Fabeln, Legenden, Märchen ...

Der gute Handel
(Gebrüder Grimm)
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Ein Bauer, der hatte seine Kuh auf den Markt getrieben und für sieben Taler verkauft. Auf dem Heimweg mußte er an einem Teich vorbei, und da hörte er schon von weitem, wie die Frösche riefen "ak, ak, ak, ak." – "Ja," sprach er für sich, "die schreien auch ins Haberfeld hinein: sieben sind's, die ich gelöst habe, keine acht." Als er zu dem Wasser herankam, rief er ihnen zu: "Dummes Vieh, das ihr seid! Wißt ihr's nicht besser? Sieben Taler sind's und keine acht." Die Frösche blieben aber bei ihrem "ak, ak, ak, ak." – "Nun, wenn ihr's nicht glauben wollt, ich kann's euch vorzählen," holte das Geld aus der Tasche und zählte die sieben Taler ab, immer vierundzwanzig Groschen auf einen. Die Frösche aber kehrten sich nicht an seine Rechnung, und riefen abermals: "Ak, ak, ak, ak." – "Ei," rief der Bauer ganz bös, "wollt ihr's besser wissen als ich, so zählt selber," und warf ihnen das Geld miteinander ins Wasser hinein. Er blieb stehen und wollte warten, bis sie fertig wären und ihm das Seinige wiederbrächten, aber die Frösche beharrten auf ihrem Sinn, schrieen immerfort "ak, ak, ak, ak" und warfen auch das Geld nicht wieder heraus. Er wartete noch eine gute Weile, bis der Abend anbrach und er nach Haus mußte. Da schimpfte er die Frösche aus und rief: "Ihr Wasserpatscher, ihr Dickköpfe, ihr Glotzaugen, ein groß Maul habt ihr und könnt schreien, daß einem die Ohren weh tun, aber sieben Taler könnt ihr nicht zählen. Meint ihr, ich wollte dastehen bis ihr fertig wärt?" Damit ging er fort, aber die Frösche riefen noch "ak, ak, ak, ak" hinter ihm her, daß er ganz verdrießlich heimkam.
Über eine Zeit erhandelte er sich wieder eine Kuh, die schlachtete er und machte die Rechnung, wenn er das Fleisch gut verkaufte, könnte er so viel lösen, als die beiden Kühe wert wären, und das Fell hätte er obendrein. Als er nun mit dem Fleisch zu der Stadt kam, war vor dem Tore ein ganzes Rudel Hunde zusammengelaufen, voran ein großer Windhund. Der sprang um das Fleisch, schnupperte und bellte: "Was, was, was, was." Als er gar nicht aufhören wollte, sprach der Bauer zu ihm: "Ja, ich merke wohl, du sagst ›was, was‹, weil du etwas von dem Fleische verlangst, da sollt ich aber schön ankommen, wenn ich dir's geben wollte." Der Hund antwortete nichts als "was, was." – "Willst du's auch nicht wegfressen und für deine Kameraden da gutstehen?" – "Was, was," sprach der Hund. "Nun, wenn du dabei beharrst, so will ich dir's lassen, ich kenne dich wohl und weiß, bei wem du dienst. Aber das sage ich dir, in drei Tagen muß ich mein Geld haben, sonst geht dir's schlimm. Du kannst mir's nur hinausbringen." Darauf lud er das Fleisch ab und kehrte wieder um. Die Hunde machten sich darüber her und bellten laut, "was, was." Der Bauer, der es von weitem hörte, sprach zu sich: "Horch, jetzt verlangen sie alle was, aber der große muß mir einstehen."
Als drei Tage herum waren, dachte der Bauer: Heute abend hast du dein Geld in der Tasche, und war ganz vergnügt. Aber es wollte niemand kommen und auszahlen. "Es ist kein Verlaß mehr auf jemand," sprach er, und endlich riß ihm die Geduld, daß er in die Stadt zu dem Fleischer ging und sein Geld forderte. Der Fleischer meinte, es wäre ein Spaß, aber der Bauer sagte: "Spaß beiseite, ich will mein Geld. Hat der große Hund Euch nicht die ganze geschlachtete Kuh vor drei Tagen heimgebracht?" Da ward der Fleischer zornig, griff nach einem Besenstiel und jagte ihn hinaus. "Wart," sprach der Bauer, "es gibt noch Gerechtigkeit auf der Welt!" und ging in das königliche Schloß und bat sich Gehör aus. Er ward vor den König geführt, der da saß mit seiner Tochter und fragte, was ihm für ein Leid widerfahren wäre? "Ach," sagte er, "die Frösche und die Hunde haben mir das Meinige genommen, und der Metzger hat mich dafür mit dem Stock bezahlt," und erzählte weitläufig, wie es zugegangen war. Darüber fing die Königstochter laut an zu lachen, und der König sprach zu ihm: "Recht kann ich dir hier nicht geben, aber dafür sollst du meine Tochter zur Frau haben. Ihr Lebtag hat sie noch nicht gelacht als eben über dich, und ich habe sie dem versprochen, der sie zum Lachen brächte. Du kannst Gott für dein Glück danken." – "O," antwortete der Bauer, "ich will sie gar nicht, ich habe daheim nur eine einzige Frau, und die ist mir schon zuviel. Wenn ich nach Haus komme, so ist mir nicht anders, als ob in jedem Winkel eine stände." Da ward der König zornig und sagte: "Du bist ein Grobian." – "Ach, Herr König," antwortete der Bauer, "was könnt Ihr von einem Ochsen anders erwarten als Rindfleisch!" – "Warte," erwiderte der König, "du sollst einen andern Lohn haben. Jetzt pack dich fort, aber in drei Tagen komm wieder, so sollen dir fünfhundert vollgezählt werden."
