Fabeln, Legenden, Märchen ...

Die sechs Jisos und die Strohhüte
(Fabel aus Japan)
Es waren einmal ein alter Mann und seine alte Frau. Der Mann flocht Strohhüte um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, doch die beiden lebten im Elend und so kam es einmal, dass sie am letzten Tag des Jahres kein Geld mehr für die traditionellen Neujahrskuchen hatten. Der Alte beschloss also, in die Stadt zu gehen und dort einige Strohhüte zu verkaufen. Er nahm fünf davon und machte sich auf den Weg. Die Stadt lag weit entfernt und auf dem Weg dorthin musste er eine Ebene durchwandern. Als er endlich in der Stadt angelangt war, fing er an zu rufen: "Strohhüte, wer will einen Strohhut kaufen? Die besten Strohhüte!" Die Stadt war voller Menschen, die Festtagseinkäufe machten. Sie kauften Fisch, Sake und Neujahrskuchen und eilten nach Hause. Niemand aber wollte dem Alten einen Strohhut abkaufen. Für den Neujahrstag braucht man keine Strohhüte. Als es anfing zu schneien, ging der alte Mann in der ganzen Stadt herum und bot seine Hüte an. Am Ende des Tage aber hatte er noch keinen einzigen Hut verkauft. Als sich der Alte müde auf den Heimweg machte, sah er in der Ebene einige Jiso-Statuen unter dem Schnee stehen. Schneeflocken bedeckten die Köpfe der sechs steinernen Statuen. Der gutmütige Alte dachte sich: "Bei dieser Kälte werden die Jisos frieren." Er fegte den Schnee von ihren Köpfen und setzte ihnen die Hüte auf, die er nicht verkauft hatte. Dabei murmelte er: "Diese Hüte konnte ich nicht verkaufen, aber ich bitte Euch, sie anzunehmen." Weil er nur fünf Hüte mitgenommen hatte, es aber sechs Statuen waren, schenkte der Alte dem letzten Jiso seinen eigenen Hut. "Ich bitte um Entschuldigung, dass dieser Hut nicht neu ist." sagte er und setzte seinen Weg fort. Als der alte Mann endlich heimkam, war er mit Schnee bedeckt, denn er hatte ja seinen eigenen Hut weg gegeben. Als seine Frau das sah, fragte sie: "Was ist passiert?" Der Alte antwortete: "Ich habe keinen einzigen Hut in der Stadt verkauft und auf dem Heimweg sah ich die Jisos in der Kälte stehen. Ihre Köpfe waren mit Schnee bedeckt, und so habe ich ihnen die Hüte gegeben. Weil die Hüte nicht reichten, habe ich ihnen auch meinen eigenen geschenkt." Seine Frau war sehr ergriffen. "Du hast gut getan." sagte sie. "Obwohl wir arm sind, haben wir doch ein Haus. Deshalb müssen wir zufrieden sein." So saßen beide beim Feuer. Weil sie wegen der nicht verkauften Hüte kein Geld hatten, fehlten auf ihrem Tisch die traditionellen Reiskuchen. Als es dunkel geworden war, wurden die beiden von einem Geräusch geweckt. Erst kamen die Stimmen von weitem - dann aber hörte man einen Gesang immer näher kommen: "Die Jisos haben Strohhüte vom alten Mann bekommen, wo steht das Haus der Alten, wo ist das Haus der Alten?" Der alte Mann und seine Frau wunderten sich sehr über den Gesang. Als sie danach laute Musik hörten, öffneten sie die Tür: vor der Tür lagen große Portionen Reis, Sake und Fisch, Neujahrsschmuck und warme Kimonos verschiedenster Art. Die Alten schauten sich um, um zu sehen, wer ihnen diese Dinge auf die Türschwelle gelegt haben mochte, und sahen die sechs Jisos, die sich entfernten - jeder mit einem Strohhut auf seinem Kopf. So hatten sich die Jisos mit einem Neujahrsgeschenk bei dem alten Mann für seine Wohltat bedankt.
 
Der Sperling mit der durchschnittenen Zunge
(Fabel aus Japan)
Vor grauen Jahren lebte tief im Gebirge ein altes Ehepaar. Obgleich die beiden eigentlich wenig zu einander paßten, denn der Mann hatte ein gutes, braves Gemüth, die Frau aber besaß einen zänkischen, neidischen Charakter, so hausten sie doch ziemlich einträchtiglich zusammen und waren in Ehren alt geworden. Eines Tages saß der Greis, wie er dies oft zu thun pflegte, vor seiner Hütte, und da gewahrte er rings umherschauend einen Raben, der einen jungen Sperling verfolgte. Der kleine Spatz piepte gar ängstlich, und der große Rabe schlug mit den Flügeln und war schon im Begriffe, mit seinem gewaltigen Schnabel das matte Thierchen zu tödten, als noch gerade zu rechter Zeit der gute alte Mann herzu lief und den Raben verscheuchte, der sich auch alsbald ärgerlich krächzend in die Lüfte erhob. Gutmüthig nahm der Greis den Sperling in die Hand und trug ihn vorsichtig nach Hause. Das Herz klopfte dem Thierchen so ängstlich in der Brust, daß der Alte, von Mitleid erfüllt, ihm Trost zusprach, und als er in sein Zimmer trat, da setzte er das Vögelchen in ein Bauer, in dem es sich recht bald erholte. Als es nun wieder fröhlich zwitschernd in dem Bauer umherhüpfte, da fütterte es der alte Mann mit lauter guten Sachen; auch machte er die Thür des Bauers jeden Morgen auf, damit es sich frei und nicht gefangen fühlen sollte. Der Sperling war darüber guter Dinge; er benutzte diese Freiheit und flog in der Hütte hin und her; kam aber eine Katze, eine Ratte oder sonst ein Feind in Sicht, dann flog unser Spätzlein stets in das schützende Vogelhäuschen zurück. Der Alte hatte über den kleinen Vogel eine unsagbare Freude, und wie er sah, daß derselbe aus Dankbarkeit bei ihm blieb und nicht aus der Hütte flog, da hörte er nicht auf, die Klugheit und Zahmheit des lieben Thierchens zu preisen. Seine Frau aber, die alte böse Sieben, die ärgerte sich über den Vogel und kehrte dabei so recht wieder ihren bösen Sinn heraus; sie gönnte dem niedlichen kleinen Thiere das Futter nicht, das ihr Mann ihm täglich brachte, und diesem gönnte sie wieder die Freude nicht, die er an dem Vogel hatte. Es ist doch abscheulich, daß es so manchen mißgünstigen, bösartigen Menschen gibt, der es nicht lassen kann, seinem lieben Nächsten das Leben zu verbittern. Zu diesen gehörte auch die Frau des guten alten Mannes; sie schalt und maulte fortwährend über den Vogel, und als eines Tages der Mann nicht daheim war, da ließ sie ihrem langgenährten Hasse gegen den armen Spatzen freien Lauf. Brummend verrichtete sie ihre Arbeiten im Hause und warf drohende Blicke auf den nichts ahnenden Vogel, der lustig hin und her flatterte. Sie stand gerade am Waschgefäße, in dem sie ein Gewand wusch; nachdem dies geschehen, holte sie Stärke herbei, um demselben neuen Glanz zu geben. Und siehe, da kam der Vogel herzu, setzte sich auf den Rand des Waschgefäßes und pickte ein wenig von der Stärke auf. Da aber ergriff das wüthende Weib eine Schere, packte den Vogel und wollte ihn erst umbringen; doch das Gewissen mochte ihr schlagen, und so ließ sie ihm das Leben. Aber damit er nicht mehr fressen und naschen könnte, wollte sie ihm die Zunge abschneiden. Der arme Sperling zog sein Köpfchen zurück, aber er bekam doch einen tiefen Schnitt in die Zunge und schrie laut auf vor Schmerz, so daß ihn die böse Frau losließ. Da flog er in Angst und Schrecken auf und davon, zum Hause hinaus, auf Nimmerwiedersehen. Als nach einiger Zeit der Alte heimkehrte, fragte er gleich nach seinem Liebling, und da erzählte ihm seine Frau die ganze Begebenheit und zankte ihn noch gehörig dafür aus, daß er sich um einen kleinen Vogel so anstellen könne, auf den doch gar nichts ankomme. Sie sagte, sie sei froh, daß der Spatz nicht mehr da sei, und seine Naschhaftigkeit hätte endlich einmal bestraft werden müssen. Der Alte aber war so betrübt, daß er ohne alle Scheu vor seiner bösen Frau ihr rund heraus erklärte, sie sei ein hartherziges Geschöpf und hätte den armen Vogel für sein Vergehen viel zu hart bestraft; und als er ihr so seine Meinung gesagt, da setzte er sich traurig vor die Hütte und spähte nach dem klemm Sperling, und so that er es von nun an Tag für Tag. Doch die Zeit verstrich, ohne daß das Vöglein zurückkam, und so ergab sich der Greis allgemach in sein Schicksal und gab seinen Liebling verloren. Nun begab es sich einstmals, daß der alte Mann an einem schönen, warmen Sommertage ausging und im kühlen Schatten der Bäume langsam dahin schlenderte. Ein schönes Bambusdickicht lag vor ihm, und dahin lenkte er seine Schritte. Als er nun in dasselbe eintrat, sah er plötzlich ein wunderhübsches Gärtchen, das er früher nie bemerkt. Und als er verwundert umherblickte, da gewahrte er auch ein nettes, sauberes Häuschen, und aus dem Häuschen trat ein wunderhübsches, freundliches Mädchen hervor. Dasselbe schritt durch den Garten und öffnete ihm mit herzlichem Gruße die Pforte. »Komm herein, mein lieber, alter Freund,« sprach des hübsche Mädchen, »du hast mich nun endlich wieder gefunden! Ich bin dein kleiner Sperling, dem du das Leben gerettet und den du so treu verpflegt hast!« Voll Freude schlug der alte Mann in die Hände, und als er der Einladung des lieblichen Mädchens folgte und sah, wie wunderhübsch es wohnte, da kannte seine Verwunderung keine Grenzen. Indessen hatte er keine Zeit, über diese wunderbare Begebenheit nachzudenken, denn kaum war er in das Häuschen eingetreten und hatte auf dem schönen Kissen, das man für ihn hinlegte, Platz genommen, da mußte er essen; das hübsche Mädchen brachte ihm viele Delikatessen, die er sonst nicht bekam, und dabei bediente sie ihn so gut und liebenswürdig, daß er sich nach Herzenslust pflegte und oft vor Freuden laut auflachte. Kaum war das Mahl verzehrt, so nahm das Mädchen sein Saitenspiel zur Hand und machte mit seinen Kameradinnen, die es herbeigerufen, schöne Musik; es ward auch getanzt, und da verging die Zeit so herrlich, daß der alte Mann gar nicht merkte, wie es dunkel wurde; auch dachte er nicht im mindesten daran, daß seine Frau sicherlich kein kleines Gezänk anfangen würde, wenn er so spät nach Hause käme. Nein, in diesen glückseligen Augenblicken konnte der gute Greis in der That an so etwas nicht denken, und so nahm er auch ohne alles Bedenken die Einladung seiner lieben Freundin an, daß er über Nacht da bleiben möchte. Er schlief auf den reichen, schönen Decken, die man ihm auf den Boden ausbreitete, herrlich bis an den lichten Morgen, und als die Sonne durch das Bambusgezweig blitzte, da machte er sich bereit, Abschied zu nehmen, und dankte herzlich für die freundliche Bewirthung. Doch so ohne weiters ließ ihn seine kleine Freundin nicht scheiden. »Wie kannst du denken,« sprach sie, »daß ich dich ohne ein Geschenk ziehen lasse?« Und damit ließ sie ein paar Kasten herbeitragen, von denen der eine klein, der andre aber groß und schwer war. Bescheiden, wie der gute Alte stets war, wählte er auch jetzt den kleinen Kasten, den er mit vielen Dankesworten in ein Tuch schlug und auf den Rücken nahm. Nun geleitete ihn das hübsche Mädchen aus dem Hause und durch das Gärtchen und sagte ihm Lebewohl. Leichten Muthes und dankbaren Herzens ging nun der Alte seines Weges und kam wohlbehalten in seiner Hütte an. Aber nun könnt ihr euch wohl denken, wie er bei seinem Eintritt in das Zimmer empfangen wurde! Hui, das gab ein Keifen und Schelten, als wie von bösen Geistern. Doch der gute Greis ließ seine zänkische Frau gewähren; er ließ sie poltern, so viel sie wollte, und dachte bei sich: »zuletzt hört sie doch auf, denn zu einem Zanke, der lange andauert, gehören immer zwei.« Damit hatte er sich stets getröstet, wenn seine Frau böser Laune war, und deshalb steckte er auch diesmal ein Pfeifchen an und setzte sich nieder, um auszuruhen. In seinem Herzen war eitel Freude und Lust; er konnte die lieben Spätzchen, die ihn so schön bewirthet, nicht vergessen, und als nun seine Blicke ganz unwillkürlich auf den hübschen Kasten fielen, den er zum Geschenk erhalten, da nahm er ihn zur Hand und öffnete ihn, um zu erfahren, was darinnen sei. Aber was war das? Lauter blitzendes Gold und Edelgestein! Er saß ganz starr und steif vor Verwunderung, während seine Frau, die neugierig herzugetreten war, sofort den ganzen Inhalt auf die Matte schüttete und die Kostbarkeiten auseinander suchte. Nun leuchteten ihre Augen, und ganz freundlich bat sie ihn mit sanften Worten, ihr umständlich sein Abenteuer zu erzählen. Der Alte willfahrte auch ihrem Wunsch und berichtete alles, was ihm mit den Sperlingen begegnet war, ohne die geringste Kleinigkeit auszulassen. Voller Staunen hörte die Frau ihm zu, doch als seine Erzählung bis zu den beiden Kasten gekommen war, und als sie nun hörte, daß ihr Mann den großen schweren Kasten ausgeschlagen und dafür den kleinen genommen hatte, da ging der Tanz von neuem los und das Zankmaul stand nicht eher still, als bis der alte Mann ganz genau den Weg zu den lieben Sperlingen beschrieben hatte. Sofort legte die Frau ihre besten Kleider an und machte sich auf den Weg. In ihrer Gier aber ging sie so rasch von dannen, daß sie nicht gehörig auf den Pfad achtete, und erst nach manchem Hin- und Herlaufen sehr mühsam das Häuschen der Sperlinge fand. Und als sie dasselbe endlich in dem niedlichen Garten vor sich sah, da klopfte sie nicht bescheiden, wie es sich gehört und wie es schicklich ist, an die Thür, nein, sie drang ohne weiteres durch den Garten bis an das Haus, als ob es ihr gehöre. Die Sperlinge waren ganz erschrocken darüber, und das schöne Mädchen, das seine Feindin wohl erkannte, berieth sich erst längere Zeit mit ihren Genossen, was zu thun sei. Doch so ohne weiteres durfte man die alte Frau nicht aus dem Hause werfen, das wäre nicht schön gewesen, und so machten sie alle gute Miene zum bösen Spiele und hießen den unliebsamen Gast willkommen. Schöner Kuchen und Wein wurde herbeigeschafft, und als sich die Alte weidlich gepflegt hatte, da glaubten die Sperlinge, sie würde nun gehen; doch weit gefehlt! »Wollt ihr mir denn nicht auch ein Abschiedsgeschenk geben?« fragte sie endlich geradezu, da sie merkte, daß man sie gar nicht zum Dableiben nöthigte. »Von Herzen gern,« entgegnete das schöne Mädchen und ließ sofort wieder zwei ebensolche Kasten bringen, wie voriges Mal. Ohne alles Besinnen griff die alte Frau nach dem großen, schweren Kasten, den sie auch ohne weiteres aus den Rücken nahm, und mit flüchtigem Abschiedsgruß eilte sie fort. Doch so rasch, wie sie vermeinte, kam sie nicht nach Hause denn der große Kasten wurde schwerer und schwerer, so daß sie keuchend unter der Last schier zusammenbrach. Nur ihre Habgier und ihr Geiz stachelten sie immer wieder zu neuen Anstrengungen an, und so kam sie mit Aufgebot der letzten Kräfte endlich mit dem Kasten in ihre Hütte zurück. Kaum hatte sie die Schwelle überschritten, so sank sie ermattet zu Boden; nachdem sie sich indessen nur einigermaßen wieder erholt hatte, machte sie sich daran, den Verschluß des schweren Kastens zu öffnen. Der Abend war bereits hereingebrochen, und es war im Hause ganz dunkel; doch das machte dem gierigen Weibe nichts aus. Sie nahm sich nicht die Zeit, Licht anzuzünden und hatte keine Ruhe, ehe sie die kostbaren Schätze untersucht hatte, die sie im Kasten vermuthete. So löste sie denn hastig, wenn auch nicht ohne Mühe, den Verschluß, und endlich sprang der Deckel in die Höhe. Aber, o Schrecken! keine Kleinodien und Kostbarkeiten kamen zum Vorschein, sondern scheußliche Gespenster mit glühenden Augen, mit schlangenartigen Schwänzen und mit scharfen Krallen stürzten aus dem Kasten hervor und peinigten das böse Weib auf alle erdenkliche Weise. Und so bekam sie für alle ihre Schlechtigkeit, für ihre Habgier und für ihre Grausamkeit ihre wohlverdiente Strafe.
 
