Fabeln, Legenden, Märchen ...

Der Fliegende Holländer (Teil 3)
- "Schlagt den Rebellen in Ketten."
Der junge Offizier trat ganz nahe an ihn heran:
- "Mich wunderts, dass Ihr das Richteramt nicht stehenden Fußes ausübt und mich dahin sendet, wohin Ihr meinen Oheim und Euer Weib gesendet habt, sollte es auch abermals in momentanem Wahnsinn geschehen."
Da wich alles Blut aus dem Gesicht des Kapitäns, seine Hände ballten sich krampfhaft und der Schaum trat ihm vor den Mund. Er griff nach dem Dolch, ein Stoß, und der junge Mann lag röchelnd am Boden. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr den Offizieren, die ihrem sterbenden Kameraden zu Hilfe eilten.
- "Jesus Maria und Joseph!"
Schrie ein junger Portugiese, der hoch auf dem Spill stand, und deutete mit der Hand vor sich hin. Durch die Finsternis wurde die unförmige Gestalt eines riesenhaften Schiffes sichtbar und schwankte geräuschlos vor dem Bug der Gelderland vorüber.
Es war der Fliegende Holländer! Mit stillem Grauen starrten die Matrosen die unheilvolle Erscheinung an, die sich langsam fortbewegte und endlich im Nebel verschwand.
Der Kapitän zog sich in seine Kajüte zurück. Die Offiziere standen auf einem Haufen zusammengedrängt und berieten miteinander, während einige unerschrockene Toppmänner die Leiche des jungen Mannes unter Deck trugen.
Die Leute rannten in großer Unordnung durcheinander. Keine Ermahnung, kein Befehl vermochte sie zur Ruhe zu verweisen. Sie verweigerten den Gehorsam und schickten sich an, Gewalt mit Gewalt zu beantworten.
So ging die Nacht vorüber und der anbrechende Morgen fand den Aufruhr im vollen Gange. Aber als der erste Strahl des Tages über das Deck hinflog, wich der Zorn von den erbleichenden Gesichtern, denn das gespenstische Schiff des entsetzlichen Vanderdecken dehnte sich vor ihnen auf den Wogen und seine Schaluppe stieß von Bord. Mit Entsetzen sahen Offiziere und Matrosen diesem Schauspiel regungslos zu. Nur der Kapitän blickte trotzig um sich. Auf seinem Gesicht sah man keine Furcht und halb drohend halb spottend rief er über das Deck hin:
- "Haltet ein starkes Tauende bereit, um es diesem Burschen zuzuwerfen. Wir wollen hören, was er uns zu sagen hat."
Vanderdecken sendet Grüße
Dieser Befehl ward nicht befolgt, denn alle starrten nach der Schaluppe, die ohne Ruder über die Wellen glitt und gerade auf die Gelderland zuhielt. Nur ein Mann befand sich darin und starrte das Schiff unverwandten Blickes an.
Zum ersten Mal beschlich jetzt ein Gefühl der Furcht das Herz des Kapitäns und er unterließ es, seinem Befehl den gehörigen Nachdruck zu geben. Auch sein Auge haftete auf der Schaluppe, die jetzt den Bug streifte und darauf am Fallreep des Steuerbords wie gefesselt lag. Der Seemann, der sich darin befand, stieg das Deck hinan, ging gerade auf den Kapitän zu, der sich an die Spitze seiner Offiziere gestellt hatte und fragte mit einer hohlen Grabesstimme:
- "Wer seid Ihr und woher kommt Ihr?"
- "Wir kommen von Amsterdam. Dies ist das Schiff Gelderland und ich bin Claas van Belem, ihr Kaptain."
- "Claas van Belem, Ihr wollt so gut sein, diese Briefe, die Euch mein Kapitän, Mynheer Vanderdecken, sendet, mit nach Holland zu nehmen und sie gewissenhaft zu besorgen."
- "Was fällt Euch ein? Wann soll ich diese Briefe besorgen? Jetzt segle ich nach Batavia und erst in sieben Jahren kehre ich nach Amsterdam zurück."
- "Eine kurze Frist! Ihr kehrt immer noch früher zurück als wir, denn wir kreuzen hier in der Tafelbai ohne Ende. Nehmt die Briefe!"
Der Ton des gespenstischen Seemannes war dringend, Mitleid erregend und furchtbar zugleich. Der Blick, den er auf den Kapitän warf, verwirrte diesen so sehr, dass er die Hand ausstreckte und zum großen Entsetzen aller die Briefe annahm. In diesem Augenblick hob sich eine hohe Gestalt über die Galerie des Gespensterschiffes empor. Sie breitete die Arme aus, wie zum Gruße, dann brachte sie das Sprachrohr an den Mund und rief über das Meer hin:
- "Grüßt die Heimat!"
Und gleich darauf war sie wieder verschwunden.
- "Das ist Vanderdecken!"
sprach der gespenstische Seemann.
- "Er sendet nur dem einen Gruß, den er dieser Ehre besonders wert hält."
Und als er das gesagt hatte, war er vom Deck und seine Schaluppe vom Fallreep verschwunden, das Gespensterschiff aber schien vor den Augen der ganzen Mannschaft in den Abgrund zu sinken. Der Kapitän hielt noch immer die Briefe vor sich hin und las:
- "An den ehrenwerten Kaufmann, Mynheer Berend van den Stagen, wohnhaft Stubenhuik."
Der erste Offizier unterbrach ihn:
- "Das Haus Berend van Stagen ist bereits verschollen und Stubenhuik seit länger als hundert Jahren niedergerissen, um an dieser Stelle eine neue Kirche zu bauen. Ihr seht, der Fliegende Holländer ist nun doch bei uns an Bord gewesen und wir sind verloren."
Der ausbrechende Sturm verschlang seine Worte und brachte die Tafelbai in solche Aufregung, dass das Schiff binnen wenigen Minuten m die äußerste Gefahr geriet. Schwere Gewitterwolken senkten sich immer tiefer herab und umleuchteten es mit ihren Blitzen. Der Notschrei der Mannschaft verhallte ungehört im Brausen des Sturmes Das Schiff Gelderland ist nie in Batavia angekommen.
- 1.jpg
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Häßliche Entlein (Teil 1)
(Hans Christian Andersen)
Es war so herrlich draußen auf dem Lande! Es war Sommer, das Korn stand gelb, der Hafer war grün, das Heu unten auf den grünen Wiesen in Schobern aufgesetzt und der Storch ging auf seinen langen, roten Beinen und plapperte Ägyptisch, denn diese Sprache hatte er von seiner Frau Mutter gelernt. Rings um die Äcker und die Wiesen waren große Wälder und mitten in den Wäldern gab es tiefe Seen. Ja, es war wirklich herrlich draußen auf dem Lande!
Mitten im Sonnenschein lag ein altes Landgut, welches von tiefen Kanälen umgeben war. Von der Mauer bis zum Wasser herunter wuchsen große Klettenblätter, die so hoch waren, dass kleine Kinder unter den höchsten sogar aufrecht stehen konnten. Es war ebenso wild darin wie im tiefsten Walde.
Hier saß eine Ente auf ihrem Neste, welche ihre Jungen ausbrütete. Aber es wurde ihr fast zu langweilig, ehe die Jungen kamen. Außerdem erhielt sie selten Besuch, denn die anderen Enten schwammen lieber in den Kanälen umher, als dass sie hinaufliefen, um mit ihr zu schnattern.