Wie der Bauer hinaus vor die Tür kam, sprach die Schildwache: "Du hast die Königstochter zum Lachen gebracht, da wirst du was Rechtes bekommen haben." – "Ja, das mein ich," antwortete der Bauer, "fünfhundert werden mir ausgezahlt." – "Hör," sprach der Soldat, "gib mir etwas davon! Was willst du mit all dem Geld anfangen!" – "Weil du's bist," sprach der Bauer, "so sollst du zweihundert haben, melde dich in drei Tagen beim König, und laß dir's aufzählen." Ein habgieriger Kaufmann, der in der Nähe gestanden und das Gespräch mit angehört hatte, lief dem Bauer nach, hielt ihn beim Rock und sprach: "Gotteswunder, was seid Ihr ein Glückskind! Ich will's Euch wechseln, ich will's Euch umsetzen in Scheidemünz, was wollt Ihr mit den harten Talern?" – "Mauschel," sagte der Bauer, "dreihundert kannst du noch haben, gib mir's gleich in Münze, heute über drei Tage wirst du dafür beim König bezahlt werden." Der Kaufmann freute sich über das Profitchen und brachte die Summe in schlechten Groschen, wo drei so viel wert sind als zwei gute. Nach Verlauf der drei Tage ging der Bauer, dem Befehl des Königs gemäß, vor den König. "Zieht ihm den Rock aus," sprach dieser, "er soll seine fünfhundert haben." – "Ach," sagte der Bauer, "sie gehören nicht mehr mein, zweihundert habe ich an die Schildwache verschenkt, und dreihundert hat mir der Kaufmann eingewechselt, von Rechts wegen gebührt mir gar nichts." Indem kamen der Soldat und der Kaufmann herein, verlangten das Ihrige, das sie dem Bauer abgewonnen hätten, und erhielten die Schläge richtig angemessen. Der Soldat ertrug's geduldig und wußte schon, wie's schmeckte. Der Kaufmann aber tat jämmerlich: "Au weih geschrien! Sind das die harten Taler?" Der König mußte über den Bauer lachen, und da aller Zorn verschwunden war, sprach er: "Weil du deinen Lohn schon verloren hast, bevor er dir zuteil ward, so will ich dir einen Ersatz geben. Gehe in meine Schatzkammer und hol dir Geld, soviel du willst." Der Bauer ließ sich das nicht zweimal sagen, und füllte in seine weiten Taschen, was nur hinein wollte. Danach ging er ins Wirtshaus und überzählte sein Geld. Der Kaufmann war ihm nachgeschlichen und hörte, wie er mit sich allein brummte: "Nun hat mich der Spitzbube von König doch hinters Licht geführt! Hätte er mir nicht selbst das Geld geben können, so wüßte ich, was ich hätte. Wie kann ich nun wissen, ob das richtig ist, was ich so auf gut Glück eingesteckt habe!" – "Gott bewahre," sprach der Kaufmann für sich, "der spricht despektierlich von unserm Herrn! Ich lauf und geb's an, da krieg ich eine Belohnung, und er wird obendrein noch bestraft." Als der König von den Reden des Bauern hörte, geriet er in Zorn und hieß den Kaufmann hingehen und den Sünder herbeiholen. Der Kaufmann lief zum Bauer: "Ihr sollt gleich zum Herrn König kommen, wie Ihr geht und steht." – "Ich weiß besser, was sich schickt," antwortete der Bauer, "erst laß ich mir einen neuen Rock machen. Meinst du, ein Mann, der so viel Geld in der Tasche hat, sollte in dem alten Lumpenrock hingehen?" Der Kaufmann, als er sah, daß der Bauer ohne einen andern Rock nicht wegzubringen war, und weil er fürchtete, wenn der Zorn des Königs verraucht wäre, so käme er um seine Belohnung und der Bauer um seine Strafe, so sprach er: "Ich will Euch für die kurze Zeit einen schönen Rock leihen aus bloßer Freundschaft; was tut der Mensch nicht alles aus Liebe!" Der Bauer ließ sich das gefallen, zog den Rock vom Kaufmann an und ging mit ihm fort. Der König hielt dem Bauer die bösen Reden vor, die der Kaufmann hinterbracht hatte. "Ach," sprach der Bauer, "was ein Kaufmann sagt, ist immer gelogen, dem geht kein wahres Wort aus dem Munde; der Kerl da ist imstand und behauptet, ich hätte seinen Rock an." – "Was soll mir das?" schrie der Kaufmann, "ist der Rock nicht mein? Hab ich ihn Euch nicht aus bloßer Freundschaft geborgt, damit Ihr vor den Herrn König treten konntet?" Wie der König das hörte, sprach er: "Einen hat der Kaufmann gewiß betrogen, mich oder den Bauer," und ließ ihm noch etwas in harten Talern nachzahlen. Der Bauer aber ging in dem guten Rock und mit dem guten Geld in der Tasche heim und sprach: "Diesmal hab ich's getroffen."
 
Der wunderliche Spielmann
(Gebrüder Grimm)
- 1.jpgEs war einmal ein wunderlicher Spielmann, der ging durch einen Wald mutterseelenallein und dachte hin und her. Und als für seine Gedanken nichts mehr übrig war, sprach er zu sich selbst: "Mir wird hier im Walde Zeit und Weile lang, ich will einen guten Gesellen herbeiholen." Da nahm er die Geige vom Rücken und fiedelte eins, daß es durch die Bäume schallte. Nicht lange, so kam ein Wolf durch das Dickicht daher getrabt. "Ach, ein Wolf kommt! Nach dem trage ich kein Verlangen," sagte der Spielmann. Aber der Wolf schritt näher und sprach zu ihm: "Ei, du lieber Spielmann, was fiedelst du so schön! Das möchte ich auch lernen." - "Das ist bald gelernt," antwortete der Spielmann, "du mußt nur alles tun, was ich dir heiße." - "O Spielmann," sprach der Wolf, "ich will dir gehorchen, wie ein Schüler seinem Meister." Der Spielmann hieß ihn mitgehen, und als sie ein Stück Wegs zusammen gegangen waren, kamen sie an einen alten Eichbaum, der innen hohl und in der Mitte aufgerissen war. "Sieh her," sprach der Spielmann, "willst du fiedeln lernen, so lege die Vorderpfoten in diesen Spalt." Der Wolf gehorchte, aber der Spielmann hob schnell einen Stein auf und keilte ihm die beiden Pfoten mit einem Schlag so fest, daß er wie ein Gefangener da liegenbleiben mußte. "Warte da so lange, bis ich wiederkomme," sagte der Spielmann und ging seines Weges.
Über eine Weile sprach er abermals zu sich selber: "Mir wird hier im Walde Zeit und Weile lang, ich will einen anderen Gesellen herbeiholen," nahm seine Geige und fiedelte wieder in den Wald hinein. Nicht lange, so kam ein Fuchs durch die Bäume dahergeschlichen. "Ach, ein Fuchs kommt," sagte der Spielmann, "nach dem trage ich kein Verlangen." Der Fuchs kam zu ihm heran und sprach: "Ei, du lieber Spielmann, was fiedelst du so schön! Das möchte ich auch lernen." - "Das ist bald gelernt," sprach der Spielmann, "du mußt nur alles tun, was ich dir heiße." - "O Spielmann," antwortete der Fuchs, "ich will dir gehorchen, wie ein Schüler seinem Meister." - "Folge mir," sagte der Spielmann, und als sie ein Stück Wegs gegangen waren, kamen sie auf einen Fußweg, zu dessen beiden Seiten hohe Sträucher standen. Da hielt der Spielmann still, bog von der einen Seite ein Haselnußbäumchen zur Erde herab und trat mit dem Fuß auf die Spitze, dann bog er von der andern Seite noch ein Bäumchen herab und sprach: "Wohlan, Füchslein, wenn du etwas lernen willst, so reich mir deine linke Vorderpfote." Der Fuchs gehorchte, und der Spielmann band ihm die Pfote an den linken Stamm. "Füchslein," sprach er, "nun reich mir die rechte." Die band er ihm an den rechten Stamm. Und als er nachgesehen hatte, ob die Knoten der Stricke auch fest genug waren, ließ er los, und die Bäumchen fuhren in die Höhe und schnellten das Füchslein hinauf, daß es in der Luft schwebte und zappelte. "Warte da so lange, bis ich wiederkomme," sagte der Spielmann und ging seines Weges.