Der harte Lehnsherr
(Fabel aus Japan)
Vor Zeiten lebte am Fuße eines Berges ein altes Mütterchen mit ihrem Enkel, der ob seiner Gutherzigkeit und Tüchtigkeit im ganzen Dorf hochgeachtet war. Er pflegte sie sehr treu und liebevoll und war allezeit gehorsam und ehrerbietig gegen sie. Nun traf es sich, dass das Dorf in die Gewalt eines unbarmherzigen und unmenschlich grausamen Lehnsherrn kam. Der erließ eines Tages den Befehl an die Dorfleute, sie sollten alle alten Leute auf dem Berg aussetzen und Hungers sterben lassen; denn er meinte, sie seien zu nichts mehr nütze in der Welt und verstünden nichts als Reis zu essen. Den armen Dorfbewohnern blieb nichts übrig, als dem Befehl zu gehorchen, so schrecklich er auch war. Und so stieg das ganze Dorf an dem bestimmten Tage auf den Berg hinauf, überließ dort die armen Alten ihrem Schicksal und kehrte kummervoll heim. Auch unser altes Mütterchen führte der Enkel mit trauernden Herzen auf den Berg und ließ es dort allein, aber es elend langsam verschmachten zu lassen, das brachte er doch nicht übers Herz. Um Mitternacht desselbigen Tages noch holte er es wieder in sein Haus zurück, und hielt es dort im Keller ganz in der Stille von der Welt verborgen. Täglich brachte er, was es zur Nahrung bedurfte, und mühte sich redlich ab, es ihm an nichts fehlen zu lassen. Der Gutsherr war in der Bosheit seines Herzens entschlossen, die Gemeinde bis aufs Blut zu quälen. Eines Tages gab er seinen Leuten den närrischen Befehl, ihm an einem bestimmten Tage ein Seil aus Asche zu bringen. Allen schien der Auftrag unausführbar; wie sollte man aus Asche ein Seil machen? In ihrer Ratlosigkeit baten sie den Herrn um Erlass der ganz unmöglichen Arbeit, aber er forderte das Seil nur um so dringender und drohte ihnen schwere Strafe an, wenn sie es nicht bis zur festgesetzten Stunde brächten. In ihrer Angst versammelte sich die ganze Gemeinde im Hause des Enkels und beratschlagte, was zu tun sei, aber kein Ausweg war zu finden. Da erschien plötzlich zu aller Staunen das Mütterchen, das im Keller die Beratung angehört hatte. Weil bis dahin niemand von seinem Aufenthalt im Keller eine Ahnung gehabt hatte, wunderten sie sich alle aufs äußerste, dass eine so alte Frau der Bosheit des Herrn hatte entzogen werden können, und waren gerührt über die kindliche Liebe und Klugheit des Enkels. Die Alte wieder tröstete sie in ihrer Angst und Sorge, indem sie sagte: „Es ist nichts leichter, als dem Befehl des Herrn nachzukommen. Asche lässt sich zwar nicht zu einem Seile drehen, aber man erhält ohne Mühe ein Seil aus Asche, wenn man ein gewöhnliches Seil im Feuer zu Asche verkohlen lässt.“ Die Leute folgten sofort ihrem klugen Rat und erhielten wirklich das verlangte Seil. Hocherfreut wählten sie einen aus ihrer Mitte, der es dem Herrn übergeben sollte. Der ging sofort zum Herrenhause und ließ melden, er bringe das gewünschte Seil aus Asche. Verwundert und neugierig, wie sie das Kunststück fertiggebracht hätten, ließ ihn der Herr sogleich vor sich kommen, und der Bote musste ihm den ganzen Hergang erzählen. Das tat er auch mit aller Aufrichtigkeit. Er schilderte ihre Not und Angst und wie sie ganz ratlos gewesen seien, und dass es ihnen niemals möglich gewesen wäre, den Wunsch des Herrn zu erfüllen, wenn nicht die Klugheit der geretteten Alten sie aller Sorgen enthoben hätte. Auch von der wunderbaren Errettung des Mütterchens sprach er ganz offen und rühmte die Liebe und Treue ihres Enkels. Da gingen dem harten Mann die Augen auf, und er erkannte, wie übereilt er dem Alter seinen Nutzen abgesprochen hatte, und wie töricht und schlecht sein ganzes Verhalten gewesen war. Und er ging in sich und besserte sich und wurde von diesem Tage an, seinen Untergebenen ein gerechter und gütiger Schirmherr.
 
Färbermeister Eule
(Fabel aus Japan)
In alter, alter Zeit war die Eule ein Färber, und alle Vögel kamen zu ihr, um sich ihre Kleider färben zu lassen. Sie färbte diese in den schönsten Farben. Der Rabe war aber ein sehr eitler Geck. Immer flog er in einem schneeweißen Gewande umher. Endlich ging er auch zum Färber und sagte: „Färbe doch bitte mein Gewand mit einer Farbe, die es bisher noch nicht gibt.“ Die Eule überlegte es sich lange. Schließlich färbte sie das Kleid kohlenschwarz und sagte zu dem Raben: „Da hast du eine Farbe, die es bisher nicht auf der Welt gegeben hat.“ Der Rabe wurde nun sehr böse, aber da das Kleid sich nicht mehr anders färben ließ, mußte er es so anziehen, wie es war. Der Eule hat er den Schabernack bis heute nicht vergessen, und jedes Mal, wenn er ihr begegnet, fängt er an, sie laut zu beschimpfen. Deshalb zieht sich die Eule immer in den Wald zurück, wenn die Raben des Morgens ihren Flug beginnen, und kommt den ganzen Tag nicht aus ihrem Versteck hervor. Wenn sich aber Eule und Rabe doch einmal zufällig treffen, dann schauen sie sich gegenseitig mit bösen Blicken an.
 