Endlich platzte ein Ei nach dem andern.
»Piep, piep!«
sagte es, und alle Eidotter waren lebendig geworden und streckten den Kopf heraus.
»Rapp, rapp!«
antwortete sie. da rappelten sich alle, was sie konnten, und sahen nach allen Seiten unter die grünen Blätter. Die Mutter ließ sie sehen, soviel sie wollten, denn das Grüne ist gut für die Augen.
»Wie groß ist doch die Welt!«
sagten alle Jungen, da sie nun ganz anders Platz hatten als vorher, wo sie noch drinnen im Ei lagen.
»Glaubt ihr, dass dies die ganze Welt sei?«,
sagte die Mutter.
»Die erstreckt sich noch weit über die andere Seite des Gartens, gerade hinein in des Pfarrers Feld; aber da bin ich noch nie gewesen! Ihr seid doch alle beisammen?«
fuhr sie fort und stand auf.
»Nein, ich habe nicht alle, das größte Ei liegt noch da, wie lange soll denn das dauern? Jetzt bin ich es bald überdrüssig!«
Und so setzte sie sich wieder.
»Nun, wie geht es?«
fragte eine alte Ente, welche gekommen war, um einen Besuch abzustatten.
»Es währt so lange mit dem einen Ei!«
sagte die Ente, die da saß.
»Es will nicht platzen; doch sieh nur die andern an: Sind es nicht die niedlichsten Entlein, die man je gesehen? Sie gleichen allesamt ihrem Vater; der Bösewicht kommt nicht, mich zu besuchen.«
»Lass mich das Ei sehen, welches nicht platzen will!«
sagte die Alte.
»Glaube mir, es ist ein Kalekutenei! Ich bin auch einmal so angeführt worden und hatte meine große Sorge und Not mit den Jungen, denn ihnen ist bange vor dem Wasser! Ich konnte sie nicht hineinbringen; ich rappte und schnappte, aber es half nichts. - Lass mich das Ei sehen! Ja, das ist ein Kalekutenei! Lass es liegen, und lehre lieber die andern Kinder schwimmen.«
»Ich will doch noch ein bisschen darauf sitzen«,
sagte die Ente.
»habe ich nun so lange gesessen, so kann ich auch noch einige Tage sitzen.«
»Nach Belieben«,
sagte die alte Ente und ging von dannen. Endlich platzte das große Ei.
»Piep, piep!«
- 1.jpg
sagte das Junge und kroch heraus. Es war so groß und hässlich! Die Ente betrachtete es:
»Es ist doch ein gewaltig großes Entlein«,
sagte sie.
»keins von den andern sieht so aus; sollte es wohl ein kalekutisches Küchlein sein? Nun, wir wollen bald dahinterkommen; in das Wasser muss es, sollte ich es auch selbst hineinstoßen.«
Am nächsten Tage war schönes, herrliches Wetter; die Sonne schien auf alle grünen Kletten. Die Entleinmutter ging mit ihrer ganzen Familie zu dem Kanale hinunter. Platsch, da sprang sie in das Wasser.
»Rapp, rapp!«
sagte sie, und ein Entlein nach dem anderen plumpste hinein; das Wasser schlug ihnen über dem Kopf zusammen, aber sie kamen gleich wieder empor und schwammen so prächtig; die Beine gingen von selbst, und alle waren sie im Wasser; selbst das hässliche graue Junge schwamm mit.
»Nein, es ist kein Kalekut«,
sagte sie.
»Sieh, wie herrlich es die Beine gebraucht, wie gerade es sich hält; es ist mein eigenes Kind! Im Grunde ist es doch ganz hübsch, wenn man es nur recht betrachtet. Rapp, rapp! - Kommt nur mit mir, ich werde euch in die große Welt führen, euch im Entenhof präsentieren; aber haltet euch immer nahe bei mir, damit niemand euch trete, und nehmt euch vor den Katzen in acht!«
Und so kamen sie in den Entenhof hinein. Da drinnen war ein schrecklicher Lärm, denn da waren zwei Familien, die sich um einen Aalkopf bissen, und am Ende bekam ihn doch die Katze.
»Seht, so geht es in der Welt zu!«
sagte die Entleinmutter und wetzte ihren Schnabel, denn sie wollte auch den Aalkopf haben.
»Gebraucht nun die Beine!«
sagte sie.
»Seht, dass ihr euch rappeln könnt, und neigt euern Hals vor der alten Ente dort; die ist die vornehmste von allen hier; sie ist aus spanischem Geblüt, deshalb ist sie so dick, und seht ihr: sie hat einen roten Lappen um das Bein; das ist etwas außerordentlich Schönes und die größte Auszeichnung, welche einer Ente zuteil werden kann. Das bedeutet so viel, dass man sie nicht verlieren will und dass sie von Tier und Menschen erkannt werden soll! - Rappelt euch! - Setzt die Füße nicht einwärts: ein wohlerzogenes Entlein setzt die Füße weit auseinander, gerade so wie Vater und Mutter, seht: so! Nun neigt euern Hals und sagt: Rapp!«
Und das taten sie; aber die andern Enten ringsumher betrachteten sie und sagten ganz laut:
»Sieh da! Nun sollen wir noch den Anhang haben; als ob wir nicht schon so genug wären! Und pfui! Wie das eine Entlein aussieht; das wollen wir nicht dulden!«
Und sogleich flog eine Ente hin und biss es in den Nacken.
»Lass es gehen«,
sagte die Mutter;
»es tut ja niemandem etwas!«
»Ja, aber es ist zu groß und ungewöhnlich«,
sagte die beißende Ente,
»und deshalb muss es gepufft werden.«
»Es sind hübsche Kinder, welche die Mutter hat«
sagte die alte Ente mit dem Lappen um das Bein.
»Alle schön, bis auf das eine, das ist nicht geglückt, ich möchte, dass sie es umarbeiten könnte.«
»Das geht nicht, Ihro Gnaden!«
sagte die Entleinmutter.
»Es ist nicht hübsch, aber es hat ein innerlich gutes Gemüt und schwimmt so herrlich wie eines von den andern, ja ich darf sagen, noch etwas besser; ich denke, es wird hübsch heran wachsen und mit der Zeit etwas kleiner werden; es hat zu lange in dem Ei gelegen und deshalb nicht die rechte Gestalt bekommen!«
Und so zupfte sie es im Nacken und glättete das Gefieder.
»Es ist überdies ein Entrich«,
sagte sie.
»Und darum macht es nicht soviel aus. Ich denke, er wird gute Kräfte bekommen; er schlägt sich schon durch!«
»Die andern Entlein sind niedlich«,
sagte die Alte.
»Tut nun, als ob ihr zu Hause wäret, und findet ihr einen Aalkopf, so könnt ihr mir ihn bringen.«
Und so waren sie wie zu Hause.
Aber das arme Entlein, welches zuletzt aus dem Ei gekrochen war und so hässlich aussah, wurde gebissen, gestoßen und zum besten gehalten, und das sowohl von den Enten wie von den Hühnern.
»Es ist zu groß!«
sagten alle, und der kalekutische Hahn, welcher mit Sporen zur Welt gekommen war und deshalb glaubte, dass er Kaiser sei, blies sich auf wie ein Fahrzeug mit allen Segeln, ging gerade auf dasselbe los, und dann kollerte er und wurde ganz rot am Kopfe.