Wiederum sprach er zu sich: "Zeit und Weile wird mir hier im Walde lang; ich will einen andern Gesellen herbeiholen," nahm seine Geige und der Klang erschallte durch den Wald. Da kam ein Häschen dahergesprungen. "Ach, ein Hase kommt!" sagte der Spielmann, "den wollte ich nicht haben." - "Ei, du lieber Spielmann," sagte das Häschen, "was fiedelst du so schön, das möchte ich auch lernen." - "Das ist bald gelernt," sprach der Spielmann, "du mußt nur alles tun, was ich dir heiße." - "O Spielmann," antwortete das Häslein, "ich will dir gehorchen, wie ein Schüler seinem Meister." Sie gingen ein Stück Wegs zusammen, bis sie zu einer lichten Stelle im Walde kamen, wo ein Espenbaum stand. Der Spielmann band dem Häschen einen langen Bindfaden um den Hals, wovon er das andere Ende an den Baum knüpfte. "Munter, Häschen, jetzt spring mir zwanzigmal um den Baum herum!" rief der Spielmann, und das Häschen gehorchte. Und wie es zwanzigmal herumgelaufen war, so hatte sich der Bindfaden zwanzigmal um den Stamm gewickelt, und das Häschen war gefangen, und es mochte ziehen und zerren, wie es wollte, es schnitt sich nur den Faden in den weichen Hals. "Warte da so lange, bis ich wiederkomme," sprach der Spielmann und ging weiter.
Der Wolf indessen hatte gerückt, gezogen, an dem Stein gebissen, und so lange gearbeitet, bis er die Pfoten freigemacht und wieder aus der Spalte gezogen hatte. Voll Zorn und Wut eilte er hinter dem Spielmann her und wollte ihn zerreißen. Als ihn der Fuchs laufen sah, fing er an zu jammern, und schrie aus Leibeskräften: "Bruder Wolf, komm mir zu Hilfe, der Spielmann hat mich betrogen!" Der Wolf zog die Bäumchen herab, biß die Schnur entzwei und machte den Fuchs frei, der mit ihm ging und an dem Spielmann Rache nehmen wollte. Sie fanden das gebundene Häschen, das sie ebenfalls erlösten, und dann suchten alle zusammen ihren Feind auf.
Der Spielmann hatte auf seinem Weg abermals seine Fiedel erklingen lassen, und diesmal war er glücklicher gewesen. Die Töne drangen zu den Ohren eines armen Holzhauers, der alsbald, er mochte wollen oder nicht, von der Arbeit abließ und mit dem Beil unter dem Arme herankam, die Musik zu hören. "Endlich kommt doch der rechte Geselle," sagte der Spielmann, "denn einen Menschen suchte ich und keine wilden Tiere." Und fing an und spielte so schön und lieblich, daß der arme Mann wie bezaubert dastand, und ihm das Herz vor Freude aufging. Und wie er so stand, kamen der Wolf, der Fuchs und das Häslein heran, und er merkte wohl, daß sie etwas Böses im Schilde führten. Da erhob er seine blinkende Axt und stellte sich vor den Spielmann, als wollte er sagen: "Wer an ihn will, der hüte sich, der hat es mit mir zu tun." Da ward den Tieren angst und sie liefen in den Wald zurück; der Spielmann aber spielte dem Manne noch eins zum Dank und zog dann weiter.
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Die Prinzessin auf der Erbse
(Hans Christian Andersen)
Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten; aber es sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall war etwas im Wege. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nicht herausbringen. Immer war etwas, was nicht so ganz in der Ordnung war. Da kam er denn wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch so gern eine wirkliche Prinzessin haben.
Eines Abends zog ein schreckliches Gewitter auf; es blitzte und donnerte, der Regen strömte herunter, es war ganz entsetzlich! Da klopfte es an das Stadtthor, und der alte König ging hin, um aufzumachen.
Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Tore stand. Aber, o Gott! wie sah die von dem Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern herunter; es lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und an den Hacken wieder heraus. Und doch sagte sie, daß sie eine wirkliche Prinzessin sei.
"Ja, das werden wir schon erfahren!" dachte die alte Königin. Aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alle Betten ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle; darauf nahm sie zwanzig Matratzen und legte sie auf die Erbse, und dann noch zwanzig Eiderdunen-Betten oben auf die Matratzen.
Da mußte nun die Prinzessin die ganze Nacht liegen. Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen habe.
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"O, erschrecklich schlecht!" sagte die Prinzessin. "Ich habe meine Augen fast die ganze Nacht nicht geschlossen! Gott weiß, was da im Bette gewesen ist! Ich habe auf etwas Hartem gelegen, sodaß ich ganz braun und blau über meinen ganzen Körper bin! Es ist ganz entsetzlich!"
Nun sahen sie ein, daß es eine wirkliche Prinzessin war, da sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdunen-Betten hindurch die Erbse verspürt hatte. So empfindlich konnte Niemand sein, als eine wirkliche Prinzessin.
Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wußte er, daß er eine wirkliche Prinzessin besitze; und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn Niemand sie gestohlen hat. Sieh, das war eine wahre Geschichte.
 
Der Schweinehirt
Hans Christian Andersen
Es war einmal ein armer Prinz; der hatte ein Königreich, welches ganz klein war; aber es war immer groß genug, um darauf zu heirathen, und verheiraten wollte er sich.
Nun war es freilich etwas keck von ihm, daß er zur Tochter des Kaisers zu sagen wagte: "Willst Du mich haben?" Aber er wagte es doch, denn sein Name war weit und breit berühmt; es gab Hunderte von Prinzessinnen, die gern ja gesagt hätten, aber ob sie es wohl tat?
Nun, wir wollen sehen.
Auf dem Grabe des Vaters des Prinzen war ein Rosenstrauch, so ein herrlicher Rosenstrauch! Der blühte nur jedes fünfte Jahr, und auch dann trug er nur eine einzige Rose; aber was für eine Rose! Die duftete so süß, daß man alle seine Sorgen und seinen Kummer vergaß, wenn man daran roch. Und dann hatte er eine Nachtigall, die konnte singen, als ob alle schönen Melodieen in ihrer kleinen Kehle säßen. Diese Rose und diese Nachtigall sollte die Prinzessin haben; und deshalb wurden sie beide in große Silberbehälter gesetzt und so ihr zugesandt.
Der Kaiser ließ sie vor sich her in den großen Saal tragen, wo die Prinzessin war und "Es kommt Besuch" mit ihren Hofdamen spielte; und als sie die großen Behälter mit den Geschenken darin erblickte, klatschte sie vor Freude in die Hände.