Der Glühwurm
(Fabel aus Japan)
In einem Sumpf stand einmal eine Lotospflanze, und in ihrem Geäst saß ein unscheinbarer, kleiner Wurm. Es war die Tochter der Feuerfliege, aber niemand beachtete sie, und sie verbrachte einsam ihre Tage. Die machte sich nichts daraus. Denn, dachte sie, wenn ich auch jetzt allein in meinem Blütenkelche liege – wenn ich groß bin, werde ich genug Gesellschaft bekommen. Und siehe, eines Abends, da strahlte ihr Körper in einem wunderbaren Lichte, sodaß alle ringsum erstaunten, und die Mondsichel am Himmel zog sich vor lauter Neid hinter einer Wolke zurück. Als die anderen Insekten das seltsame Licht sahen, das plötzlich aus der Lotosblume erstrahlte, kamen sie zu Tausenden an und bewunderten den glänzenden Glühwurm. Der große Nachtfalter umflatterte den Kelch der Lotosblume, große und kleine Käfer schwirrten unaufhörlich in der Luft, zahllose buntfarbige Tiere begannen ihr zu Ehren zu summen und zu singen, so daß es weithin in den Abend tönte. Der Glühwurm aber rührte sich gar nicht in seinem duftenden Blumenbett, er lag ganz still und unbeweglich und tat, als merkte er nichts von dem Gewirr rings um ihn. Aber Abend für Abend kamen Insekten wieder und umschwärmten den Glühwurm. Da wurde dieser endlich ärgerlich, trat aus seinem Bett heraus und rief: „Mir gefällt keiner von euch, lasst mich in Ruh’, ich nehme nur den zum Manne, der mir ein Licht bringt, so wie ich’s selbst habe.“ Zuerst waren all die Insekten erschrocken, dann aber flogen sie rasch von dannen, um Licht zu holen. Sie stürzten sich tapfer und ohne sich zu besinnen in jede Lampe, jede Kerze, die ihnen in den Weg kam. Aber kein einziger Strahl blieb in ihren Flügeln hängen, sondern sie mußten kläglich zugrunde gehen und für ihr Wagnis büßen. Der Glühwurm lag nun wieder allein in seiner Lotosblume. Und vielleicht wäre er noch lange allein geblieben, wenn nicht plötzlich ein Leuchtkäfer des Weges gekommen wäre, und dieser glänzte genau so hell wie der Glühwurm. Und als sie einander erblickten, da waren sie so beglückt, so daß sie zugleich beschlossen zu heiraten. Die armen Insekten aber, welche der Glühwurm fortgeschickt hatte, mühen sich noch heute vergebens nach dem Licht. Sie verbrennen sich dabei Flügel und Füße oder den ganzen Leib und müssen traurig sterben.
 
Die Verteilung der Weisheit
(Fabel aus Afrika)
Kwaku Ananse betrachtete die Welt und kam zum Schluss, das die Menschen mit der ihnen von Gott gegebenen Weisheit sehr unüberlegt und verschwenderisch umgingen. So entschloss sich Kwaku Ananse, die Weisheit einzusammeln und für spätere Zeiten aufzuheben. Kwaku Ananse machte sich also auf den Weg durch die Welt und sammelte jedes kleinste Stückchen Weisheit ein. Er tat sie vorsichtig in einen grossen Kürbis und füllte ihn bis zum Rand. Vorsichtig legte Kwaku Ananse den Deckel darauf und band ihn gut fest. Dann begann Kwaku Ananse darüber nachzudenken, wo er den Kürbis mit der Weisheit aufbewahren könnte. Kwaku Ananse kam zu dem Entschluss, den Kürbis mit der Weisheit auf die höchste Palme zu tragen und dort zwischen den Zweigen zu verstecken. Er würde den Kürbis gut festbinden, und dort oben wäre er so versteckt, dass ihn niemand sehen könnte. Es würde auch niemand annehmen, dass die ganze Weisheit der Welt sich auf einer Kokospalme befinden könnte. Kwaku Ananse band sich also den Kürbis vor den Bauch, hing sich ein langes Seil über die Schulter und begann, langsam die Palme hinaufzuklettern. Da der Kürbis sehr groß und sehr schwer war, musste sich Kwaku Ananse ordentlich anstrengen. Vorsichtig setzt er Bein vor Bein und kletterte die schwankende Palme immer höher. Er merkte plötzlich, dass sich das Band, mit dem er den Kürbis vor seinem Bauch angebunden hatte, lockerte. So hielt er den Kürbis mit zwei seiner Arme fest. Nun war das Klettern aber noch schwieriger geworden. Er entschloss sich, eine Rastpause einzuschalten. Plötzlich blickte er hinunter zum Fuss der Palme und sah dort seinen jüngsten Sohn, der sich vor Lachen den Bauch hielt. Da wurde er zornig und rief hinunter: "Warum lachst Du Deinen Vater aus, der sich so anstrengt, die ganze Weisheit der Welt in Sicherheit zu bringen, Sohn?" Da lachte der Junge noch mehr und rief zu Kwaku Ananse hinauf: "Sage mir, Vater, wenn Du die ganze Weisheit der Welt in Sicherheit bringen willst, warum trägst Du sie dann vor dem Bauch und nicht auf dem Rücken? Das wäre doch viel einfacher und bequemer!" Kwaku Ananse wurde über die frechen Worte seines Sohnes so böse, dass er ohne zu überlegen einen Arm vom Kürbis nahm, die Hand zur Faust ballte und ihm drohte. Ehe Kwaku Ananse jedoch noch ein Wort sagen konnte, fühlte er, dass der Kürbis unter dem Band durchglitt. Mit einem Arm konnte er den Kürbis nicht mehr halten, und dieser stürzte in die Tiefe. Er prallte auf den harten Boden auf und zerbrach in tausend Stücke. Kwaku Ananse blickte wie erstarrt hinunter und sah, wie die ganze Weisheit der Welt in kleinen Bächen davonfloss und begann, langsam in der Erde zu versickern. Von allen Seiten kamen die Menschen herbeigelaufen und hielten grosse und kleine Holzschalen oder Kürbisse in der Hand. Manche hatten in der Eile auch nur ein Blatt abgerissen oder auch nur einen Suppenlöffel mitgebracht. Sie alle versuchten, so viel von der ausfliessenden Weisheit zu erwischen, wie sie nur auffangen konnten. Kwaku Ananse aber, der langsam begann, die Palme hinunterzuklettern, wusste, dass für ihn selbst kaum ein Restchen übrigbleiben würde.
So ist es geschehen, dass die Weisheit in der Welt so ungleich verteilt ist. Die einen haben viel davon und die anderen viel zu wenig.
 
Der Hase im Reich der Tiere
(Fabel aus Afrika)
Es war einmal eine große Dürrezeit im Reich der Tiere des Dschungels. Alle Quellen waren versiegt, alle Bäche und Flüsse trocken. Da versammelten sich die Tiere, um zu beraten, was gegen die Wassernot getan werden könnte. Sie vereinbarten, alle Feindseligkeiten untereinander zu beenden und ein tiefes Wasserloch zu graben, damit sie wieder Wasser hätten. Auch der Hase lebte im Reich der Tiere des Dschungels. Aber er fand es nicht richtig, dass er bei der schweren Arbeit am Wasserloch mithelfen sollte, denn er war bei weitem nicht so groß und kräftig wie die übrigen Tiere. Als die Tiere erfuhren, dass der Hase nicht mitarbeiten wollte, sagten sie erbarmungslos: "Dann wirst du auch kein Wasser trinken, wenn die Wasserstelle fertig ist." Da lachte der Hase und antwortete: "Ich trinke Wasser, wann immer ich will, denn ich kann überall genug Wasser finden. Ich bin ja nicht so groß und durstig wie ihr Elefanten, Tiger, und Löwen." Nach sieben Tagen hatten die Tiere des Dschungels ein tiefes Loch gegraben und waren auf eine Wasserquelle gestoßen, die so ergiebig war, dass sich schnell das ganze Wasserloch bis weit über den Rand mit frischem Wasser füllte. Die Tiere freuten sich so sehr, dass sie sogleich beschlossen, ein großes Fest zu feiern. Nur der Hase sollte nicht mitfeiern dürfen. Nach ein paar Tagen kam der Hase aus dem Wald hervor und blieb in einiger Entfernung von dem Wasserloch stehen, das jetzt der Lieblingstreff der Tiere war. Er trug eine Trommel, und er trommelte und sang dazu. Das klang so:
"Peh-peh, pere-pere peh! Nanima!
Tiere sind sich einig geworden - Nanima!
Eine neue Wasserstelle zu bauen.
Pere-pere peh! Nanima!
Ein Wasserloch wurde gegraben.
Pere-pere peh! Nanima!
Der Hase hat nicht mitgeholfen!
Pere-pere peh! Nanima!"
Den ganzen Tag sang und trommelte er so. Als er dann Durst bekam und in den Wald zurückging, um Wasser zu trinken, fand er nirgendwo Wasser, denn alle Wasserlöcher waren ausgetrocknet. Es war heiß, und der Durst quälte ihn sehr. Die übrigen Tiere dagegen waren gut versorgt, denn an der neuen Wasserstelle hatten sie Wasser im Überfluss. Es war Abend geworden, und der Hase fing wieder mit seiner Musik an und sang:
"Peh-peh pere-pere peh! Nanima!
Die Tiere sind sich einig geworden
Pere-pere peh! Nanima!
Ein Wasserloch zu graben.
Pere-pere peh! Nanima!
Der Hase hat nicht mitgeholfen.
Pere-pere peh! Nanima!"
Er näherte sich ganz langsam der Wasserstelle und sang und trommelte dabei unaufhörlich. Die Tiere, die im frischen Wasser badeten, sahen den Hasen kommen. Seine Musik hatte sie neugierig gemacht, und sie wollten wissen, was für ein Instrument die Trommel wohl wäre. Schließlich wurden sie immer neugieriger, denn die Trommelmusik und der Gesang des Hasen gefielen ihnen. Der Hase sang und trommelte ohne Unterlass. Seine Musik war so eingängig, dass die Tiere anfingen zu tanzen und im Chor seinen Gesang wiederholten:
"Die Tiere sind sich einig geworden!
Peh-peh pere-pere peh! Nanima!
Der Hase hat beim Graben nicht mitgeholfen!
Pere-pere peh! Nanima! Komm näher, mein kleiner Bruder!
Komm näher zu uns heran! Nanima!"
So sangen die Tiere und tanzten dazu, während der Hase immer fleißiger trommelte, bis in die späte Nacht. Zum Schluss waren die Tiere so begeistert vom Unterhaltungstalent des Hasen, dass sie ihn zum Wächter der Wasserstelle bestimmten. Der Hase aber freute sich sehr, denn es war ihm gelungen, sein Leben zu retten und von allen geachtet und geschätzt zu werden.
 