Das arme Entlein wusste nicht, wo es stehen oder gehen sollte; es war so betrübt, weil es so hässlich aussah und vom ganzen Entenhof verspottet wurde.
So ging es den ersten Tag, und später wurde es schlimmer und schlimmer. Das arme Entlein wurde von allen gejagt. Selbst seine Schwestern waren so böse gegen es und sagten immer:
»Wenn die Katze dich nur fangen möchte, du hässliches Geschöpf!«
Und die Mutter sagte:
»Wenn du nur weit fort wärst!«
Und die Enten bissen es, und die Hühner schlugen es, und das Mädchen, welches die Tiere füttern sollte, stieß mit den Füßen danach.
Da lief es und flog über den Zaun; die kleinen Vögel in den Büschen flogen er schrocken auf. Das geschieht, weil ich so hässlich bin, dachte das Entlein und schloss die Augen, lief aber gleichwohl weiter; so kam es hinaus zu dem großen Moor, wo die wilden Enten wohnten. Hier lag es die ganze Nacht; es war so müde und kummervoll.
Am Morgen flogen die wilden Enten auf, und sie betrachteten den neuen Kameraden.
»Was bist du für einer?«,
fragten sie, und das Entlein wendete sich nach allen Seiten und grüßte, so gut es konnte.
»Du bist außerordentlich hässlich«,
sagten die wilden Enten.
»Aber das kann uns gleich sein, wenn du nur nicht in unsere Familie hineinheiratest.«
Das Arme! Es dachte wahrlich nicht daran, sich zu verheiraten, wenn es nur die Erlaubnis erhalten konnte, im Schilfe zu liegen und etwas Moorwasser zu trinken.
So lag es zwei ganze Tage; da kamen zwei wilde Gänse oder richtiger wilde Gänseriche dorthin. Es war noch nicht lange her, dass sie aus dem Ei gekrochen waren, und deshalb waren sie auch so keck.
 
Das Häßliche Entlein (Teil 2)
»Höre, Kamerad!«
sagten sie:
»Du bist so hässlich, dass wir dich gut leiden mögen; willst du mitziehen und Zugvogel werden? Hier nahebei in einem andern Moore gibt es einige süße, liebliche Gänse, lauter Fräulein, die alle >Rapp!< sagen können. Du bist imstande, dein Glück zu machen, so hässlich du auch bist.«
»Piff, paff!«
ertönte es eben, und beide wilde Gänse fielen tot in das Schilf nieder, und das Wasser wurde blutrot.
»Piff, paff!«
erscholl es wieder, und ganze Scharen wilder Gänse flogen aus dem Schilfe auf. Und dann knallte es abermals. Es war große Jagd; die Jäger lagen rings um das Moor herum, ja einige saßen oben in den Baumzweigen, welche sich weit über das Schilfrohr hinstreckten. Der blaue Dampf zog gleich Wolken in die dunklen Bäume hinein und weit über das Wasser hin; zum Moore kamen die Jagdhunde: platsch, platsch! Das Schilf und das Rohr neigten sich nach allen Seiten. Das war ein Schrecken für das arme Entlein! Es wendete den Kopf, um ihn unter den Flügel zu stecken, aber in demselben Augenblicke stand ein fürchterlich großer Hund dicht bei dem Entlein; die Zunge hing ihm lang aus dem Halse heraus, und die Augen leuchteten greulich-häßlich; er streckte seinen Rachen dem Entlein gerade entgegen, zeigte ihm die scharfen Zähne und - platsch, platsch! - ging er wieder, ohne es zu packen.
»0 Gott sei Dank!«
seufzte das Entlein.
»Ich bin so hässlich, dass mich selbst der Hund nicht beißen mag!«
Und so lag es ganz stille, während die Schrotkörner durch das Schilf sausten und Schuss auf Schuss knallte.
Erst spät am Tage wurde es stille, aber das arme Junge wagte es noch nicht, sich zu erheben. Es wartete noch mehrere Stunden, bevor es sich umsah, und dann eilte es fort aus dem Moore, so schnell es konnte. Es lief über Feld und Wiese. Da tobte ein solcher Sturm, dass es ihm schwer wurde, von der Stelle zu kommen.
Gegen Abend erreichte es eine arme kleine Bauemhütte; die war so baufällig, dass sie selbst nicht wusste, nach welcher Seite sie fallen sollte, und darum blieb sie stehen. Der Sturm umsauste das Entlein so, dass es sich niedersetzen musste, um sich dagegen zu stemmen; und es wurde schlimmer und schlimmer. - Da bemerkte es, dass die Tür aus der einen Angel gegangen war und so schief hing, dass es durch die Spalte in die Stube hineinschlüpfen konnte, und das tat es.
Hier wohnte eine Frau mit ihrem Kater und ihrer Henne. Und der Kater, welchen sie Söhnchen nannte, konnte einen Buckel machen und schnurren; er sprühte sogar Funken, aber dann musste man ihm gegen die Haare streichen. Die Henne hatte ganz kleine niedrige Beine, und deshalb wurde sie Küchelchen Kurzbein genannt; sie legte gute Eier, und die Frau liebte sie wie ihr eigenes Kind. Am Morgen bemerkte man sogleich das fremde Entlein; und der Kater begann zu schnurren und die Henne zu glucken.
»Was ist das?«
sagte die Frau und sah ringsum; aber sie sah nicht gut, und so glaubte sie, dass das Entlein eine fette Ente sei, die sich verirrt habe.
»Das ist ja ein seltener Fang!«
sagte sie.
»Nun kann ich Enteneier bekommen. Wenn es nur kein Enterich ist! Das müssen wir erproben.«
Und so wurde das Entlein für drei Wochen auf Probe angenommen; aber es kamen keine Eier. Und der Kater war Herr im Hause, und die Henne war die Dame, und immer sagten sie:
»Wir und die Welt!«
Denn sie glaubten, dass sie die Hälfte seien, und zwar die bei weitem beste Hälfte. Das Entlein glaubte, dass man auch eine andere Meinung haben könne. Aber das litt die Henne nicht.
»Kannst du Eier legen?!«,
fragte sie.
»Nein!«
»Nun, dann wirst du die Güte haben, zu schweigen!«
Und der Kater fragte:
»Kannst du einen krummen Buckel machen, schnurren und Funken sprühen?«
»Nein!«
»So darfst du auch keine Meinung haben, wenn vernünftige Leute sprechen!«
Und das Entlein saß im Winkel und war bei schlechter Laune; da fielen die frische Luft und der Sonnenschein herein; es bekam solch sonderbare Lust, auf dem Wasser zu schwimmen, dass es nicht unterlassen konnte, dies der Henne zu sagen.
»Was fällt dir ein?«
fragte die.
»Du hast nichts zu tun, deshalb fängst du Grillen! Lege Eier oder schnurre, so gehen sie vorüber.«
»Aber es ist so schön, auf dem Wasser zu schwimmen!«
sagte das Entlein.
»So herrlich, auf den Grund niederzutauchen!«
»Ja, das ist ein großes Vergnügen!«
sagte die Henne.