"Wenn es doch eine kleine Mietzkatze wäre!" sagte sie. - Aber da kam der Rosenstrauch mit der herrlichen Rose hervor.
"Nein, wie ist die niedlich gemacht!" sagten alle Hofdamen.
"Sie ist mehr als niedlich," sagte der Kaiser, "sie ist scharmant!"
Aber die Prinzessin befühlte sie, und da war sie nahe daran, zu weinen.
"Pfui, Papa!" sagte sie, "sie ist nicht künstlich, sie ist natürlich!"
"Pfui!" sagten alle Hofdamen, "sie ist natürlich!"
"Laßt uns nun erst sehen, was in dem andern Behälter ist, ehe wir böse werden," meinte der Kaiser; und da kam die Nachtigall heraus; die sang so schön, daß man nicht gleich etwas Böses gegen sie vorzubringen wußte.
"Superbe! charmant!" sagten die Hofdamen, denn sie plauderten alle französisch, eine immer ärger als die andere.
"Wie der Vogel mich an die Spieldose der seligen Kaiserin erinnert," sagte ein alter Cavalier; "ach ja, das ist ganz derselbe Ton, derselbe Vortrag!"
"Ja," sagte der Kaiser, und dann weinte er, wie ein kleines Kind.
"Es wird doch hoffentlich kein natürlicher sein?" sagte die Prinzessin.
"Ja, es ist ein natürlicher Vogel," sagten Die, welche ihn gebracht hatten.
"So laßt den Vogel fliegen," sagte die Prinzessin, und sie wollte auf keine Weise gestatten, daß der Prinz käme.
Aber der ließ sich nicht einschüchtern; er bemalte sich das Antlitz mit Braun und Schwarz, drückte die Mütze tief über den Kopf und klopfte an.
"Guten Tag, Kaiser!" sagte er; "könnte ich nicht hier auf dem Schlosse einen Dienst bekommen?"
"Ja," sagte der Kaiser, "es sind aber so sehr Viele, die um Anstellung bitten; ich weiß daher nicht, ob es sich machen wird; ich werde aber an Dich denken. Doch da fällt mir eben ein, ich brauche Jemanden, der die Schweine hüten kann, denn deren habe ich viele, sehr viele."
Und der Prinz wurde angestellt als kaiserlicher Schweinehirt. Er bekam eine jämmerlich kleine Kammer unten beim Schweinekoben, und hier mußte er bleiben; aber den ganzen Tag saß er und arbeitete, und als es Abend war, hatte er einen niedlichen kleinen Topf gemacht; rings um denselben waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie aufs Schönste und spielten die alte Melodie:
"Ach, Du lieber Augustin, Alles ist weg, weg, weg!"
Aber das Allerkünstlichste war doch, daß man, wenn man den Finger in den Dampf des Topfes hielt, sogleich riechen konnte, welche Speisen auf jedem Feuerherd in der Stadt zubereitet wurden. Das war wahrlich etwas ganz Anderes als die Rose.
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Nun kam die Prinzessin mit allen ihren Hofdamen daher spaziert, und als sie die Melodie hörte, blieb sie stehen und sah ganz erfreut aus; denn sie konnte auch "Ach, Du lieber Augustin" spielen; es war das Einzige, was sie konnte, aber das spielte sie mit Einem Finger.
"Das ist ja Das, was ich kann!" sagte sie. "Es muß ein gebildeter Schweinehirt sein! Höre, gehe hinunter und frage ihn, was das Instrument kostet."
Und da mußte eine der Hofdamen hinuntergehen; aber sie zog Holzpantoffeln an. -
"Was willst Du für den Topf haben?" fragte die Hofdame.
"Ich will zehn Küsse von der Prinzessin haben," sagte der Schweinehirt.
"Gott bewahre!" sagte die Hofdame.
"Ja, für weniger thue ich es nicht," antwortete der Schweinehirt.
"Nun, was antwortete er?" fragte die Prinzessin.
"Das mag ich gar nicht sagen," erwiederte die Hofdame.
"Ei, so kannst Du es mir ja ins Ohr flüstern."
"Er ist unartig!" sagte die Prinzessin, und dann ging sie. - Aber als sie ein kleines Stück gegangen war, erklangen die Schellen so lieblich:
"Ach, Du lieber Augustin, Alles ist weg, weg, weg!"
"Höre," sagte die Prinzessin, "frage ihn, ob er zehn Küsse von meinen Hofdamen haben will."
"Ich danke schön," sagte der Schweinehirt; "zehn Küsse von der Prinzessin, oder ich behalte meinen Topf."
"Was ist doch das langweilig!" sagte die Prinzessin. "Aber dann müßt Ihr vor mir stehen, damit es Niemand sieht."
Und die Hofdamen stellten sich davor, und dann breiteten sie ihre Kleider aus, und da bekam der Schweinehirt zehn Küsse, und sie erhielt den Topf.
Nun, das war eine Freude! Den ganzen Abend und den ganzen Tag mußte der Topf kochen; es gab nicht einen Feuerherd in der ganzen Stadt, von dem sie nicht wußten, was darauf gekocht wurde, sowohl beim Kammerherrn, wie beim Schuhmacher. Die Hofdamen tanzten und klatschten in die Hände.
"Wir wissen, wer süße Suppe und Eierkuchen essen wird; wir wissen, wer Grütze und Carbonade bekommt; wie ist das doch interessant!"
"Sehr interessant!" sagte die Oberhofmeisterin.
"Ja, aber haltet reinen Mund, denn ich bin des Kaisers Tochter."
"Ja wohl; das versteht sich!" sagten Alle.
Der Schweinehirt, das heißt der Prinz - aber sie wußten es ja nicht anders, als daß er ein wirklicher Schweinehirt sei - ließ keinen Tag verstreichen, ohne etwas zu thun, und so machte er eine Knarre, wenn man die herumschwang, erklangen alle die Walzer, Hopser und Polkas, die man seit Erschaffung der Welt gekannt hat.
"Aber das ist superbe!" sagte die Prinzessin, indem sie vorbeiging. "Ich habe nie eine schönere Composition gehört. Höre, gehe hinein und frage ihn, was das Instrument kostet; aber ich küsse nicht wieder!"
"Er will hundert Küsse von der Prinzessin haben," sagte die Hofdame, welche hineingegangen war, um zu fragen.
"Ich glaube, er ist verrückt!" sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, blieb sie stehen. "Man muß die Kunst aufmuntern," sagte sie. "Ich bin des Kaisers Tochter! Sage ihm, er solle, wie neulich, zehn Küsse haben; den Rest kann er von meinen Hofdamen bekommen."
"Ach, aber wir thun es so ungern!" sagten die Hofdamen.
"Das ist Geschwätz," sagte die Prinzessin; "und wenn ich ihn küssen kann, so könnt Ihr es auch. Bedenkt, ich gebe Euch Kost und Lohn!" Und nun mußten die Hofdamen wieder zu ihm hinein.