Das Honigrohr
(Fabel aus Afrika)
Während einer Hungersnot nahm ein Mann Pfeil und Bogen und ging hinaus, um für die Seinen zu jagen. Unterwegs sah er einen Bienenstock. Er nahm die Waben heraus und fand, dass sie viel Honig enthielten. Zu Hause angekommen, stellte er fest, dass niemand daheim war. Er nahm seinen Topf, schüttete den Honig hinein, ging hinters Haus, grub ein Loch und vergrub den Topf sehr sorgfältig, damit keine Erde in den Honig fiel. Vorher hatte er noch ein Rohr in den Topf gesteckt, dessen Spitze aus der Erde ragte. Als nun die Familie am Abend nach Hause kam und das Essen fertig war, wollte man ihm auftun. Er aber sagte: "Gebt nur den Kindern. Was mich angeht, so will ich, dass die Kinder, wenn sie gegessen haben, mitgehen und mir hinter dem Haus mein Lied singen." Er ging mit den Kindern hinaus und lehrte sie ein neues Lied, und das lautete so: "Es möge ertönen, es soll auf mich zufließen." Während die Kinder sangen, beugte sich der Mann nieder und sog so lange Honig aus dem Rohr, bis er vollkommen satt war. So tat er es alle Tage. Als er aber eines Tages nicht zu Hause war, sprachen die Kinder untereinander: "Kommt, lasst uns gehen und das Lied unseres Vaters singen." Und während die anderen sangen, versuchte ein Kind, an dem Rohr zu saugen, wie es der Vater immer tat. Es merkte: Das Lied war außerordentlich süß! Auch die anderen Kinder kosteten den süßen Honig. Schließlich riefen sie ihre Mutter. Die Mutter erkannte, dass in der Erde Honig vergraben war und fand auch bald den Topf. Sie grub ihn aus, schüttete den Honig in ihren Topf und goss in den anderen Wasser. Darauf vergrub sie den Wassertopf wieder sorgfältig im Boden, denn der Vater durfte nichts merken. Den Honig trug sie ins Haus und aß davon mit ihren Kindern. Nachdem der Vater am Abend heimgekehrt war, sang er wie immer mit den Kindern das Lied. Als er aber an dem Rohr sog, merkte er, dass er nur Wasser schluckte. Er probierte noch einmal und fand, dass es tatsächlich so war. Da ging er mit den Kindern betrübt ins Haus. Sie aber verrieten ihm nichts. Nun aßen die Kinder Honig und gaben dem Vater nichts - wie er es mit ihnen getan hatte.
 
Der Regentropfen
(Fabel aus Afrika)
Ein Regentropfen fiel einem Kind in die Hand. Er sprach: "Schließ die Hand, damit ich nicht sterbe und lauf zu den Hügeln mit den Bäumen und lass mich dort frei. Ich werde in die Erde dringen und es wird Regen fallen." Das Kind schloss die Hand und rannte zu den Hügeln mit den Bäumen, so schnell es konnte. Aber als es ankam und die Faust öffnete, war der Regentropfen verdunstet. Weinend lief das Kind ins Dorf zurück und erzählte den Alten, dass der Regentropfen gestorben sei. Nun würde es nie mehr regnen. Aber die Alten sagen: "Weine nicht! Wir werden im Dorf Bäume pflanzen, damit der nächste Regentropfen keine Zeit hat zu verdunsten. Wir werden Bäume pflanzen und wir werden Regen haben."
 
Der Mann und die Antilope
(Fabel aus Afrika)
Es war einmal ein Mann, der war so arm, daß er sich von Hirsekörner nährte, die er aus den Abfällen des Dorfes heraus suchte. Eines Tages aber fand er ein kleines Geldstück, und weil er recht hungrig war, wollte er sich einen guten Braten kaufen. Zufällig kam ein Händler des Weges und bot ihm für sein Geldstück eine kleine Antilope. Der Mann nahm erfreut das Tier und wollte es schlachten. Da begann es zu reden "Habe Mitleid mit mir und laß mich leben!" Der Mann erschrak aber weil er ein gutes Herz hatte ließ er das zierliche Tier frei. Die Antilope lief sogleich in den Wald. Als es Abend wurde kehrte sie zurück und blieb die ganze Nacht in der Hütte. Das ging einige Zeit so. Eines Tages fand sie im Wald unter einem Baum, der mitten in einem Dorngebüsch stand einen kostbaren Diamanten. Zuerst wollte das Tier voll Freude zu seinem Herrn eilen. Aber dann sagte es zu sich: "Wenn ich Weise versuchen." Die Antilope nahm den Diamanten zwischen ihre Zähne und lief schnell aus dem Wald, bis sie zu dem Palast des Sultans kam. Sie sprang die Stufen hinauf zu dem Thron des Sultans und sagte: "Hoher Sultan! Mein Herr ist ein berühmter reicher Mann! Er bittet Dich, ihm Deine Tochter zur Frau zu geben, zum Zeichen seiner Freundschaft sendet er dir diesen kostbaren Edelstein." Der Sultan war sehr erfreut über das Geschenk und willigte ein. Nun lief die Antilope so schnell sie konnte zu ihrem Herrn und beide machten sich auf den Weg. Bevor sie jedoch zum Palast des Sultans kamen, sagte das Tier zu ihm: "Wirf Dich in den Sand!" Der arme Mann warf sich in den Sand und die Antilope zerriß mit ihren zierlichen Hufen seine Kleider, und fügte ihm kleine Wunden zu. Dann befahl sie ihm, liegen zu bleiben und eilte zum Sultan und sprach: "Mein Herr ist von Räubern ausgeplündert worden, kannst Du ihm helfen?" Sogleich gab ihr der Sultan ein prachtvolles Reittier, Kleider, Nahrung und viele Goldstücke. Sie brachte alles ihrem Herrn, und der arme Mann konnte als reicher Prinz in die Stadt einziehen. In drei Tagen sollte Hochzeit sein, er aber besaß noch kein Haus, wo er seine Frau hinbringen konnte. Die Antilope lief wieder davon, bis sie zu einer leeren öden Stadt kam. Die Häuser waren verfallen und von Unkraut überwachsen. Nur ein Haus stand da, prachtvoll gebaut aus Rubinen, Türkisen und schönen Marmorsteinen. Das Haus aber gehörte einem greulichen Drachen mit sieben Köpfen und sieben Augen, der alle sieben Tage in diesem Hause schlief. Die kleine Antilope war mutig und entschlossen. Sie schlüpfte durch ein Fenster und wartete. Als der Drache endlich kam und einen seiner sieben Köpfe hereinsteckte, biß sie ihm alle Augen aus. Als das Ungetüm endlich tot war, lief sie schnell zu ihrem Herrn, und alle zogen in einem prunkvollen Zug in den neuen Palast. Nun wäre alles gut gewesen, aber der arme Mann war plötzlich stolz, eitel und undankbar geworden. Er verachtete die Antilope, der er alles Glück verdankte und jagte sie aus seinem Haus. Kaum war das Tier verschwunden, fiel der undankbare Mann in eine tiefe Ohnmacht. Als er wieder aufwachte, lag er in seiner armseligen Hütte, und mußte sich wie früher von den Hirsekörnern ernähren, die er aus Abfällen des Dorfes heraussuchte. Sein ganzes Leben lang aber wußte er nicht, ob er alles nur geträumt oder wirklich erlebt hatte.
 
Das Ei, das immer größer wurde
(Fabel aus Afrika)
Ein Mann hatte elf Söhne. Der jüngste von ihnen aber war der Sohn der zweiten Frau. Bevor der Mann starb, überließ er jedem der zehn älteren Söhne drei Rinder. Dem jüngsten Sohn übergab er ein kleines Ei und trug ihm auf, es draußen, weit weg vom Kraal aufzubewahren und dem Ei jeden Tag etwas vorzusingen. Dann starb der Mann. Der jüngste Sohn ging nun jeden Tag zu seinem Ei und sang ihm etwas vor, und das Ei wuchs und wuchs. Bald war es größer als eine Hütte, aber es wuchs immer noch. Da bekam der jüngste Sohn Angst vor dem Ei und kletterte auf einen Baum, wenn er ihm vorsang. Endlich, als er eines Tages wieder sang, platzte das Ei und Tiere jeglicher Art kamen heraus: Rinder, Schafe und Ziegen. Da baute der jüngste Sohn seinen eigenen Kraal und lebte glücklich darin.
 
Die kleine Blume
(Fabel aus Afrika)
Eine große Trockenheit breitete sich immer mehr aus. Zuerst regnete es immer weniger. Auch die großen Flüsse verloren ihre Srömung und wurden zahme Bäche. es wurde immer schwerer, Wasser für Menschen und Tiere zu finden. Kleine Rinnsale kämpften sich durch den Sand. Das Gras wurde braun und verdorrte. Die Blätter welkten und fielen von Büschen und Bäumen. Kein Wölkchen erschien am Himmel. Der Morgen erwachte ohne die Erfrischung des Taus. Die Sonne brannte den ganzen Tag erbarmungslos nieder auf das Land. Dann starben die kleinen Bäume und Sträucher. Die Tiere liefen viele Kilometer, um einige Tropfen Wasser zu finden. Kleine und schwache Tiere waren diesen Strapazen nicht gewachsen und fielen verdurstet zu Boden. Nur wenige hatten die Kraft gehabt rechtzeitig aus der Wüste zu fliehen.Selbst die stärksten, ältesten Bäume deren Wurzeln tief in die Erde reichten, verloren ihre Blätter und sie strengten sich an, ihre Wurzeln noch tiefer in das Erdreich zu graben. Alle Brunnen und Flüsse, die Quellen und Bäche waren vertrocknet. Nur ein geübtes Auge konnte nach langem Suchen die Stellen finden, wo es tief unter dem heißen Sand feucht wurde. Aus dem angefeuchteten Sand ließ sich für den Geduldigen, anspruchslosen Sucher ein bisschen Feuchtigkeit herauspressen. Wie durch ein Wunder war eine einzige Blume am Leben geblieben, denn eine ganz winzige kleine Quelle gab noch ein paar Tropfen Wasser. Doch die Quelle jammerte ganz verzweifelt: "Alles ist vertrocknet, verdurstet und stirbt! Und ich bin zu klein und zu schwach, um all die schönen majestätischen Tiere und die satrken Bäume mit ihren Schatten spendenen Kronen zu retten. Ist es überhaupt noch sinnvoll, dass ich mich abmühe und ein paar Tropfen aus der Erde hole und auf den Boden fallen lasse?" Ein alter kräftiger Baum stand in der Nähe. er hörte die Klage der kleinen Quelle. Und bevor auch er starb, wandte er sich mit letzter Anstrengung an sie:" Liebe Quelle, niemand erwartet von dir, dass du die ganze Wüste zum Grünen bringst. Deine Aufgabe ist es, einer einzigen Blume Leben zu geben. Mehr nicht."
 