»Du bist wohl verrückt geworden! Frage den Kater danach - er ist das klügste Geschöpf, das ich kenne -, ob er es liebt, auf dem Wasser zu schwimmen oder unterzutauchen? Ich will nicht von mir sprechen. - Frage selbst unsere Herrschaft, die alte Frau; klüger als sie ist niemand auf der Welt! Glaubst du, dass die Lust hat, zu schwimmen und das Wasser über dem Kopf zusammenschlagen zu lassen?«
»Ihr versteht mich nicht!«
sagte das Entlein.
»Wir verstehen dich nicht? Wer soll dich denn verstehen können? Du wirst doch wohl nicht klüger sein wollen als der Kater und die Frau; - von mir will ich nicht reden! Bilde dir nichts ein, Kind, und danke deinem Schöpfer für all das Gute, das man dir erwiesen! Bist du nicht in eine warme Stube gekommen und hast eine Gesellschaft, von der du etwas profitieren kannst? Aber du bist ein Schwätzer, und es ist nicht erfreulich, mit dir umzugehen! Mir kannst du glauben. Ich meine es gut mit dir. Ich sage dir Unannehmlichkeiten, und daran kann man seine wahren Freunde erkennen. Sieh nur zu, dass du Eier legst oder schnurren und Funken sprühen lernst!«
»Ich glaube, ich gehe hinaus in die weite Welt!«
sagte das Entlein.
»Ja, tue das!«,
sagte die Henne.
Und das Entlein ging. Es schwamm auf dem Wasser, es tauchte unter, aber von allen Tieren wurde es wegen seiner Hässlichkeit übersehen.
Nun wurde es Herbst; die Blätter im Walde wurden gelb und braun; der Wind fasste sie, so dass sie umhertanzten; und oben in der Luft war es sehr kalt; Wolken hingen schwer mit Hagel und Schneeflocken; und auf dem Zaun stand der Rabe und schrie:
»Au! au!«
vor lauter Kälte. Es fror einen schon, wenn man nur daran dachte. Das arme Entlein hatte es wahrlich nicht gut. Eines Abends - die Sonne ging so schön unter - kam ein ganzer Schwarm herrlicher großer Vögel aus dem Busch. Das Entlein hatte noch nie so schöne gesehen. Sie waren ganz blendend weiß mit langen geschmeidigen Hälsen. Es waren Schwäne.
Sie stießen einen ganz eigentümlichen Ton aus, breiteten ihre prächtigen langen Flügel aus und flogen von der kalten Gegend fort nach wärmeren Ländern, nach offenen Seen! Sie stiegen so hoch, und dem hässlichen jungen Entlein wurde so sonderbar zumute. Es drehte sich im Wasser wie ein Rad rundherum, streckte den Hals hoch in die Luft nach ihnen aus und stieß einen so lauten und sonderbaren Schrei aus, dass es sich selbst davor fürchtete.
Oh, es konnte die schönen glücklichen Vögel nicht vergessen und sobald es sie nicht mehr erblickte, tauchte es gerade bis auf den Grund. Als es wieder heraufkam, war es ganz außer sich. Es wusste nicht, wie die Vögel hießen, auch nicht, wohin sie flögen. Aber doch war es ihnen gut, wie nie jemandem zuvor.
Es beneidete sie durchaus nicht. Wie konnte es ihm einfallen, sich solche Lieblichkeit zu wünschen? Es wäre schon froh gewesen, wenn die Enten es nur unter sich geduldet hätten - das arme hässliche Tier!
Und der Winter wurde so kalt, so kalt! Das Entlein musste im Wasser umher schwimmen, um das völlige Zufrieren desselben zu verhindern; aber in jeder Nacht wurde das Loch, in dem es schwamm, kleiner und kleiner. Es fror, so dass es in der Eisdecke knackte; das Entlein musste fortwährend die Beine gebrauchen, damit das Loch sich nicht schloss. Zuletzt wurde es matt, lag ganz stille und fror so im Eise fest
Des Morgens früh kam ein Bauer; da er dies sah, ging er hin, schlug mit seinem Holzschuh das Eis in Stücke und trug das Entlein heim zu seiner Frau. Da lebte es wieder auf.
Die Kinder wollten mit ihm spielen; aber das Entlein glaubte, sie wollten ihm etwas zuleide tun, und fuhr in der Angst gerade in den Milchnapf hinein, so dass die Milch in die Stube spritzte. Die Frau schlug die Hände zusammen, worauf es in das Butterfass, dann hinunter in die Mehltonne und wieder herausflog.
Wie sah es da aus! Die Frau schrie und schlug mit der Feuerzange danach; die Kinder rannten einander über den Haufen, um das Entlein zu fangen. Sie lachten und schrien! Gut war es, dass die Tür offenstand und es zwischen die Reiser in den frisch gefallenen Schnee schlüpfen konnte.
Da lag es, ganz ermattet. Aber all die Not und das Elend, welche das häßliche Entlein in dem harten Winter erdulden musste, zu erzählen, würde zu trübe sein. Es lag im Moore zwischen dem Schilfe, als die Sonne wieder warm zu scheinen begann. Die Lerchen sangen; es war herrlicher Frühling.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Häßliche Entlein (Teil 3)
Da konnte auf einmal das Entlein seine Flügel schwingen. Sie brausten stärker als früher und trugen es kräftig davon und ehe dasselbe es recht wusste, befand es sich in einem großen Garten, wo die Apfelbäume in der Blüte standen, wo der Flieder duftete und seine langen grünen Zweige bis zu den gekrümmten Kanälen hinunterneigte.
- 2.jpg
Oh, hier war es so schön, so frühlingsfrisch! Und vorn aus dem Dickicht kamen drei prächtige weiße Schwäne. Sie brausten mit den Federn und schwammen so leicht auf dem Wasser. Das Entlein kannte die prächtigen Tiere und wurde von einer eigentümlichen Traurigkeit befangen.
»Ich will zu ihnen hinfliegen, zu den königlichen Vögeln! Sie werden mich totschlagen, weil ich, der ich so hässlich bin, mich ihnen zu nähern wage. Aber das ist egal! Besser, von ihnen getötet werden, als von den Enten gezwackt, von den Hühnern geschlagen, von dem Mädchen, welches den Hühnerhof hütet, gestoßen zu werden und im Winter Hunger zu leiden!«
Und es flog hinaus in das Wasser und schwamm den prächtigen Schwänen entgegen. Diese erblickten es und schossen mit brausenden Federn auf dasselbe los.
»Tötet mich nur!«
sagte das arme Tier, neigte seinen Kopf der Wasserfläche zu und erwartete den Tod. Aber was erblickte es in dem klaren Wasser? Es sah sein Bild unter sich, das kein plumper Vogel mehr, hässlich und garstig, sondern selbst ein Schwan war.
Es schadet nichts, in einem Entenhofe geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!
Es fühlte sich ordentlich erfreut über all die Not und die Drangsale, welche es erdulden musste. Nun erkannte es erst recht sein Glück an all der Herrlichkeit, die es begrüßte. Und die großen Schwäne umschwammen es und streichelten es mit dem Schnabel.
In den Garten kamen einige kleine Kinder. Sie warfen Brot und Korn in das Wasser und das kleinste rief:
»Da ist ein neuer!«
Und die andern Kinder jubelten mit:
»Ja, es ist ein neuer angekommen!«
Und sie klatschten mit den Händen und tanzten umher, liefen zu dem Vater und der Mutter, und es wurden Brot und Kuchen in das Wasser geworfen, und sie sagten alle:
»Der neue ist der schönste! So jung und so prächtig!«
Und die alten Schwäne neigten sich vor ihm. Da fühlte er sich so beschämt und steckte den Kopf unter seine Flügel. Er wusste selbst nicht, womit er beginnen sollte.