"Hundert Küsse von der Prinzessin," sagte er, "oder Jeder behält das Seine."
"Stellt Euch davor!" sagte sie alsdann; und da stellten alle Hofdamen sich davor, und dann küßte er die Prinzessin.
"Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinekoben sein?" fragte der Kaiser, welcher auf dem Balcon hinausgetreten war. Er rieb sich die Augen und setzte die Brille auf. "Das sind ja die Hofdamen, die da ihr Wesen treiben; ich werde wohl zu ihnen hinunter müssen." - Und so zog er seine Pantoffeln hinten herauf, denn es waren Schuhe, die er niedergetreten hatte.
Potz Wetter, wie er sich sputete.
Sobald er in den Hof hinunter kam, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten so viel damit zu thun, die Küsse zu zählen, damit es ehrlich zugehe, daß sie den Kaiser gar nicht bemerkten. Er erhob sich auf den Zehen.
"Was ist das?" sagte er, als er sah, daß sie sich küßten, und dann schlug er sie mit seinem Pantoffel an den Kopf, gerade als der Schweinehirt den sechsundachtzigsten Kuß erhielt.
"Packt Euch!" sagte der Kaiser, denn er war böse. Und sowohl die Prinzessin, als der Schweinehirt wurden aus seinem Kaiserreiche hinausgestoßen.
Da stand sie nun und weinte; der Schweinehirt schalt, und der Regen strömte hernieder.
"Ach, ich elendes Geschöpf! sagte die Prinzessin; "hätte ich doch den schönen Prinzen genommen. Ach, wie unglücklich bin ich!"
Und der Schweinehirt ging hinter einen Baum, wischte das Schwarze und Braune aus seinem Gesicht, warf die schlechten Kleider von sich und trat nun in seiner Prinzentracht hervor, so schön, daß die Prinzessin sich verneigen mußte.
"Ich bin nun dahin gekommen, daß ich Dich verachte!" sagte er. "Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen haben; Du verstandest Dich nicht auf die Rose und die Nachtigall; aber den Schweinehirten konntest Du für eine Spielerei küssen; das hast Du nun dafür!"
Und dann ging er in sein Königreich und machte ihr die Tür vor der Nase zu. Da konnte sie draußen stehen und singen:
"Ach, Du lieber Augustin,
Alles ist weg, weg, weg!"
 
Des Kaisers neue Kleider
(Hans Christian Andersen)
Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, dass er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um Theater und liebte es nicht, in den Wald zu fahren, außer um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagte, er ist im Rat, so sagte man hier immer: "Der Kaiser ist in der Garderobe!"
In der großen Stadt, in der er wohnte, ging es sehr munter her. An jedem Tag kamen viele Fremde an, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, dass sie das schönste Zeug, was man sich denken könne, zu weben verstanden. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, dass sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.
,Das wären ja prächtige Kleider', dachte der Kaiser. ‚Wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muss sogleich für mich gewebt werden!' Er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten.
Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein. ,Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!', dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zumute, wenn er daran dachte, dass keiner, der dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es sehen könne. Er glaubte zwar, dass er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern senden, um zu sehen, wie es damit stehe. Alle Menschen in der ganzen Stadt wussten, welche besondere Kraft das Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.
,Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden', dachte der Kaiser, ‚er kann am besten beurteilen, wie der Stoff sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!'
Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. ,Gott behüte uns!' dachte der alte Minister und riss die Augen auf. ,Ich kann ja nichts erblicken!' Aber das sagte er nicht.
Beide Betrüger baten ihn näher zu treten und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl, und der arme, alte Minister fuhr fort, die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. ,Herrgott', dachte er, ‚sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, dass ich erzähle, ich könne das Zeug nicht sehen!'
"Nun, Sie sagen nichts dazu?", fragte der eine von den Webern. "Oh, es ist niedlich, ganz allerliebst!", antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. "Dieses Muster und diese Farben! – Ja, ich werde dem Kaiser sagen, dass es mir sehr gefällt!"
"Nun, das freut uns!", sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das tat er auch.
Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold zum Weben. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Stühlen zu arbeiten.
Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe und ob das Zeug bald fertig sei; es ging ihm aber gerade wie dem ersten, er guckte und guckte; weil aber außer dem Webstuhl nichts da war, so konnte er nichts sehen.
"Ist das nicht ein ganz besonders prächtiges und hübsches Stück Zeug?" fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, das gar nicht da war.
,Dumm bin ich nicht', dachte der Mann, ‚es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muss man sich nicht anmerken lassen!' Daher lobte er das Zeug, das er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. "Ja, es ist ganz allerliebst!", sagte er zum Kaiser.
Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge. Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter denen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner waren, die schon früher dagewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden.
"Ja, ist das nicht prächtig?", sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. "Wollen Eure Majestät sehen, welches Muster, welche Farben?" Und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, dass die andern das Zeug wohl sehen könnten.
,Was!', dachte der Kaiser, ‚ich sehe gar nichts! Das ist ja schrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte.' "Oh, es ist sehr hübsch", sagte er, "es hat meinen allerhöchsten Beifall!" Und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; er wollte nicht sagen, dass er nichts sehen konnte. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam nicht mehr heraus als alle die andern, aber sie sagten gleich wie der Kaiser: "Oh, das ist hübsch!', und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal bei dem großen Feste, das bevorstand, zu tragen.
"Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!", ging es von Mund zu Mund, und man schien allerseits innig erfreut darüber. Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um es in das Knopfloch zu hängen, und den Titel Hofweber.
Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem das Fest stattfinden sollte, waren die Betrüger auf und hatten sechzehn Lichte angezündet, damit man sie auch recht gut bei ihrer Arbeit beobachten konnte. Die Leute konnten sehen, dass sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertigzumachen. Sie taten, als ob sie das Zeug aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit großen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: "Sieh, nun sind die Kleider fertig!"
Der Kaiser mit seinen vornehmsten Beamten kam selbst, und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, gerade, als ob sie etwas hielten, und sagten: "Seht, hier sind die Beinkleider, hier ist das Kleid, hier ist der Mantel!", und so weiter. "Es ist so leicht wie Spinnwebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit dabei!" "Ja!", sagten alle Beamten, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts da.
"Belieben Eure Kaiserliche Majestät Ihre Kleider abzulegen", sagten die Betrüger, "so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!" Der Kaiser legte seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzogen, die fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel.
"Ei, wie gut sie kleiden, wie herrlich sie sitzen!", sagten alle. "Welches Muster, welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!"
"Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, der über Eurer Majestät getragen werden soll!", meldete der Oberzeremonienmeister.
"Seht, ich bin ja fertig!", sagte der Kaiser. "Sitzt es nicht gut?" Und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seine Kleider recht betrachte.
Die Kammerherren, die das Recht hatten, die Schleppe zu tragen, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich anmerken zu lassen, dass sie nichts sehen konnten.