Warum Sonne und Mond einander meiden
(Fabel aus Kamerun)
Sonne und Mond waren früher einmal Freunde. Eines Tages aber sprach die Sonne zum Mond: "Wir sind im Laufe der Jahre recht schmutzig geworden. Ich finde, es wäre gut, einmal wieder zu baden." - "Recht hast du", meinte der Mond, "ich mache mit!" Darauf schlug die Sonne vor: "Ich bade im Oberlauf des Flusses und du im Unterlauf. Wenn du das Wasser zischen und brodeln hörst, weißt du, dass ich hinein gestiegen bin." Der Mond war einverstanden. Da wanderte die Sonne flussaufwärts zu der bezeichneten Stelle und befahl ihren Leuten, Brennholz zu schlagen und herbeizuschaffen. Andere erhielten den Auftrag, Termitenbauten zusammenzutragen. Nachdem beides geschehen war, hieß die Sonne sie ein großes Feuer entfachen und die Termitenbauten hineinwerfen. Die rot glühenden Termitenbauten mussten die Leute dann auf Befehl der Sonne ins Wasser schleudern. Das gab nun ein gewaltiges Zischen und Brodeln. Dampf stieg auf und erfüllte weithin die Luft. Als der Mond das sah und hörte, glaubte er, die Sonne hätte entsprechend ihrer Vereinbarung gehandelt, und stieg mit allen seinen Leuten in den Fluss. Sogleich überlief ihn ein kalter Schauer und - alle Wärme und aller Glanz waren verschwunden. Traurig stieg der Mond aus dem Wasser. Bald darauf rief die Sonne ihm zu: "Bist du fertig?" Und der Mond antwortete: "Es ist alles erledigt." - "Wir wollen zur Stadt zurückkehren", meinte nun die Sonne. Sie erschien mit ihren Begleitern in strahlendem Glanz, wärmer und herrlicher leuchtend als je zuvor. Als der Mond das sah, wurde er noch trauriger und fragte die Sonne: "Warum hast du mich betrogen?" - "Warum hast du denn nicht ein wenig überlegt?" erwiderte sie. "Du hast mich betrogen", beharrte der Mond. Aber die Sonne entgegnete nur: "Ach, hör schon auf!"
Fünfzig Jahre waren seitdem vergangen. Die Sonne hatte die alte Geschichte längst vergessen, nicht aber der Mond. Eines Tages bemerkte er zur Sonne: "Warum sind unsere Leute in letzter Zeit nur so aufsässig? Sie gehorchen gar nicht mehr so wie früher!" - "Das macht mir ebenfalls Sorgen", erwiderte die Sonne. "Wäre es nicht am besten", schlug darauf der Mond vor, "wir töten unsere Leute?" Die Sonne war einverstanden, und der Mond bestimmte nun: "So gehe ich flussaufwärts und töte dort meine Leute, du aber gehst flussabwärts und bringst deine Leute dort um." Als die vereinbarte Zeit herangekommen war, begab sich jeder an den bezeichneten Platz. Der Mond befahl seinen Leuten: "Fertigt schnell so viele Rotkugeln, wie ihr könnt, mehr als tausend!" Als das geschehen war, ordnete er an: "Werft sie alle ins Wasser." Da färbte sich das Wasser rot wie Blut. Die Sonne sah das rote Wasser heran fließen und glaubte, der Mond hätte das Vorhaben ausgeführt. Da brachte sie alle ihre Leute um. "Sind deine Leute tot?" rief ihr der Mond zu. Und die Sonne antwortete: "Ja, sie sind tot." - "Hast du auch keinen vergessen?" vergewisserte sich der Mond noch einmal. "Nicht einer ist mehr am Leben", erklärte die Sonne. "Wir wollen jetzt zur Stadt zurückkehren", rief nun der Mond, "ich bin ebenfalls soweit." Als die Sonne den Mond mit allen seinen Leuten kommen sah, fragte sie ihn: "Warum hast du mich betrogen?" Der Mond entgegnete: "Findest du denn so etwas nicht schön?" - "Keineswegs!" gab die Sonne zur Antwort, "du hast sehr böse gehandelt!" - "Nein, ich habe durchaus nichts Unrechtes getan!" erwiderte ihr der Mond. "Hast du vergessen, was du mir vor Jahren zugefügt hast?" Die Sonne erklärte, sie könne sich nicht mehr daran erinnern. Da sprach der Mond: "Ich ziehe meine Bahn, aber ich leuchte nicht mehr warm wie einst, weil du mich betrogen hast. Heute nun traf dich die Vergeltung: Du hast all deine Leute getötet und musst jetzt allein deine Bahn ziehen. Ich aber habe ein großes Gefolge. Darüber freut sich mein Herz."
Seit dieser Zeit meiden Sonne und Mond einander.
 
Der Mann mit der hässlichen Frau
(Fabel aus Afrika)
Ein Mann hatte eine hässliche Frau. Die beiden lebten zufrieden miteinander, aber der Mann dachte oft bei sich: Ich hätte so gern eine schöne Frau... Eines Nachts, als er schlief, erschien ihm im Traum ein Dschinn, der zu ihm sprach: «Du hast drei Wünsche frei. Drei Mal darfst du um etwas bitten, und es wird dir gewährt werden.» Der Mann erwachte, weckte seine Frau und erzählte ihr von dem Traum. «Wenn du drei Wünsche frei hast, könntest du da nicht einen für mich tun?», bat die Frau. «Hast du denn einen Wunsch?», fragte er. «Einen großen!», antwortete sie, denn sie hatte längst gemerkt, was ihr Mann im Geheimen dachte. «Ich wünsche mir, nicht mehr so hässlich zu sein.» «Dann wünsche ich mir, dass du wunderschön bist», rief der Mann. Im selben Augenblick war seine Frau so schön, dass er nicht glauben konnte, sie sei noch dieselbe wie zuvor. Am nächsten Morgen ging er mit ihr durch die Stadt spazieren, damit alle sähen, wie wunderschön seine Frau geworden war. Nicht nur die Männer drehten sich nach ihr um, auch die Frauen schauten ihr bewundernd nach. Die beiden kamen am königlichen Palast vorbei. Der König stand gerade am Fenster, und als er die schöne Frau erblickte, wollte er sie für sich haben. Er sandte seine Diener auf die Strasse, sie mussten dem Mann die Frau wegnehmen und in den Palast führen. Der Mann aber ging traurig nach Hause und dachte: Nun bin ich ganz allein. Der König wird mir meine Frau nicht zurückgeben. Ach, hätte ich sie doch nie so schön gewünscht. Dann fiel ihm ein, dass er noch zwei Wünsche frei hatte. Sollte er sich eine andere Frau wünschen? Nein, das brachte er nicht übers Herz. Immerzu musste er an seine Frau denken, die im Königspalast war. Er dachte: Wenn sie hässlich wäre, würde der König sie nicht haben wollen. Ich werde mir wünschen, dass sie wieder so hässlich wird wie zuvor, dann wird der König sie fortschicken. Doch er zögerte: Vielleicht hat sich der König in sie verliebt, und wenn er sie liebt, wird sie ihm auch gefallen, wenn sie hässlich ist. Was soll ich nur tun? – Jetzt weiß ich es: Ich werde mir wünschen, dass meine Frau im Königspalast zu einer Äffin wird. Einen Affen wird der König nicht zur Frau haben wollen. Der Mann sprach seinen zweiten Wunsch aus und verwandelte die Frau in eine Äffin. Als der König statt der schönen Frau einen Affen erblickte, erschrak er und rief: «Zauberei! Fort mit dem Affen!» Da jagten die Diener die Äffin aus dem Königspalast. Sie lief durch die breiten Strassen der Stadt, und sie lief durch die schmalen Gassen bis zur Hütte des Mannes. Dort setzte sie sich hin und weinte: «Lieber Mann», jammerte sie, «kannst du mich nicht in das zurückwünschen, was ich früher war? Ich war hässlich, aber ein Mensch. Ich will deine Frau sein und kein Affe!» Der Mann dachte lange nach, so lange, wie er noch niemals nachgedacht hatte. Inzwischen hatte er gelernt, dass man mit Wünschen vorsichtig sein musste. Endlich sagte er: «Ich wünsche mir, dass du wieder meine Frau bist. Und wie du aussiehst, das ist mir gleich. Denn als du im Königspalast warst und ich dich verloren glaubte, wusste ich nicht mehr, ob du hässlich oder schön bist, sondern nur, dass du gut bist und dass ich dich liebe.» Sofort verschwand die Äffin, und seine Frau saß bei ihm und sah genauso aus wie früher. Nur freilich kam sie ihm nicht mehr hässlich vor. Und das ist bei allem so, das man mit den Augen der Liebe ansieht.
 
Das Haselhuhn und die Schildkröte
(Fabel aus Äquatorialguinea)
"Ich bin besser daran, als du", sagte das Haselhuhn zur Schildkröte. "Ich kann rasch gehen und noch mehr - ich kann fliegen." - "Du Glückliche", antwortete die Schildkröte, "ich schleppe mich fort, und, so gut es geht, mache ich meine Geschäfte ab." Nun traf es sich, dass die Menschen, um zu jagen, das Gras der Wiese anbrannten; das wachsende Feuer engte den Kreis immer mehr ein, die Gefahr für beide Tiere war offenkundig und sicher. Die Schildkröte schleppte sich in eine kleine Grube, die durch den Fußtritt eines Elefanten ausgehöhlt war, und rettete sich so. Das Haselhuhn dagegen versuchte den Flug; aber Rauch und Feuer ließen es herabfallen, und es starb. - Wer sich all zu sehr rühmt, bleibt bei der Probe zurück.
 
Der stolze Schmetterling
(Fabel aus dem Sudan)
Ein wunderschöner Schmetterling umflatterte eine duftende Blume; da bemerkte er eine hässliche Raupe, die im Staube dahin kroch. Verächtlich rief der Schmetterling ihr zu: "Wie darfst du es wagen, dich in meiner Nähe sehen zu lassen? Fort mit dir! Sieh, ich bin schön und strahlend wie die Sonne, und meine Schwingen tragen mich hoch in die Lüfte, während du auf der Erde umher kriechst. Fort, wir haben nichts miteinander zu schaffen!" "Dein Stolz, du bunter Schmetterling, steht dir schlecht an", erwiderte die Raupe ruhig. "All deine Farbenpracht gibt dir nicht das Recht, mich zu verachten. Wir sind und bleiben Verwandte, so schmähst du dich also selbst. Bist du nicht früher eine Raupe gewesen? Und werden deine Kinder nicht Raupen sein wie du und ich?!"
 