Er war überglücklich, aber durchaus nicht stolz, denn ein gutes Herz wird nie stolz! Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden war, und hörte nun alle sagen, dass er der schönste aller schönen Vögel sei. Selbst der Flieder bog sich mit den Zweigen gerade zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien so warm und so mild!
Da brausten seine Federn, der schlanke Hals hob sich, und aus vollem Herzen jubelte er:
»So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das hässliche Entlein war!«
 
Zuletzt bearbeitet:
Die drei kleinen Schweinchen
(Joseph Jacobs)
- 1.jpg
Es war einmal eine alte Schweinemutter, die hatte drei kleine Schweinchen. Die Schweinchen aßen und aßen und irgendwann waren sie so groß, dass sie in dem Haus, in dem sie wohnten, keinen Platz mehr finden konnten. Da sagte die Schweinemutter:
"Ihr könnt jetzt nicht mehr bei mir bleiben meine Kinder. Jeder muss ein Haus für sich selbst haben."
Und sie schickte sie in die große, weite Welt hinaus.
Das erste Schweinchen begegnet einem Mann mit einem Bündel Stroh. Es sagt zu ihm:
"Bitte, lieber Mann, gib mir das Stroh, denn ich will mir ein Haus daraus bauen."
Da sagt der Mann:
"Gib mir erst von deinen Borsten, damit ich mir eine Bürste daraus machen kann."
Da gab ihm das Schweinchen einige seiner Borsten. Der Mann gab ihm dafür das Stroh und half ihm, das Haus aufzubauen. Vorne hatte das Haus eine große Tür und hinten eine kleine Tür. Dann schaute das Schweinchen sein Strohhaus an und sang:
"Ich habe ein schönes Haus von Stroh, ich bin so sicher und so froh. Und kommt der böse Wolf vorbei, dann lache ich, hihi, heiheil"
Das zweite Schweinchen begegnete einem Mann, der ein Bündel Holz trug. Es sagt zu ihm:
"Bitte, lieber Mann, gib mir das Holz, ich will mir daraus ein Haus bauen."
Der Mann aber sagt:
"Gib mir erst von deinen Borsten, damit ich mir eine Bürste daraus machen kann."
Da gab ihm das Schweinchen einige seiner Borsten. Der Mann gab ihm dafür das Holz und half ihm, das Haus aufzubauen. Vorne hatte das Haus eine große Tür und hinten eine kleine Tür. Dann schaute das Schweinchen sein Holzhaus an und sang:
"Ich habe ein schönes Haus von Holz, ich bin so sicher und so stolz. Und kommt der böse Wolf vorbei, dann lache ich, hihi, heihei!"
Das dritte Schweinchen begegnet einem Mann, der zieht einen Karren voll Ziegelsteine. Es sagt zu ihm:
"Bitte, lieber Mann, gib mir von den Ziegelsteinen, ich will mir ein Haus daraus bauen."
Der Mann aber sagt:
"Gib mir erst von deinen Borsten, damit ich mir eine Bürste daraus machen kann."
Da gab ihm das Schweinchen einige seiner Borsten. Der Mann gab ihm dafür die Ziegelsteine und half ihm, das Haus aufzubauen. Vorne hatte das Haus eine große Tür und hinten eine kleine Tür. Dann schaute das Schweinchen sein Haus aus Ziegelsteinen an und sang:
"Ich habe ein schönes Haus von Stein, es ist so sicher und so fein. Und kommt der böse Wolf vorbei, dann lache ich, hihi, heiheil"
So lebte nun jedes Schweinchen in seinem eigenen kleinen Haus, und jedes war glücklich und zufrieden.
- 2.jpg
Doch eines Tages kam der Wolf aus dem Wald, klopfte an die große Tür des kleinen Strohhauses und rief:
"Liebes, gutes kleines Schwein, lass mich doch zu dir hinein."
Das Schweinchen aber antwortet:
"Bin ganz allein, bin ganz allein, ich lass dich nicht ins Haus herein."
Da sagt der Wolf:
"Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten."
Und der Wolf strampelte und trampelte, er hustete und prustete und pustete das ganze Haus zusammen. Aber das kleine Schweinchen war nicht mehr da. Es war hinten durch die kleine Tür zum zweiten Schweinchen ins Holzhaus gelaufen.
- 3.jpg
Da ging der Wolf zum Holzhaus, klopfte vorne an die große Tür und ruft:
"Liebes, gutes kleines Schwein, lass mich doch zu dir hinein."
Das zweite Schweinchen aber antwortete:
"Bin ganz allein, bin ganz allein, ich lass dich nicht ins Haus herein."
Da sagte der Wolf:
"Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten."
Und der Wolf strampelte und trampelte, er hustete und prustete und pustete das ganze Haus zusammen. Aber die zwei kleinen Schweinchen waren nicht mehr da, denn sie waren hinten durch die kleine Tür zum dritten Schweinchen ins Ziegelhaus gelaufen.
- 4.jpg
Da ging der Wolf zum Ziegelhaus, klopfte vorne an die große Tür und rief:
"Liebes, gutes kleines Schwein, lass mich doch zu dir hinein."
Das dritte Schweinchen aber antwortete:
"Bin ganz allein, bin ganz allein, ich lass dich nicht ins Haus herein."
Da sagte der Wolf:
"Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten."
Und der Wolf strampelte und trampelte, er hustete und prustete, aber er konnte das Haus nicht zusammenpusten. Da wurde er schrecklich zornig und brüllte:
"Warte nur, gleich habe ich dich!"
und machte sich daran, durch den Kamin ins Haus zu klettern. Als die drei Schweinchen merken, was der Wolf im Sinne hatte, fragte das erste Schweinchen:
"Was sollen wir nur tun?"
Das zweite Schweinchen:
"Ich will ein großes Feuer im Kamin machen."
Und das dritte Schweinchen:
"Ich will einen großen Topf mit Wasser in den Kamin hängen."
Das taten sie auch.
Nicht lange danach - das Feuer prasselte schon lustig und das Wasser brodelte, kam der Wolf den Kamin herunter und plumpste mitten ins heiße Wasser hinein. Schnell gaben die drei kleinen Schweinchen einen Deckel darauf und verschlossen den Topf. Dann tanzten sie vor Freude um den Kamin herum und sangen:
"Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot, ein Ende hat die große Not."
Dann baute sich das erste Schweinchen ein Ziegelhaus und das zweite auch, und fortan lebten alle drei zufrieden und froh.
 
Hans und die Bohnenranke (Teil 1)
(Joseph Jacobs )
Es war einmal eine arme Witwe, die hatte einen Sohn mit dem Namen Hans und eine Kuh, die Milchweiß hieß. Beide hatten nichts als die Milch der Kuh, um ihr Leben zu fristen. Jeden Morgen trugen sie die Milch zum Markt und verkauften sie. Aber eines Tages gab Milchweiß keine Milch mehr und da wussten sie nicht mehr, was sie tun sollten.
"Was sollen wir nur tun? Oh, was sollen wir nur tun?",
klagte die Witwe.
"Verzage nicht, Mutter! Ich werde fortziehen und Arbeit suchen".
sagte Hans.
