der Umsiedlungsmaßnahmen Stalins nach Niederschlesien vertrieben, hätte es lieber gehabt, wenn der Sohn statt Politikwissenschaften etwas Technisches studiert hätte, für einen „richtigen Männerberuf“. Alexandras Eltern, die aus Stettin kommen, fragen nach, ob Volker Koepps Geburtshaus in ihrer Stadt noch existiert. Ein Kreis schließt sich – der Film ist wieder in Stettin angekommen.