Ada, der Waldgeist
(Fabel aus Kamerun)
Awsang Atikawt war ein großer Jäger und so geschickt, dass er die Jagd nie aufgab, wenn er dem Schwanz eines Tieres erst einmal folgte. Eines Tages klagten die Freunde, mit denen er beisammen saß, wie sehr ihre Felder von Elefanten zerstört worden wären. Atikawt fragte, warum sie die Tiere denn nicht getötet hätten. Aus Furcht, dabei ein Opfer der Elefanten zu werden, erhielt er zur Antwort. Atikawt nannte die Männer Feiglinge. Er würde nicht eher ruhen, bis jeder Elefant erlegt wäre, der es wagen sollte, auf seinen Feldern ein Zeichen zu hinterlassen. Unter den Anwesenden befanden sich aber auch zwei Elefantenmenschen. Einer der beiden erhob sich nun und sprach zu Atikawt: "Hör auf, dich zu brüsten! Die Elefanten werden auch deine Felder leerfressen und ungehindert davonziehen." Da erwiderte Atikawt entschlossen: "Sie sollen es nur versuchen, dann bekommen sie es mit mir zu tun!" Die Elefantenmenschen blickten einander scharf an. Dann kamen sie überein, die Felder des Jägers zu zerstören und abzuwarten, was geschähe. Bald darauf brachten Atikawts Frauen die Nachricht, Elefanten hätten die Felder verwüstet. Der Jäger packte einen Mundvorrat für unterwegs ein, und nachdem sein Jagdbeutel mit allem versehen war, machte er sich gut bewaffnet auf den Weg. Bis in die Dunkelheit folgte Atikawt der Elefantenspur. Während der Nacht ruhte er, an einen Baumstamm gelehnt, aber kaum begann es zu dämmern, nahm er die Verfolgung wieder auf. Er lief und lief, bis es dunkel wurde, dann kletterte er auf einen hohen Baum und verbrachte dort die Nacht. Am folgenden Tag holte er die Elefanten an einem breiten Fluss ein. Als die Elefanten Atikawt mit dem geladenen Gewehr erblickten, nahmen sie sofort wieder menschliche Gestalt an und baten um Schonung. Der Jäger erkannte seine Freunde, die beiden Elefantenmenschen, mit denen er wenige Tage zuvor gestritten hatte, und führte ihnen vor, wie er auf den Stamm eines sehr hohen Baumes schoss. Nachdem die beiden nun gesehen hatten, was für ein großes Stück Holz von dem Schuss weggerissen worden war, flehten sie noch ängstlicher, er möge ihnen nichts antun. Alle Zerstörungen, die sie auf seinen Feldern angerichtet hatten, versprachen sie zu ersetzen. Damit war der Jäger zufrieden, er wandte sich um und kehrte auf dem Weg, den er gekommen war, zurück.
Kaum aber war Atikawt außer Sicht, verwandelten sich die Männer wieder in Elefanten und wandten einen großen Zauber an. Sie ließen einen so heftigen Regenguss herniedergehen, dass der Weg überschwemmt war und der Jäger nicht nach Hause finden konnte. Er lief durch den Wald und hatte sich schließlich verirrt. Nach vielen Stunden befand er sich in einem Teil des Waldes, in dem er vorher nie gewesen war. Als es aufhörte zu regnen, entdeckte er ganz in seiner Nähe ein so prächtiges Haus, wie er noch nie eins gesehen hatte. Es gehörte der Beherrscherin des Waldes, und rings um das Haus lagen Haufen von menschlichen Schädeln und Knochen. Der Jäger glaubte sich schon verloren, da hörte er den Ruf: "Awsang Atikawt!" Er antwortete und sah aus einer schmalen Seitentür ein kleines lahmes Mädchen schlüpfen. Es kam auf ihn zu und erklärte, wie leid es ihr tue, dass er an diesen Unglücksort geraten sei. Ihre Herrin, ein Ungeheuer, verschlinge jeden, der sich in der Nähe ihrer Behausung befände. Mit Hilfe der Zaubermittel, über die sie verfüge, könne sie jeden einholen, der zu fliehen versuche. "Und trotzdem", fuhr das Mädchen fort, "wenn du tust, was ich dir sage, werde ich dich retten und sicher nach Hause bringen. Du darfst aber nichts von dem Essen zu dir nehmen, das meine Herrin dir geben wird." Atikawt dankte dem Mädchen und versprach, nicht ohne ihre Erlaubnis zu essen. "Gut", antwortete die Kleine, "dann nimm das hier", und gab ihm ein Stück essbaren Ton. "Iss davon, und was du von meiner Herrin bekommst, wirf irgendeinem Tier vor. Aber achte darauf, dass sie nichts merkt. In der Nacht wird sie dich mit zu sich nehmen. Sei auch da vorsichtig und hör genau hin, wenn sie zu schlafen scheint. Schnarcht sie laut wie ein Sturm, bleib ganz still liegen, dann ist sie nämlich noch wach. Erst wenn ihr Schnarchen das Haus wie ein Donnerschlag erschüttert, weißt du, dass sie schläft. Dann schleich dich hinaus und komm zu mir. Ich werde dir zwei verschiedene Zauberpflanzen geben, die du auf der Flucht brauchen wirst. Presst du den Saft der ersten auf das Tor, tut es sich auf, und du kannst hindurchgehen. Den Saft der zweiten lass in den Fluss tropfen, er wird austrocknen, und du gelangst an das andere Ufer. Dort darfst du dich aber auf keinen Fall umdrehen, sondern musst die Zauberblätter über deine Schulter ins Wasser werfen. Es wird steigen und die Furt überschwemmen. So kannst du nicht verfolgt und eingefangen werden." In dem Augenblick erklangen Trommeln, erschallten Hörner und alle mögliche Musik war im Abendwind zu hören. Das kleine Mädchen erklärte, dass sich nun ihre Herrin nähere, all die Töne kämen aus ihrem Leib. "Bleib ganz ruhig", sagte das Mädchen noch, dann eilte sie in ihr Versteck. Atikawt wartete, bebend vor Furcht. Als die Waldbeherrscherin angelangt war, brach die Musik ab. Sie trat ganz freundlich auf den Jäger zu und bedeutete ihm, er brauche sich nicht zu fürchten, sie wolle ihn zum Mann nehmen, weil sie schon so lange allein lebe. In ihrem prachtvollen Haus bot sie ihm einen Platz an, und Atikawt setzte sich zitternd, seine Angst war nicht geringer geworden. Ada, so war der Name des Waldgeistes, rief nun nach dem lahmen Mädchen. Es schlenderte herbei und gab vor, geschlafen zu haben. In ihrer Waldgeistsprache sagte Ada und wies dabei auf den Gast: "Morgen haben wir eine gute Fleischmahlzeit!" - "So ist es", antwortete das Mädchen. Am Abend träufelte Ada Zaubersaft in das Essen des Jägers. Er aber erklärte, in seinem Land sei einem Mann wie ihm nur im Ziegenstall erlaubt, etwas zu essen. Da durfte er sich dorthin zurückziehen. Atikawt warf das Essen den Ziegen vor, und in dem Augenblick, als etwas davon den Boden berührte, loderte eine Flamme auf. Der Jäger blieb ruhig und beobachtete, wie das Feuer wieder erlosch und die Ziegen alles auffraßen. Anschließend kehrte er zu Ada zurück. Sie unterhielten sich noch eine Weile und gingen dann schlafen. Vorher hatte Ada aber noch ein scharf zugespitztes Eisen ins Feuer gelegt. Damit wollte sie Atikawt durchbohren, sobald er eingeschlafen war. Nach einer Weile begann sie zu schnarchen, laut wie ein Sturm, wie das lahme Mädchen es beschrieben hatte. Der Jäger verhielt sich ganz still. Aber als sie kurz darauf schnarchte, dass wie von einem Donnerschlag das ganze Haus erbebte, erhob er sich. Auf sein Lager packte er Kissen, breitete eine Decke darüber und verließ den Raum, um das kleine lahme Mädchen zu suchen. Von ihr erhielt er die versprochenen Zauberpflanzen. Nachdem die ersten Tropfen aus der Zauberpflanze auf das Tor gefallen waren, hatte es sich vor Atikawt geöffnet, und auch der Saft aus der anderen Pflanze war kaum mit dem Wasser in Berührung gekommen, da hielt der Fluss sein Wasser zurück und erlaubte ihm, hindurchzuschreiten. Atikawt hatte das andere Ufer noch nicht erreicht, da hörte er Donnergetöse aus dem Haus, das er verlassen hatte. > Jetzt kommt die Waldbeherrscherin<, dachte er. Am anderen Ufer fühlte er sich erst sicher, als er, ohne sich umzublicken, die Zauberpflanze über seine Schulter geworfen hatte. Danach wandte er sich um, weil er sehen wollte, was geschah. Augenblicklich stieg das Wasser, und bald überschwemmten schäumende Fluten die Furt, so dass Atikawt seinen Weg ohne Angst vor Verfolgung fortsetzen konnte. Gegen Mitternacht erwachte Ada, zog das spitze, inzwischen rotglühende Eisen aus dem Feuer und stieß es durch die Kissen, die Atikawt auf seinen Platz gelegt hatte. Sie fingen sofort Feuer. Nun ratet, ob Ada jetzt wohl wütend war! Wie rasend griffen die Flammen um sich, und der Mann, den sie verschlingen wollte, war entflohen. In heißer Erregung nahm sie die Verfolgung auf, vergaß in ihrer Hast aber die Zauberpflanzen, mit denen sie das Wasser hätte zum Stehen bringen können, und musste so am Ufer des reißenden Flusses aufgeben. Dem Mann auf der anderen Flussseite rief sie zu: "Was wirst du dort erzählen, Awsang Atikawt, wo du hingehst?" - "Erzählen werde ich", antwortete der Jäger, "dass ich einer Frau begegnet bin, die allein im Wald lebt und die alle verschlingt, die sie eingefangen hat, einer Frau, die in ihrem Leib Trommeln, blasende Hörner und sogar große Waffen hat, einer Frau, die eine Gefahr ist für jedes menschliche Wesen. Je eher sie getötet wird, desto besser ist es für alle Jäger!" Voller Wut machte Ada kehrt. Atikawt aber setzte seinen Weg fort und wurde zu Hause mit großem Jubel empfangen.
Einige Tage später näherte sich eine wunderschöne Frau der Stadt, in der er lebte. Sie war so kostbar gekleidet, wie man es noch nie gesehen hatte. Auf dem Kopf trug sie eine Kalebasse voller Fleisch. Atikawt trat heraus, um den Gast zu begrüßen und nach seinen Wünschen zu fragen. Da erzählte ihm die Schöne, sie käme aus einer Stadt in der Nähe, die er vor einiger Zeit besucht habe. Sie hätte sich, kaum dass sie seiner ansichtig geworden, sogleich in ihn verliebt. Erst heute sei es ihr gelungen, ihn zu finden, obwohl sie überall nach seinem Namen und seinem Wohnort geforscht habe. Awsang Atikawt lauschte ihrer Schmeichelrede und bezweifelte nicht eines ihrer Worte. Eine von Atikawts Frauen aber war eine Zauberin. Sie fand heraus, dass es sich bei der Besucherin um keine andere handelte als Ada, die Beherrscherin des Waldes, und rief ihren Mann zu sich, um ihn zu warnen. So deutlich es ihr möglich war, gab sie ihm zu verstehen, die schöne Fremde sei in Wirklichkeit jene böse Frau, der er vor kurzem erst entkommen konnte, die mit den Trommeln, den Hörnern, Waffen und allen möglichen Gewaltmitteln im Leib. Atikawt aber lachte nur und meinte, wenn seine Frau den Waldgeist Ada gesehen hätte, wüsste sie, dass die Besucherin überhaupt nicht mit diesem Ungeheuer zu vergleichen wäre. Gegen Abend versuchte Atikawts Frau noch einmal, ihren Mann zu bewegen, die Fremde fortzuschicken, denn sie sei tatsächlich jenes böse Wesen, dessen Grausamkeiten er erst vor wenigen Tagen so eindrucksvoll geschildert hatte. Aber statt ihr zuzuhören, lachte Atikawt noch mehr und hielt seiner Frau vor, sie sei zu eifersüchtig. Einen dritten Versuch unternahm die Frau, als sich Atikawt in der Nacht zu der schönen Fremden legen wollte. Sie nahm ihn beiseite und erklärte ihm, dass er sein Leben verlöre, falls er nicht von seinem Vorhaben abließe, die schöne Besucherin, in Wahrheit Ada, der Waldgeist, würde ihn töten. Aber Atikawt blieb hartnäckig, und die Frau sah, alle Warnungen waren zwecklos. Dennoch beschloss sie, alles zu tun, was in ihrer Macht stand, denn sie war viel zu besorgt, um ihn unbewacht schlafen zu lassen. An dem Platz, wo die Jagdhunde ihres Mannes waren, tat sie, als suche sie etwas, und wählte indessen zwei von den wildesten Hunden aus. Während sie die beiden streichelte und liebkoste, wisperte sie ihnen zu, dass sie in dieser Nacht ihren Herrn bewachen müssten, die Fremde wolle ihm ans Leben. Es waren Zauberhunde, wie die Frau wohl wusste. Als sie nun traurig ins Haus gegangen war, nicht etwa, um zu schlafen - bewahre -, da erhoben sich die Hunde und schlichen dorthin, wo Atikawt an der Seite der Fremden lag. Einige Stunden verstrichen, und alles blieb still. Ada, denn sie war es ja, nur verwandelt in eine schöne Frau, Ada war sicher, dass es ihr jetzt glücken würde, Atikawt zu töten. Sie schlug sich auf den Leib, da sprang das rotglühende spitze Eisen heraus. Ada holte aus, um den Mann an ihrer Seite im Schlaf zu töten, aber schon bei der ersten Bewegung sprangen die Hunde auf und warfen sich mit fürchterlichem Gebell auf sie. Der Jäger schrak auf, und Ada, voller Zorn, schlug noch einmal auf ihren Leib, das rotglühende Eisen sprang hinein und war verborgen. Dann tat sie so, als wäre auch sie von den Hunden geweckt worden, und sagte, dass sie mit den Hunden in einem Raum nicht schlafen könne. Also erhob sich Atikawt, schlug die Hunde, die ihm doch das Leben gerettet hatten, und kettete sie auf der Veranda an. Während er sich beeilte, zu seinem Gast zurückzukommen, schlich sich Atikawts zauberkundige Frau aus ihrem Raum, befreite die Hunde und flüsterte ihnen zu, dass sie wachen sollten wie bisher. Als Ada den Jäger wieder schlafend wusste, erhob sie sich erneut, schlug auf ihren Leib, und das rotglühende Eisen erschien ein zweites Mal. Da sprangen die Hunde durchs Fenster, packten sie und bellten so laut wie zuvor. Von dem Lärm erwachte Atikawt, und in dem Augenblick krähte der Hahn. Dieser Laut versetzte Ada in höchste Erregung, sie sagte zu Atikawt, dass sie sich unverzüglich auf den Weg machen müsse, er möge doch die Hunde einsperren und sie begleiten. Der Mann war so einfältig, dass er nicht nur alles tat, was sie sagte, sondern auch noch den Raum, in dem er die Hunde gelassen hatte, so fest verschloss, dass niemand an sie herankam, solange er fort war. Unterwegs forderte die Fremde Atikawt auf, voranzugehen, sie wollte ihm folgen. Aber dem widersetzte er sich, und dies war die erste und sehr nötige Weigerung gegenüber der Fremden, der nun, weil Atikawt hinter ihr ging und sehen konnte, was sie vorhatte, die Hände gebunden waren. Aber bald hatte sie sich einen Plan ausgedacht. Nahe am Weg stand ein Baum, an dem viele Früchte wuchsen. Ada bat den Jäger, hinaufzuklettern und ihr Früchte zu pflücken. Aber kaum war Atikawt ihrem Wunsch gefolgt, ließ sie den Baum durch Zauberkraft wachsen und wachsen, bis er höher war als jeder Baum auf der Welt. Dann schlug sie wieder auf ihren Bauch. Ungefähr zwanzig bewaffnete Männer sprangen heraus, umringten den Baum und schrien zu dem Jäger hinauf: "Nun, flieg doch!" Auch Ada fing an zu prahlen und rief ihm zu: "Du kannst schauen und schauen, wohin du willst, du siehst nur Schlimmes!" Als Atikawt das alles sah und hörte, fielen ihm die Warnungen seiner Frau wieder ein, und er verstand nun auch, warum die Hunde in der Nacht so sehr gebellt hatten. Von der Spitze des Baumes aus, wo er sich festgeklammert hatte, sah er seine Stadt und dachte daran, dass er die Hunde auch noch eingesperrt hatte. Er rief nach ihnen und weinte bitterlich über seine Dummheit. Inzwischen befahl Ada ihren Männern, den Baum zu fällen. Da nahmen die Männer ihre Äxte und schlugen auf den Baum ein. Als die Schläge einer nach dem anderen fielen, flog ein Papagei vorüber, sah, was da vorging, und brachte die Kunde eilends in Atikawts Haus. Sie sollten sofort die Hunde loslassen, riet er, sonst würde der, der am Morgen das Haus verlassen hätte, niemals wiederkehren. Andere hätten verzweifelt aufgegeben, als es einfach nicht gelingen wollte, die Hunde frei zu bekommen, aber Atikawts zauberkundige Frau, die nur zu gut wusste, dass ihr Mann verloren war, wenn die Tiere ihren Herrn nicht rechtzeitig erreichten, nahm einen Stein, schlug auf die Ketten ein, bis sie zerbrachen, und schickte die Hunde dann in die Richtung des Baumes. Sie hatten kaum die Hälfte des Weges geschafft, da fiel der Baum, prallte aber glücklicherweise gegen einen anderen und schlug nicht auf der Erde auf. Ada erteilte den Befehl, auch den zweiten Baum zu fällen, damit Atikawt endlich in ihre Macht geriete. Wieder machten sich die Männer an die Arbeit, und als auch dieser Baum fiel, hatten die Hunde den Platz erreicht. Der wildeste von allen, er hieß Oro Njaw, warf sich sofort auf Ada, die anderen stürzten sich auf die Männer und zwangen sie zur Flucht. Viele wurden getötet, nur wenige vermochten zu entkommen. Ada selbst wurde in Stücke gerissen.
So endet die Geschichte von Awsang Atikawt, dem berühmten Jäger, und Ada, der schrecklichen Beherrscherin des Waldes, die in ihrem Leib alle Musik der Welt trug und auch alle Waffen, die je geschmiedet wurden. Und wir sehen, die Verschwörung der zwei Elefantenmenschen, die Felder des Jägers zu zerstören, hat uns einen großen Dienst erwiesen: den Tod von Ada, der Beherrscherin des Waldes, hat sie herbeigeführt. Atikawt muss tatsächlich ein großer Jäger gewesen sein, denn er hat den Wald von einem so grausamen Ungeheuer befreit.
 