"Das hast du ja schon einmal versucht",
sagte die Mutter,
"aber niemand hat dich nehmen wollen. Wir müssen Milchweiß verkaufen und mit dem Geld ein Geschäft anfangen oder sonst etwas."
"Gut, Mutter",
sagte Hans,
"heute ist Markttag, da werde ich Milchweiß gut verkaufen können. Dann wollen wir sehen, was sich machen lässt."
Hans band die Kuh an einen Strick und ging mit ihr fort. Auf dem Weg zum Markt begegnete ihm ein seltsames altes Männlein, das sagte zu ihm:
"Guten Morgen, Hans!"
"Auch einen schönen guten Morgen",
sagte Hans und wunderte sich, woher ihn das Männlein kannte.
"Nun, Hans, wohin des Wegs?"
fragte das Männlein.
"Auf den Markt, die Kuh verkaufen."
"Du schaust mir gar nicht danach aus, als ob du Kühe verkaufen könntest",
sagte das Männlein.
"Ich glaube, du weißt nicht einmal, wie viele Bohnen fünf ergeben."
"Zwei in deiner Hand und eine in deinem Mund",
sagte Hans hurtig.
"Richtig",
sagte das Männlein,
"und da hast du auch schon die Bohnen."
Und darauf zog es aus seiner Tasche eine Handvoll seltsam aussehender Bohnen.
"Weil du so schlau bist",
sagte es,
"so hab ich nichts dagegen, mit dir einen Handel zu machen. Gib mir die Kuh, ich gebe dir die Bohnen."
"Das würde dir so passen!",
sagte Hans.
"Ah, du weißt nicht, was für Bohnen das sind",
sagte der Mann.
"Wenn du sie am Abend einpflanzt, so sind sie am Morgen bis zum Himmel hinauf gewachsen."
"Ist das wahr, was du da sagst?"
fragt Hans.
"Ja, es ist wahr, und wenn es nicht so ist, so kannst du deine Kuh zurück haben."
"Gut",
sagt Hans und gibt ihm den Strick mit der Kuh und steckt die Bohnen in die Tasche.
Hans geht nun heimwärts, und weil er noch nicht weit gewesen ist, kommt er gerade nach Haus, bevor es dunkel wird.
"Bist du schon zurück?",
sagt die Mutter.
"Ich, sehe, nicht mehr. Wie viel hast du für sie bekommen?"
"Das wirst du nie erraten, Mutter!"
sagt Hans.
"Nun, nun, so arg wird es nicht sein, mein guter Bub Fünfzehn? Nein, zwanzig, das ist doch nicht möglich!"
"Ich hab es dir ja gesagt, du wirst es nie erraten. Was sagst du zu diesen Bohnen? Das sind Zauberbohnen! Pflanz sie ein über Nacht und..."
"Was!",
ruft da die Mutter,
"bist du so ein Tollpatsch, so ein Dummian, so ein Narr und hast unsre Milchweiß für so ein paar lumpige Bohnen eingetauscht? Da, schau her, zum Fenster schmeiß ich sie hinaus, deine teuren Bohnenl Und mit dir, marsch ins Bett Keinen Löffel Suppe und keinen Bissen Brot sollst du heute mehr bekommen."
Traurig stieg Hans in sein Dachkämmerlein. Es tat ihm leid, dass seine Muffer so böse war und er nun hungrig zu Bett gehen musste. Endlich schlief er ein.
Als Hans am nächsten Morgen erwachte, da schaute es in seiner Kammer ganz sonderbar aus. Die Sonne schien hell in eine Ecke, alles andre aber war dunkel und schattig. Hans hüpfte aus dem Bett und lief zum Fenster. Und was glaubt ihr, was er da sah? Ja, die Bohnen, die seine Mutter zum Fenster hinausgeworfen hatte, waren aufgegangen und zu einer großen Ranke emporgeschossen, die immer höher und höher gewachsen war, bis zum Himmel hinauf. Das Männlein hatte also die Wahrheit gesprochen.
Der Bohnenstrauch rankte sich ganz nahe am Fenster von Hans vorbei. Er brauchte bloß das Fenster zu öffnen und einen kleinen Schritt auf die Bohnenranke zu machen, die wie eine große Leiter zum Himmel ragte.
- 1.jpg
Hans kletterte also, er kletterte, kletterte, kletterte und kletterte, bis er endlich am Himmel anlangte. Und als er hineinging, da war eine lange und breite Straße, die führte kerzengerade fort. Hans wanderte die Straße, und er wanderte, wanderte und wanderte, bis er zu einem großen, großen Haus kam, an dessen Türschwelle eine große, große Frau stand.
"Guten Morgen, gute Frau",
sagt Hans, so höflich er kann.
"Würdet Ihr so gütig sein und mir etwas zum Frühstück geben?"
Denn er hatte noch nichts gegessen und, wie ihr wisst, auch kein Abendbrot bekommen, und er war hungrig wie ein Wolf.
"Ein Frühstück willst du",
sagt die große, große Frau.
"Das Frühstück, das wirst du selber gleich sein, wenn du dich nicht schleunigst auf und davon machst. Mein Mann ist ein Riese, und er hat nichts lieber als geröstetes Bubenfleisch auf Brot. Gleich wird er hier sein."
"O bitte, gute Frau, gebt mir etwas zu essen. Ich habe seit gestern früh nichts gehabt, und es ist mir schon einerlei, ob ich geröstet werde oder ob ich Hungers sterben soll."
Nun, die Frau des Riesen war nicht halb so schlecht, wie es schien. Sie führte Hans in die Küche und gab ihm eine große Scheibe Brot und Käse und einen Krug Milch. Hans hatte aber noch nicht aufgegessen, als schon- top! Tap! Tap! - das ganze Haus zu dröhnen begann von dem Lärm, den der Riese bei seinem Kommen machte.
"Um Himmels willen, mein Mann kommt!"
rief die Frau des Riesen.
"Was soll ich nur machen? Schnell, komm und spring da hinein!"
Und wie ein Bündel schob sie Hans in den Ofen, gerade bevor der Riese hereinkam. Es war ein großer Riese, das könnt ihr mir glauben. An seinem Gürtel hatte er drei Kälber an den Beinen festgebunden. Er band sie los, warf sie auf den Tisch und sagte:
"Da, Weib, röst mir die paar zum Frühstück! Ah! Was riecht da so fein? Ich rieche, rieche Menschen!"
"Unsinn, mein Lieber",
sagte die Frau,
"du träumst wohl. Oder mag sein, du riechst die Überreste von dem Ochsen, der dir gestern zum Frühstück so geschmeckt hat. Da, geh und wasch dich und mach dich sauber! Und wenn du zurückkommst, wird das Frühstück fertig sein."
Da ging der Riese hinaus, und Hans wollte gleich aus dem Ofen springen und fortlaufen, aber die Frau sagte zu ihm:
"Warte, bis er eingeschlafen ist! Er macht Immer ein Nickerchen nach den Frühstück."
Nun, der Riese verzehrte sein Frühstück, und hernach geht er zu einer großen Kiste, nimmt ein paar Beutel Gold heraus, setzt sich nieder und zählt und zählt, bis endlich sein Kopf zu nicken beginnt. Und dann fängt er an zu schnarchen, dass das ganze Haus wackelt.