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So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: "Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!" Keiner wollte es sich merken lassen, dass er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese.
"Aber er hat ja gar nichts an!", sagte endlich ein kleines Kind. "Hört die Stimme der Unschuld!", sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.
"Aber er hat ja gar nichts an!", rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: ,Nun muss ich aushalten.' Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.
 
Kwaku Ananse und die Weisheit
(Ghana)
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Kwaku Ananse, das Spinnenmännchen, betrachtete die Welt und kam zu dem Schluss, dass die Menschen mit der ihnen von Gott gegebenen Weisheit sehr unüberlegt und verschwenderisch umgingen. Also entschloss sich Kwaku Ananse, alle Weisheit der Welt einzusammeln und zu verwalten.

Er machte sich auf den Weg, bereiste alle Länder und sammelte jedes kleinste Stückchen Weisheit ein. Er befragte alle Menschen, flüsterte ihr Wissen leise in einen großen Kürbis und füllte ihn bis zum Rand. Behutsam legte Kwaku Ananse den Deckel darauf und band ihn gut fest. Nachdem er wieder nach Ghana zurückgekehrt war, begann Kwaku Ananse darüber nachzudenken, wo er den Kürbis mit der Weisheit aufbewahren könnte, und kam zu dem Entschluss, den kostbaren Schatz auf die höchste Palme zu tragen und dort zwischen den Zweigen zu verstecken.
Er würde den Kürbis gut festbinden, und dort oben wäre er so versteckt, dass ihn niemand sehen könnte. Es würde ja auch niemand vermuten, dass die ganze Weisheit der Welt sich auf einer Kokospalme in Ghana befinden könnte. Kwaku Ananse band sich also den Kürbis vor den Bauch, hing sich ein langes Seil über die Schulter und begann, langsam die Palme hinaufzuklettern. Da der Kürbis sehr groß und sehr schwer war, musste sich Kwaku Ananse ordentlich anstrengen. Vorsichtig setzte er ein Bein vor das andere und kletterte die schwankende Palme hinauf.
Als er so kletterte, merkte er plötzlich, dass sich das Band, mit dem er den Kürbis vor seinem Bauch angebunden hatte, lockerte. Also hielt er den Kürbis mit beiden Beinen fest. Nun war das Klettern aber noch schwieriger geworden. Er entschloss sich, eine kurze Rast zu machen.
Plötzlich blickte er hinunter zum Fuß der Palme und sah dort seinen jüngsten Sohn, der sich vor Lachen den Bauch hielt. Da wurde er zornig und rief hinunter: „Sohn, warum lachst du deinen Vater aus, der sich so anstrengt, die ganze Weisheit der Welt in Sicherheit zu bringen?“
Da lachte der Junge noch mehr und rief zu Kwaku Ananse hinauf: „Sage mir, Vater, wenn du die ganze Weisheit der Welt in Sicherheit bringen willst, warum trägst du sie dann vor dem Bauch und nicht auf dem Rücken? Das wäre doch viel einfacher und bequemer!“ Kwaku Ananse erkannte seine eigene Dummheit. Er ärgerte sich über sich selbst und über die frechen Worte seines Sohnes so sehr, dass er ohne zu überlegen einen Arm vom Kürbis nahm, die Hand zur Faust ballte und ihm drohte.
Ehe Kwaku Ananse jedoch nur ein Wort sagen konnte, fühlte er, dass der Kürbis unter dem Band durchglitt. Mit einem Arm ließ sich der Kürbis nicht mehr halten und stürzte in die Tiefe. Er prallte auf den harten Boden auf und zerbrach in tausend Stücke. Kwaku Ananse blickte wie erstarrt hinunter und sah, wie die ganze Weisheit der Welt in kleinen Bächen davonfloss und begann, langsam in der Erde zu versickern.
Von allen Seiten kamen die Menschen herbeigelaufen und hielten große und kleine Holzschalen oder Kürbisse in der Hand. Manche hatten in der Eile auch nur ein Blatt abgerissen oder auch nur einen Suppenlöffel mitgebracht. Sie alle versuchten, so viel wie möglich von der ausfließenden Weisheit zu erwischen.
Kwaku Ananse aber, der langsam begann, die Palme hinunterzuklettern, ahnte bereits, dass für ihn selbst kaum ein Restchen übrig bleiben würde.
So kam es, dass die Weisheit unter den Menschen so ungleich verteilt ist. Die einen haben viel davon, die anderen wenig. Und Kwaku Ananse? Der ging diesmal leer aus.
 
Kwaku Ananse und die Weisheit
(Ghana)
Anhang anzeigen 21078
Kwaku Ananse, das Spinnenmännchen, betrachtete die Welt und kam zu dem Schluss, dass die Menschen mit der ihnen von Gott gegebenen Weisheit sehr unüberlegt und verschwenderisch umgingen. Also entschloss sich Kwaku Ananse, alle Weisheit der Welt einzusammeln und zu verwalten.

Er machte sich auf den Weg, bereiste alle Länder und sammelte jedes kleinste Stückchen Weisheit ein. Er befragte alle Menschen, flüsterte ihr Wissen leise in einen großen Kürbis und füllte ihn bis zum Rand. Behutsam legte Kwaku Ananse den Deckel darauf und band ihn gut fest. Nachdem er wieder nach Ghana zurückgekehrt war, begann Kwaku Ananse darüber nachzudenken, wo er den Kürbis mit der Weisheit aufbewahren könnte, und kam zu dem Entschluss, den kostbaren Schatz auf die höchste Palme zu tragen und dort zwischen den Zweigen zu verstecken.
Er würde den Kürbis gut festbinden, und dort oben wäre er so versteckt, dass ihn niemand sehen könnte. Es würde ja auch niemand vermuten, dass die ganze Weisheit der Welt sich auf einer Kokospalme in Ghana befinden könnte. Kwaku Ananse band sich also den Kürbis vor den Bauch, hing sich ein langes Seil über die Schulter und begann, langsam die Palme hinaufzuklettern. Da der Kürbis sehr groß und sehr schwer war, musste sich Kwaku Ananse ordentlich anstrengen. Vorsichtig setzte er ein Bein vor das andere und kletterte die schwankende Palme hinauf.
Als er so kletterte, merkte er plötzlich, dass sich das Band, mit dem er den Kürbis vor seinem Bauch angebunden hatte, lockerte. Also hielt er den Kürbis mit beiden Beinen fest. Nun war das Klettern aber noch schwieriger geworden. Er entschloss sich, eine kurze Rast zu machen.