Die Katze und die Frau
(Fabel aus Afrika)
Vor langer, langer Zeit lebte die Katze nicht in den Häusern der Menschen, sondern wild im Busch. Sie fühlte sich aber einsam und dachte, sie wolle sich einem starken und mächtigen Wesen anschließen. Zuerst schloss sie Freundschaft mit dem Hasen und begleitete ihn überall hin. Eines Tages aber bekam der Hase Streit mit einem Hirsch; dieser kämpfte gegen den Hasen und tötete ihn mit dem Geweih. So zog die Katze mit dem Hirsch weiter. Eines Tages aber sprang aus einem Hinterhalt ein Leopard auf den Hirsch und brachte ihn um. Die Katze gedachte, sich an den Leoparden zu halten; als dieser sich aber an dem Fleisch des Hirschs gütlich tun wollte, erschien ein Löwe und vertrieb den Leoparden mit ein paar Prankenhieben. So lebte die Katze mit dem Löwen zusammen und glaubte, endlich den mächtigsten Begleiter gefunden zu haben. Eines Tages aber stießen Löwe und Katze auf eine Elefantenherde. Die Katze kletterte geschwind auf einen Baum, der Löwe jedoch wurde von den Elefanten zertrampelt. Die Katze dachte: "Größere und stärkere Tiere als die Elefanten gibt es nicht. Mit ihnen muss ich Freundschaft schließen." Die Katze überlegte noch, wie sie das anstellen sollte, als ein Jäger aus einem Busch heraus einen giftigen Pfeil auf den Elefanten abschoss: Tot sank dieser zu Boden und die restliche Herde raste in panischem Schrecken davon. Die Katze, immer noch auf dem Baum, dachte weiter nach: "Dieses seltsame zweibeinige Wesen sieht zwar nicht besonders stark aus - aber es hat doch den Elefanten überwunden. Ich muss versuchen, mit diesem Fremdling Freundschaft zu schließen." Also folgte sie, wenn auch in sicherem Abstand, dem Jäger bis zu dessen Haus. Sie wartete schüchtern einstweilen vor dem Haus, als der Jäger hineinging. Bald war aus dem Hause fürchterliches Schreien und Schimpfen zu hören: Die Tür flog auf, und heraus rannte der Jäger, hinter ihm drein die Frau, die ihn mit einer Holzkelle schlug. Da sagte sich die Katze: "Nun endlich habe ich das stärkste aller Lebewesen gesehen, dasjenige vor dem sich auch jener, der den Elefanten überwunden hat, fürchtet! Mit diesem Wesen will ich zusammenleben!" Und ging ins Haus und in die Küche.
 
Popol Vuh - Die Schöpfung der Maya
Das "Popol Vuh", das heilige Buch der Maya wurde niedergeschrieben, lange bevor die Maya in Guatemala mit den Europäern und der über den Ozean mitgebrachten christlichen "Bibel" in Berührung kamen. Im "Popol Vuh" stehen sinngemäß folgende Worte:
"Hier ist nun zu berichten, wie einst die Welt in tiefem Schweigen schwebte, in tiefer Ruhe schwebte, in Stille verharrte, sanft sich wiegte, einsam dalag und öde war. Und dies ist die erste Kunde, die erste Aussage: Es gab keinen Menschen, kein Tier . . . - - einzig und allein der Himmel war da. Unsichtbar war das Antlitz der Erde, einzig und allein das Meer staute sich unter dem Himmelsgewölbe, das war alles. Kein Ding gab es, das sich zu etwas gestaltet hätte, das auch nur ein wenig sich hätte vernehmen lassen, kein einziges, das sich ein wenig geregt, das gerieselt oder gerauscht hätte im Himmel; rein nichts gab es, was gewesen wäre, was ein Dasein gehabt hätte. Nur Wasser staute sich, nur das Meer lag ruhig da, eine einzige Stauung, rein nichts gab es, was etwa sonst noch gewesen wäre. Nur Ruhe war und Stille in Dunkelheit und Nacht. Die alten Mayagötter langweilten sich in dieser regungslosen Unendlichkeit. So schieden sie die Wasser, und die Erde tauchte auf. Dann machten sie sich daran, sie mit Bäumen und Blumen zu schmücken und die neugeborene Welt großzügig mit Vögel und Fische und allerhand anderen Tieren zu beleben. Nun hatten die Götter etwas für das Auge, was sie alsbald in bessere Laune versetzte. Nach einiger Zeit wurde ihnen allerdings klar, daß sie etwas Wesentliches vergessen hatten: Die Tiere konnten nicht sprechen! Sie waren nicht einmal imstande, den Göttern zu danken, die sie in die Welt gesetzt und die für Futter und Trank gesorgt hatten. Der Gott, dem die Tiere unterstanden, mußte sich ernsthafte Vorwürfe von Seiten der anderen gefallen lassen. Dann machte man sich aufs Neue an´s Experimentieren. Sie formte einen gottähnlichen Menschen aus feuchtem Lehm. Der konnte zwar sprechen, hatte aber nicht genug Verstand, um diese Gabe nach dem Wunsch der Götter zu gebrauchen. Also wurde er auf den Abfallhaufen geworfen."Erfahrung macht den Dummen klug!" Er schlug einen neuen Versuch vor, nur sollte diesmal Holz verwendet werden, ein etwas edleres Material als Lehm. Tatsächlich ging es diesmal besser. Der hölzerne Mann konnte nicht nur sprechen, sondern auch denken. Man gab ihm eine hölzerne Frau, und sie vermehrten sich und verbreiteten sich über die Erde. Der einzige Haken dabei war, dass sie vergaßen, ihren Verstand gemäß dem Willen der Götter zu verwenden. Sie waren so sehr damit beschäftigt, zu essen, zu trinken und hölzerne Kinder in die Welt zu setzen, daß sie den himmlischen Mächten auch nicht einen Gedanken weihten. Sie benahmen sich keinen Deut besser als die Tiere. Da beschlossen die Götter, mit der ganzen Bevölkerung der Erde kurzen Prozeß zu machen. So kam es zur Sintflut. Obwohl die Holzmenschen schwimmen konnten erging es auch ihnen schlecht. Sie mussten auf den höchsten Bäumen Zuflucht suchen, und als die Wasser wieder sanken, hatten sie völlig vergessen, daß sie eigentlich am Boden beheimatet waren. Sie wurden zu den Vorvätern der Affen, die heute noch in den Bäumen des Dschungels leben und sich dumm und vulgär benehmen. Doch ihnen schenkten die Götter keine Beachtung mehr. Die Götter waren der Experimente müde. Der energischte von ihnen aber erklärte, er wolle noch einen letzten Versuch unternehmen. Diesmal beschloß er, einen Menschen aus Maismehl zu formen. Um allfälligen Fehlern beim Formen vorzubeugen, schuf er mit der gleichen Form vier Exemplare. Diesmal war der Versuch ein voller Erfolg: Die vier neuen Menschen konnten sowohl sprechen, als auch ihre Schöpfer preisen. Nur stellten sie sich als so intelligent heraus, daß die Götter sich Sorgen machten und erklärten, nun sei es des Guten etwas zuviel. Also riefen sie den Gott der Winde Hurakan. Hurakan blies dicke Wolken vor die Augen der allzu klugen Menschen und vernebelte ihren Blick, so daß sie künftig nur zu sehen vermochten, was auf der Erde vorging, während die Götter im Himmel fortan in Frieden leben konnten. Die vier frisch erschaffenen Maismenschen versanken nach den ersten Anstrengungen in tiefen Schlaf. Die Mayagötter sahen ein, dass es für den Menschen nicht gut sei, allein zu sein. sie benutzten den Schlaf der vier Männer dazu, vier Frauen zu erschaffen. Bereits am nächsten Morgen hörten die vier Maismänner beim Aufwachen ein rhythmisches Klappen: Die Maisfrauen waren dabei, frische Tortillas für das Frühstück zu bereiten. Die Götter wiegten sich bequem in ihren Hägematten, ließen ihre Blicke über die Erde schweifen und fanden alles sehr gut. Das Volk der Maya aber stammt von diesen vier Maispaaren ab.
 