Da kroch Hans auf den Zehenspitzen aus dem Ofen heraus, und als er beim Riesen vorbeiging, nahm er einen Beute Gold unter seinen Arm und rannte, so schnell ihn nur seine Füße trugen, bis er zur Bohnenranke kam. Er warf den Beutel Gold hinunter, der, versteht sich, in Mutters Garten fiel, und dann kletterte er abwärts, immer abwärts, bis er wieder bei seinem Fenster anlangte. Er erzählte alles seiner Mutter, zeigte ihr das Gold im Beutel und sagte:
"Nun, Mutter, habe ich nicht recht gehabt mit den Bohnen? Es sind wirklich Zauberbohnen."
Nun lebten sie eine schöne Zeitlang von dem Gold im Beutel. Aber einmal nahm das auch ein Ende, und Hans beschloss, noch einmal sein Glück mit der Bohnenranke zu versuchen. Eines schönen Morgens stand er zeitig auf und kletterte die Bohnenranke hinauf. Und er kletterte, kletterte, kletterte und kletterte, bis er wieder zu der Straße kam und zu dem großen, großen Haus. in dem er gewesen war. Und richtig, da stand auch wieder die große, große Frau auf der Türschwelle.
"Guten Morgen, gute Frau",
sagte Hans, so kühn er nur konnte,
"würdet Ihr so gütig sein und mir etwas zum Essen geben?"
"Geschwind lauf fort!",
sagte die große, große Frau,
 
Hans und die Bohnenranke (Teil 2)
"oder mein Mann wird kommen und dich zum Frühstück aufessen. Aber bist du nicht der Bengel, der schon einmal da war? Weißt du auch, dass am selben Tag meinem Mann ein Goldbeute gefehlt hat?"
"Sonderbar, wirklich sonderbar",
sagte Hans.
"ich glaube, ich könnte Euch darüber etwas erzählen, aber ich bin so hungrig, dass ich nicht reden kann, bevor ich nicht gegessen habe."
Nun, die große, große Frau war so neugierig, dass sie den Buben ins Haus hineinließ und ihm etwas zu essen gab. Kaum aber hatte er mit dem Essen begonnen, als sie - tap! tap! tap! - die Schritte des Riesen hörten. Und die Frau versteckte Hans wieder in dem Ofen.
Nun war alles wieder so wie das erste Mal. Der Riese kam herein, sagte:
"Ich rieche, rieche Menschenfleisch!"
und bekam drei geröstete Ochsen zum Frühstück. Dann sagte er:
"Frau, bring mir die Henne, die die goldenen Eier legt."
Da brachte die Frau die Henne, und der Riese sagte:
"Leg!"
und die Henne legte ein Ei, das war ganz aus Gold. Und dann begann der Riese einzunicken und zu schnarchen, dass das ganze Haus wackelte.
Da kroch Hans auf den Zehenspitzen aus dem Ofen, packte die Henne und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Aber auf einmal gackerte die Henne, und der Riese wachte auf, und gerade als Hans zum Haus hinauslief, hörte er ihn rufen:
"Weib, Weib, was hast du mit meiner Henne gemacht?"
Und die Frau sagte:
"Warum, mein Lieber?"
Das war alles, was Hans noch hörte, denn er eilte fort zur Bohnenranke und kletterte so schnell hinunter, als ob zehn Teufel hinter ihm her wären. Als er heimkam, zeigte er seiner Mutter die Wunderhenne und sagte:
"Leg!"
Und die Henne legte ein goldenes Ei, sooft er es sagte.
Aber Hans war noch immer nicht zufrieden, und nicht lange, so beschloss er, wieder sein Glück mit der Bohnenranke zu versuchen Eines schönen Morgens stand er zeitig auf, ging zur Bohnenranke, und er kletterte, kletterte, kletterte und kletterte, bis er ganz oben war und wieder zu der Straße kam.
Diesmal aber war er klüger und ging nicht geradewegs in das Haus des Riesen. Er versteckte sich in der Nähe hinter einem Busch und wartete, bis die Frau des Riesen herauskam und mit einem Kübel zum Brunnen ging. Da schlüpfte Hans ins Haus und kroch in einen großen Kupferkessel. Bald darauf hörte er, genauso wie früher tap! tap! tap! -, und der Riese und seine Frau kamen herein.
"ich rieche, rieche Menschen",
rief der Riese. Und seine Frau sagte:
"Dann ist es gewiss der kleine Bengel, der das Gold und die Henne gestohlen hat Bestimmt hat er sich im Ofen versteckt."
Und beide stürzten zum Ofen, aber zum Glück war Hans nicht dort. Und die Frau des Riesen sagte:
"Du mit deinem *Ich rieche, rieche Menschen Fleisch!* Gewiss riechst du noch etwas von dem Jungen, den ich dir gestern zum Frühstück geröstet habe. Nach so vielen Jahren könntest du doch endlich einmal den Unterschied zwischen lebendigen und gerösteten Buben kennen!"
So setzte sich der Riese wieder zum Frühstück hin, aber alle Augenblicke murmelte er:
"Ich hätte geschworen..."
Und erstand auf und suchte in der Speisekammer, in den Schränken, überall. Zum Glück aber dachte er nicht an den Kupferkessel.
Als er mit dem Frühstück fertig war, rief er:
"Weib, bring mir die goldene Harfe!"
Da brachte ihm die Frau die Harfe, und er stellte sie vor sich hin auf den Tisch. Dann sagte er:
"Sing!"
Und die goldene Harfe fing an, wunderbar zu singen. Und sie sang und sang, bis der Riese fest eingeschlafen war und zu schnarchen anhub, dass das ganze Haus zitterte.
Da hob Hans den Deckel des Kupferkessels auf, ganz vorsichtig, schlüpfte hinaus wie eine Maus und kroch auf Händen und Füßen zum Tisch hin, packte die goldene Harfe und eilte zur Tür.
Aber da rief die Harfe ganz laut:
"Meister! Meister!"
Und der Riese erwachte gerade noch rechtzeitig, um Hans mit der Harfe aus dem Haus laufen zu sehen.
Hans lief, so schnell er konnte, der Riese ihm nach, und der hätte ihn auch bald eingeholt, aber Hans lief kreuz und quer, um den Riesen zu täuschen. Als er zu der Bohnenranke kam, war der Riese nur noch zehn Schritte hinter ihm. Plötzlich aber verschwand Hans, und als der Riese ans Ende der Straße kam, sah er ihn die Bohnenranke hinunterklettern.
Nun, der Riese wollte sich einer solchen Leiter nicht anvertrauen, so stand er und wartete. Dadurch bekam Hans einen größeren Vorsprung. Aber in diesem Augenblick rief die Harfe wieder:
"Meister! Meister!"
Da schwang sich der Riese auf die Bohnenranke, die unter seinem Gewicht gewaltig schaukelte. Immer tiefer kletterte Hans, er kletterte, kletterte und kletterte, und hinter ihm der Riese. Schon war Hans ganz nahe seinem Haus, da rief er:
"Mutten Mutter Bring mir eine Axt! Bring mir eine Axt!"
Und seine Mutter stürzte heraus mit einer Axt in der Hand. Aber als sie zu der Bohnenranke kam, blieb sie stocksteif stehen vor Schreck, denn sie sah gerade den Riesen mit seinen Beinen durch die Wolkendecke kommen.