Plötzlich blickte er hinunter zum Fuß der Palme und sah dort seinen jüngsten Sohn, der sich vor Lachen den Bauch hielt. Da wurde er zornig und rief hinunter: „Sohn, warum lachst du deinen Vater aus, der sich so anstrengt, die ganze Weisheit der Welt in Sicherheit zu bringen?“
Da lachte der Junge noch mehr und rief zu Kwaku Ananse hinauf: „Sage mir, Vater, wenn du die ganze Weisheit der Welt in Sicherheit bringen willst, warum trägst du sie dann vor dem Bauch und nicht auf dem Rücken? Das wäre doch viel einfacher und bequemer!“ Kwaku Ananse erkannte seine eigene Dummheit. Er ärgerte sich über sich selbst und über die frechen Worte seines Sohnes so sehr, dass er ohne zu überlegen einen Arm vom Kürbis nahm, die Hand zur Faust ballte und ihm drohte.
Ehe Kwaku Ananse jedoch nur ein Wort sagen konnte, fühlte er, dass der Kürbis unter dem Band durchglitt. Mit einem Arm ließ sich der Kürbis nicht mehr halten und stürzte in die Tiefe. Er prallte auf den harten Boden auf und zerbrach in tausend Stücke. Kwaku Ananse blickte wie erstarrt hinunter und sah, wie die ganze Weisheit der Welt in kleinen Bächen davonfloss und begann, langsam in der Erde zu versickern.
Von allen Seiten kamen die Menschen herbeigelaufen und hielten große und kleine Holzschalen oder Kürbisse in der Hand. Manche hatten in der Eile auch nur ein Blatt abgerissen oder auch nur einen Suppenlöffel mitgebracht. Sie alle versuchten, so viel wie möglich von der ausfließenden Weisheit zu erwischen.
Kwaku Ananse aber, der langsam begann, die Palme hinunterzuklettern, ahnte bereits, dass für ihn selbst kaum ein Restchen übrig bleiben würde.
So kam es, dass die Weisheit unter den Menschen so ungleich verteilt ist. Die einen haben viel davon, die anderen wenig. Und Kwaku Ananse? Der ging diesmal leer aus.
Sehe ich anders. Wenn Kwaku Ananse seine Dummheit eingesehen hat, so wurde auch ihm Weisheit erteilt! :yes:
 
Die Legende der Prinzessin von Guatavita
(Kolumbien)
Lange Zeit bevor die spanischen Eroberer in das Land der Muisca, der Bewohner der Region um Guatavita, kamen, verehrten diese eine einstige Prinzessin, die immer bei Vollmond aus der Tiefe des Sees emporstieg und über dem Dunst schwebte. Das hier ist ihre Geschichte:
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Es war einmal ein großer Muisca-Häuptling, der mit der schönsten Frau seines Stammes, einer edelmütigen und vom Volk geliebten Prinzessin, verheiratet war. Mit der Geburt einer Tochter, die der ganze Stolz des Vaters war, schien ihr Glück komplett.
Die Zeit verging und der Häuptling, der mit Regierungsangelegenheiten und anderen Frauen beschäftigt war, entfernte sich immer mehr von seiner Prinzessin und seinem Zuhause. Wie es sich für eine Frau ihres Ranges gehörte, ließ die Prinzessin die ständige Abwesenheit und die andauernden Affären ihres Mannes einige Zeit über sich ergehen. Doch eines Tages waren die Einsamkeit und der Schmerz größer als die sozialen Normen und Pflichten, und sie verliebte sich in einen der edelsten und anmutigsten Krieger des Stammes. Zu ihrem großen Glück erwiderte der Krieger diese Liebe bedingungslos.
Die Verliebten konnten sich nicht so oft sehen, wie sie gerne gewollt hätten, da zu dieser Zeit auch der Häuptling unter den Seinen weilte. Außerdem vermutete er irgendetwas und ließ die Prinzessin von einer alten Frau beschatten. So entdeckte die Alte eines Nachts die Liebenden und berichtete dem Häuptling davon.
Am nächsten Tag ließ der Häuptling ein großes Fest zu Ehren seiner Frau veranstalten. Der Prinzessin wurde ein lecker zubereitetes Herz serviert. Kaum hatte sie den letzten Bissen genommen, brachen die Anwesenden – allen voran der Häuptling – in schallendes Gelächter aus. Da verstand die Prinzessin, was passiert war: Man hatte ihren Liebhaber getötet und ihr sein Herz als Festmahl vorgesetzt.
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Völlig verzweifelt flüchtete sie mit ihrer kleinen Tochter in Richtung Guatavita. Es war fast Mitternacht, als die beiden bei der Lagune ankamen, und vom Ufer her stiegen dicke Nebelschwaden empor. Die Prinzessin warf ihrer kleinen Tochter einen letzten, liebevollen Blick zu und stürzte sich mit ihr ins Wasser.
Als der Häuptling hörte, was passiert war, rannte er zur Lagune und rief den Namen seiner Frau, ohne jedoch mehr als die Stille der Nacht als Antwort zu bekommen. Sofort ließ er nach den Schamanen rufen, damit diese nach der Prinzessin suchten. Die weisen Männer versuchten mit Beschwörungsformeln und speziellen Riten herauszufinden, was mit der Frau und ihrer Tochter passiert war. Ein Schamane stieg in die Tiefen der Lagune herab, kehrte kurze Zeit später mit der Leiche des Mädchens zurück und verkündete, dass die Prinzessin im Königreich des Wassers glücklich und am Leben war.
Seit jener Nacht erscheint die Prinzessin immer bei Vollmond im dichten Nebel der Lagune, um sich die Sorgen und Bitten ihres Volkes anzuhören. Somit wurde die Lagune zu einem heiligen Ort, an dem später auch die berühmte Legende von El Dorado ihren Ursprung fand.
 
Tanabata – Sternenfest
(Japan)
Es w1709621462874.jpegar einmal ein junger Mann, der mit Eisenwaren handelte. Überall im Land war er unterwegs, um Handel zu treiben. Manchmal im Sommer kam er an einem See im Wald vorbei. Von dort hörte er fröhliche Stimmen, die seine Aufmerksamkeit weckten. Als er sich näher heranschlich, sah er, wie dort eine Schar junger Mädchen spielte.
Er fand Gefallen an ihnen und beobachtete sie eine Weile vom Gebüsch aus, das um den See herum wuchs. Da sah er die herrlichen Kleider der Badenden an einem Ast hängen. Sie waren auf wunderschöne Weise bestickt. Er kam näher, um sie sich anzusehen. Bald schon war er sicher, dass er eins davon in seinen Besitz bringen musste.
Schließlich konnte er nicht anders, als ein Kleid zu nehmen und in seinen Taschen zu verstauen. Danach machte er sich auf nach Hause. Am Abend kam er noch einmal am See vorbei, an dem nun keine Mädchen mehr zu sehen waren. Ein trauriges Geheul drang vom See her zu ihm. Wieder schlich er sich heran und ihm fiel ein wunderschönes Mädchen auf. Freundlich fragte er es, was denn los sei. "Mir hat jemand mein Kleid gestohlen und, ohne dass ich es habe, kann ich nicht nach Hause", antwortete sie ihm. Da wusste er sogleich, dass er selbst der Dieb war. Er war unentschlossen, einerseits wollte er es schleunigst zurückgeben, andererseits malte er sich aus, dass er sie vielleicht für sich gewinnen könnte, wenn er ihr helfen würde.