Als entschieden wurde, den Menschen zu schaffen
(aus Mittelamerika / Maya)
Hier ist nun der Anfang, als entschieden wurde, den Menschen zu erschaffen, und was in das Fleisch des Menschen eingehen sollte, wurde gesucht. Und die Vorväter, der Schöpfer und der Macher, die genannt wurden Tepeu und Gucumatz, sagten: "Die Zeit des Morgengrauens ist gekommen, lasst uns das Werk beenden. Lasst jene, die uns ernähren und erhalten sollen, erscheinen, die edlen Söhne, die zivilisierten Vasallen, lasst den Menschen erscheinen. Lasst die Menschlichkeit entstehen im Gesicht der Erde." Also sprachen sie. Sie versammelten sich und hielten Rat in der Dunkelheit und in der Nacht. Sie redeten und suchten. Sie dachten nach und grübelten. Auf diese Art kam ihre Entscheidung klar ans Licht. Sie fanden und entdeckten, was eingehen sollte in das Fleisch des Menschen. Es war, gerade ehe die Sonne, der Mond und die Sterne erschienen über dem Schöpfer und dem Macher. Von Paxil, von Cayalá kamen die Sprossen des gelben Mais und die Sprossen des weißen Mais. Und dies sind die Namen jener Tiere, die die Nahrung brachten: yac (die Gebirgskatze), utiú (der Kojote), quel (ein kleiner Papagei) und bob (die Krähe). Diese vier Tiere riefen den gelben Mais und den weißen Mais und wiesen den Pflanzen den Weg. So erfanden sie die Nahrung, und dies war es, was in das Fleisch des erschaffenen Menschen einging; dies war es, woraus das Blut des Menschen gemacht wurde. Und die Menschen waren erfüllt von Freude, weil sie ein schönes Land vorfanden, voll der Freuden, üppig gefüllt mit weißem und gelbem Mais und voll unzähliger anderer Früchte und Honig. Es gab Nahrung in Hülle und Fülle in jenen Dörfern, die Paxil und Cayalá hießen. Es gab Nahrung aller Art, kleine und große Nahrung, kleine Pflanzen und große Pflanzen. Die Tiere wiesen dem Mais den Weg. Und dann mahlend den gelben und weißen Mais machte Xmucané neun Getränke. Davon kam Stärke. So wurden den Menschen Muskeln. Dies taten die Vorväter, Tepeu und Gucumatz wurden sie genannt. Danach begannen sie über die Schöpfung zu reden, über die Schöpfung unserer ersten Mutter und unseres ersten Vaters. Der gelbe und weiße Mais waren ihr Fleisch. Maismehl war es, aus dem sie die Arme und die Beine des Menschen machten. Nur Teig von Maismehl wurde verwendet für das Fleisch unserer ersten Väter. Vier Männer wurden erschaffen. Und dies waren ihre Namen: Balam-Quitzé, Balam-Acab, Mahucutah und Iqui-Balam. Es ist überliefert, dass sie gemacht und geformt wurden, dass sie selbst keine Mutter und keinen Vater hatten. Man nannte sie nur Menschen. Sie wurden nicht von einem Weib geboren, noch wurden sie vom Schöpfer oder vom Macher gezeugt. Und da sie das Aussehen von Menschen hatten, waren sie Menschen. Sie redeten, sahen, hörten, gingen, griffen nach Dingen. Sie waren gut und schön. Ihre Gestalt war die Gestalt des Menschen. Sie waren begabt mit Verstand. Sie sahen. Und sofort sahen sie weit, und es gelang ihnen zu sehen und zu wissen all das, was in der Welt war. Sie schauten, und sofort sahen sie alles rings um sich, und bei angestrengtem Sehen sahen sie über den ganzen Bogen des Himmels und über das ganze Gesicht der Erde hin. Alle Dinge, verborgen in der Ferne, sahen sie, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Groß war ihr Wissen, und ihr Sehen erreichte die Wälder, die Felsen, die Seen, die Meere, die Gebirge und die Täler. Wirklich, es waren bewunderungswürdige Menschen. Da sprachen der Schöpfer und der Macher zu ihnen: "Wie denkt ihr über euer Sein. Seht ihr nicht? Hört ihr nicht? Ist es nicht gut, dass ihr sprechen und gehen könnt? Schaut also. Vertieft euch in die Welt, seht die Gebirge und die Täler erscheinen. Versucht, sie zu schauen." Dies sagten sie zu den ersten vier Männern. Und augenblicklich sahen die ersten vier Männer, was da alles ist auf der Welt. Dann dankten sie dem Schöpfer und dem Macher: "Wirklich, wir danken euch zwei- und dreimal. Wir sind erschaffen worden. Wir haben einen Mund, ein Gesicht. Wir sprechen, wir hören, wir denken, wir gehen, wir fühlen uns vollkommen, und wir wissen, was weit und was nah ist. Wir sehen, was groß und was klein ist im Himmel und auf Erden." Sie waren fähig, alles zu wissen, und sie betrachteten die vier Ecken, die vier Punkte des Himmelsbogens und das ganze runde Gesicht der Erde. Aber der Schöpfer und der Macher hörten das gar nicht gern: "Es ist nicht gut, dass unserer Arbeit Ergebnis, unsere Geschöpfe, sagen, sie wüssten alles, Großes und Kleines", so sprachen sie. Und also hielten die Vorväter wieder Rat. "Was sollen wir mit ihnen machen? Richten wir es so ein, dass sie nur sehen, was nahe ist. Lasst sie nur wenig sehen vom Gesicht der Erde. Es ist nicht recht, was sie sagen. Wer weiß, vielleicht sind sie doch nicht einfach Geschöpfe unserer Hervorbringung? Vielleicht sind sie auch Götter? Und wenn sie sich nicht vermehren, was wird beim Morgengrauen geschehen, wenn die Sonne aufgeht?" Also sprachen sie. "Lasst uns ihre Wünsche etwas einschränken. Denn so ist es nicht recht. Sie sollten wirklich nicht uns gleich und ebenbürtig sein." Also sprachen die Vorväter, der Schöpfer und der Macher. Also sprachen sie und veränderten das Wesen ihrer Kreaturen. Das Herz des Himmels blies Nebel in die Augen der ersten Männer. Ihr Blick wurde getrübt wie ein Spiegel, auf den man haucht. Ihre Augen wurden abgedeckt. Sie konnten nur noch sehen, was nahe und was deutlich war. Auf diese Art wurde die Weisheit und all das Wissen der vier ersten Männer zerstört. Dann wurden die Frauen gemacht. Gott selbst machte sie sorgfältig. Und so im Schlaf tauchten sie plötzlich auf, wahrhaftig und schön, die Frauen des Balam-Quitzé, Balam-Acab, des Mahucutah und des Iqui-Balam. Sie waren ihre Frauen, und als sie erwachten und sie fühlten, war sofort ihr Herz mit Freude erfüllt, weil sie nun Frauen hatten... Viele Menschen wurden gemacht, und in der Dunkelheit vermehrten sie sich. Weder die Sonne noch das Licht waren bisher gemacht, als sie sich so vermehrten. Alle lebten zusammen. Es gab sie in großer Zahl, und sie gingen dort im Osten umher. Sie sorgten nicht für ihren Gott. Sie schauten zum Himmel, aber sie wussten nicht, warum es soweit gekommen war. Sie waren vorhanden in großer Zahl: die schwarzen Menschen und die weißen Menschen, Menschen vieler Klassen, Menschen vieler Zungen, und es war herrlich, ihnen zuzuhören. Es gibt Generationen auf der Welt, es gibt Völker in Ländern, deren Gesicht wir nicht sehen, die kein Heim haben. Sie wandern nur durch die kleinen und großen Wälder wie Verrückte. So spricht man verächtlich von den Menschen des Waldes. So redeten sie dort, wo sie die aufgehende Sonne sahen. Die Rede von allen war gleich. Sie beschworen nicht Holz noch Stein. Sie erinnerten sich des Wortes des Schöpfers und des Machers, des Herzens des Himmels, des Herzens der Erde. Und dies sprachen sie, während sie an das Heraufziehen der Morgendämmerung dachten. In diesen Worten beteten sie zu Gott, liebend, gehorsam, furchtvoll. Sie blickten zum Himmel, wenn sie um Söhne und Töchter baten und sprachen: "Oh, du, Schöpfer und Macher! Schaut auf uns, hört uns an. Verlasst uns nicht, gebt uns nicht auf. Oh, Gott, der du bist im Himmel und auf Erden, Herz des Himmels, Herz der Erde, gib uns Nachkommen, solange die Sonne sich bewegt, und Licht ist. Lass den Tag anfangen. Gib uns viele gute Straßen, flache Straßen. Mögen die Völker Frieden haben, viel Frieden, und mögen sie glücklich sein. Gib uns ein gutes Leben, eine sinnvolle Existenz. Oh, ihr, Huracáb, Chipi-Caculgá, Raxa-Caculhá, Chipi-Nanauac, Raxa-Nanauac, Voc, Hunahpú, Tepeu, Gucumatz, Alom, Quaholom, Xpiyacoc, Xmucané, Großmutter der Sonne, Großmutter des Lichts, lass es tagen, lass das Licht kommen." Und so sprachen sie und beteten das Aufgehen der Sonne herbei, die Ankunft des Tages. Und zur selben Zeit sahen sie das Aufgehen der Sonne. Sie dachten an den Morgenstern, den Großen Stern, der vor der Sonne kommt, der das Himmelsgewölbe erleuchtet und die Oberfläche der Erde, der die Schritte der Menschen erhellt, die geschaffen worden waren und gemacht.