Hans aber war mit einem Satz unten, ergriff die Axt, und mit einem Hieb spaltete er die Bohnenranke bis zur Hälfte. Der Riese spürte, wie die Bohnenranke schwankte und bebte, und er hielt inne, um nachzusehen, was los wäre. Als er sah, dass Hans die Bohnenranke fällen wollte, fing er an, wieder zurück in die Wolken zu klettern. Gerade als er verschwunden war, Hieb Hans erneut zu und die Bohnenranke fiel in sich zusammen, so dass der Riese nicht mehr auf die Erde konnte.
Dann zeigte Hans seiner Mutter die goldene Harfe. Und von dem Gesang der Harfe und von den goldenen Eiern, die sie verkauften, wurden Hans und seine Mutter sehr reich. Hans heiratete eine schöne Prinzessin, und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.
 
Die Menschenaltern
(Gustav Benjamin Schwab)
Die ersten Menschen, welche die Götter schufen, waren ein goldenes Geschlecht. Diese lebten, solange Kronos (Saturnus) dem Himmel vorstand, sorgenlos und den Göttern selbst ähnlich, von Arbeit und Kummer entfernt. Auch die Leiden des Alters waren ihnen unbekannt. An Händen, Füßen und allen Gliedern immer rüstig, freuten sie sich, von jeglichem Übel frei, heiterer Gelage. Die seligen Götter hatten sie lieb und schenkten ihnen auf reichen Fluren stattliche Herden. Wenn sie verscheiden sollten, sanken sie nur in sanften Schlaf. Solange sie aber lebten, hatten sie alle möglichen Güter. Das Erdreich gewährte ihnen alle Früchte von selbst und im Überflusse und ruhig, mit allen Gütern gesegnet, vollbrachten sie ihr Tagewerk.
Nachdem jenes Geschlecht dem Beschlusse des Schicksals zufolge von der Erde verschwunden war, wurden sie zu frommen Schutzgöttern, welche, dicht in Nebel gehüllt, die Erde rings durchwandelten, als Geber alles Guten, Behüter des Rechts und Rächer aller Vergehungen.
Hierauf schufen die Unsterblichen ein zweites Menschengeschlecht, das silberne. Dieses war schon weit von jenem abgeartet und glich ihm weder an Körpergestaltung noch an Gesinnung. Sondern ganze hundert Jahre wuchs der verzärtelte Knabe noch unmündig an Geist unter der mütterlichen Pflege im Elternhause auf und wenn einer endlich zum Jünglingsalter herangereift war, so blieb ihm nur noch kurze Frist zum Leben übrig. Unvernünftige Handlungen stürzten diese neuen Menschen in Jammer, denn sie konnten schon ihre Leidenschaften nicht mehr mäßigen und frevelten im Übermute gegeneinander.
Auch die Altäre der Götter wollten sie nicht mehr mit den gebührenden Opfern ehren. Deswegen nahm Zeus dieses Geschlecht wieder von der Erde hinweg, denn ihm gefiel nicht, dass sie der Ehrfurcht gegen die Unsterblichen ermangelten. Doch waren auch diese noch nicht so entblößt von Vorzügen, dass ihnen nach ihrer Entfernung aus dem Leben nicht einige Ehre zum Anteil geworden wäre, und sie durften als sterbliche Dämonen noch auf der Erde umherwandeln.
Nun erschuf der Vater Zeus ein drittes Geschlecht von Menschen, das hieß das eherne. Das war auch dem silbernen völlig ungleich, grausam, gewalttätig, immer nur den Geschäften des Krieges ergeben, immer einer auf des andern Beleidigung sinnend. Sie verschmähten es, von den Früchten des Feldes zu essen und nährten sich vom Tierfleische. Ihr Starrsinn war hart wie Diamant, ihr Leib von ungeheurem Gliederbau. Arme wuchsen ihnen von den Schultern, denen niemand nahekommen durfte. Ihre Wehr war Erz, ihre Wohnung Erz, mit Erz bestellten sie das Feld, denn Eisen war damals noch nicht vorhanden. Sie kehrten ihre eigenen Hände gegeneinander.
Aber so groß und entsetzlich sie waren, so vermochten sie doch nichts gegen den schwarzen Tod und stiegen, vom hellen Sonnenlichte scheidend, in die schaurige Nacht der Unterwelt hernieder.
Als die Erde auch dieses Geschlecht eingehüllt hatte, brachte Zeus, der Sohn des Kronos, ein viertes Geschlecht hervor, das auf der nährenden Erde wohnen sollte. Dies war wieder edler und gerechter als das vorige. Es war das Geschlecht der göttlichen Heroen, welche die Vorwelt auch Halbgötter genannt hat.
Zuletzt vertilgte aber auch sie Zwietracht und Krieg, die einen vor den sieben Toren Thebens, wo sie um das Reich des Königes Ödipus kämpften, die andern auf dem Gefilde Trojas, wohin sie um der schönen Helena willen zahllos auf Schiffen gekommen waren.
Als diese ihr Erdenleben in Kampf und Not beschlossen hatten, ordnete ihnen der Vater Zeus ihren Sitz am Rande des Weltalls an, im Ozean, auf den Inseln der Seligen. Dort führen sie nach dem Tode ein glückliches und sorgenfreies Leben, wo ihnen der fruchtbare Boden dreimal im Jahr honigsüße Früchte zum Labsal emporsendet.
»Ach wäre ich«,
so seufzet der alte Dichter Hesiod, der diese Sage von den Menschenaltern erzählt,
»Wäre ich doch nicht ein Genosse des fünften Menschengeschlechtes, das jetzt gekommen ist. Wäre ich früher gestorben oder später geboren! Denn dieses Menschengeschlecht ist ein eisernes!
Gänzlich verderbt, ruhen diese Menschen weder bei Tage noch bei Nacht von Kümmernis und Beschwerden. Immer neue nagende Sorgen schicken ihnen die Götter. Sie selbst aber sind die größte Plage. Der Vater ist dem Sohne, der Sohn dem Vater nicht hold, der Gast haßt den ihn bewirtenden Freund, der Genosse den Genossen. Auch unter Brüdern herrscht nicht mehr herzliche Liebe wie vorzeiten.Dem grauen Haare der Eltern selbst wird die Ehrfurcht versagt, Schmachreden werden gegen sie ausgestoßen, Mißhandlungen müssen sie erdulden.
Ihr grausamen Menschen, denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, dass ihr euren abgelebten Eltern den Dank für ihre Pflege nicht erstatten wollet? Überall gilt nur das Faustrecht. Auf Städteverwüstung sinnen sie gegeneinander.
Nicht derjenige wird begünstigt, der die Wahrheit schwört, der gerecht und gut ist, nein, nur den Übeltäter, den schnöden Frevler ehren sie. Recht und Mäßigung gilt nichts mehr, der Böse darf den Edleren verletzen, trügerische, krumme Worte sprechen, Falsches beschwören. Deswegen sind diese Menschen auch so unglücklich. Schadenfrohe, mißlaunige Scheelsucht verfolgt sie und grollt ihnen mit dem neidischen Antlitz entgegen.
Die Göttinnen der Scham und der heiligen Scheu, welche sich bisher doch noch auf der Erde hatten blicken lassen, verhüllen traurig ihren schönen Leib in das weiße Gewand und verlassen die Menschen, um sich wieder in die Versammlung der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den sterblichen Menschen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und keine Rettung von diesem Unheil ist zu erwarten.«