Zunächst beteuerte er sein Mitleid und lud sie zu sich ein. Langsam näherten sie sich im Gespräch an und der junge Händler sah sich seinem Ziel nahe. Auch das Mädchen fand Gefallen an dem stattlichen Jüngling. Freundlich war er zudem auch sehr. Schließlich erreichte er sein Ziel und sie wurde seine Frau. Schon bald darauf wurde ein Kind geboren und sie bildeten eine glückliche Familie.
Eines Tages aber war sie allein zu Haus und entdeckte zufällt ihr Kleid, das ihr Mann damals gestohlen hatte. Darüber war sie zunächst sehr zornig, aber sie wusste auch, dass er immer gut zu ihr gewesen war und dass sie ihn liebte, und so konnte sie ihm verzeihen.
Aber nun war es Zeit heimzukehren und sie zog sich das Kleid an und nahm das kleine Kind auf ihren Arm. Darauf begab sie sich ins Freie. Genau in dem Moment kam ihr Mann heim und sah sie in diesem Kleid. Er ahnte das Schlimmste. Sie begann schon zu schweben wie von Zauberhand. Verzweifelt flehte er sie an zu bleiben, doch ihre Antwort war: "Ich kann nicht auf dieser Welt bleiben, das ist nicht meine, ich komme aus dem Himmel. Ich muss dorthin zurückkehren."
Jammernd und weinend sank er in sich zusammen. Ihre letzte, kaum noch hörbare Nachricht war, dass er, wenn er sie wiedersehen wolle, tausend Paare Sandalen im Wäldchen vergraben müsse, damit aus ihnen ein so großer Spross hervorgeht, dass man darauf bis zum Himmel klettern kann.
Noch am selben Tage begann er wie verrückt Sandalen zu flechten. Keine Pause sollte er sich gönnen bis es 999 waren. Für das letzte Paar reichte seine Kraft einfach nicht mehr, zu groß war die Sehnsucht.
Erschöpft schleppte er sich in den Wald und vergrub sie allesamt. Kaum hatte er sie mit dem letzten Erdbrocken bedeckt, da wuchs schon ein gewaltiger Bambusspross an genau dieser Stelle gen Himmel. Geschwind begann er an ihm hinaufzuklettern. Seine Sehnsucht gab ihm so viel Kraft, dass er bald über den Wolken war. Dort oben waren die prächtigen Paläste des Himmels. Fast konnte er nach dem himmlischen Reich greifen, aber ein Paar fehlte!
Verzweiflung machte sich breit und er rief nach seiner Frau. Grade noch rechtzeitig tauchte sie auf und half ihm das letzte kleine Stück in den Himmel. Herzlich begrüßte sie ihn und beide machten sich auf durch diese wunderliche Welt. Bald sah er sein Kind wieder. Er war sehr glücklich. Da stellte sie ihm auch ihre Eltern vor, die zunächst ganz freundlich schienen. Diese aber hatten große Zweifel daran, dass er der richtige Mann für ihre Tochter war, und so sollte er einige Prüfungen bestehen.
Zunächst sollte er mit einem Korb Wasser schöpfen. Langsam ging er zum Brunnen, stellte aber bald fest, dass es so nicht funktionierte. Wieder machte sich Panik breit. Und wieder kam ihm seine Frau zur Hilfe, die ihm ein Ölpapier in den Korb legte, sodass das Wasser drinnen blieb. So konnte er tatsächlich einen Korb mit Wasser vorzeigen.
Aber die gemeinen Eltern hatten noch eine zweite Prüfung. Jetzt sollte er in den Garten gehen und ihnen eine Melone aufschneiden. Das ist einfach, dachte er sich und setzte mit dem Messer an. Plötzlich aber strömten große Mengen Wasser aus der Stelle, die er angeschnitten hatte. Das war eine Falle! Die Eltern standen oben auf dem Balkon und beobachteten wie der Mann von den Wassermassen fortgetragen wurde. Ihr Plan war aufgegangen.
Seine Frau merkte dieses Mal erst viel zu spät, was los war, und rief ihm noch hinterher: "Triff mich am siebten an der Milchstraße, am siebten,..." Sie wiederholte es sehr oft und hoffte, dass er es noch mitbekommen hatte.
Am siebten Tag des Monats ging sie dann zur Milchstraße und wartete auf ihn. Doch er tauchte nicht auf. Das war auch im folgenden Monat so. Wieder und wieder kam er nicht, aber sie wollte so lange warten, bis er endlich auftauchen würde.
Erst am siebten Tag des siebten Monats sah sie ihn. Das war es nämlich, was er in den Wassern noch hatte verstehen können: der 7.7. Seit dieser Zeit treffen sich jedes Jahr am 7.7. Mann und Frau für einen Tag und eine Nacht an der Milchstraße zum Sternenfest. Nur in dieser Zeit ist es ihm möglich, seine Frau zu sehen.
 
Der Wanderer
(Indonesien)
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Im Königreich Majapahit gab es einen König, Prabu Brawijaya genannt, der weise regierte. Er hatte einen kleinen Vogel, der sehr gut singen konnte. Eines Tages aber, als er den Vogel füttern wollte, flog dieser davon.
Am nächsten Tag verkleidete sich der König zu seiner Sicherheit als armer Wanderer und ging mit seinem schwarzen Hund seinen Vogel suchen. Nach vielen Tagen kam er an ein kleines Haus, in dem ein alter Mann, Ki Wangsayuda, und seine Frau wohnten. Ki begrüßte Prabu Brawijaya und berichtete, dass er den Vogel gefunden habe. Prabu Brawijaya fragte: „Wie können Sie wissen, dass ich der Besitzer des Vogels bin?“ Der alte Mann sagte nur: ,,Vor fünf Tagen flog ein Vogel zu und ich kümmerte mich ihn. Und dann, als ich schlief, sagte eine Zaubererstimme: ‚Der Besitzer des Vogels wird mit einem schwarzen Hund in dein Haus kommen und du musst ihm den Vogel zurückgeben.‘ Seitdem lehnte ich viele Angebote, den Vogel zu verkaufen, ab.“
Dann gab er den Vogel zurück und bat den verkleideten König, in seinem Haus zu verweilen. Ki und seine Frau hatten keine Ahnung, dass der Wanderer der König war.
Am nächsten Morgen, bevor Prabu Brawijaya zurückfuhr, sagte er: „Sie haben mir sehr geholfen, als Sie mir den Vogel zurückgegeben und mich als seinen Besitzer akzeptiert haben. Von jetzt an sind Sie mein Bruder. Ich lasse meinen Hund hier. Bitte kümmern Sie sich um meinen Hund, und wenn Sie mich in der Stadt besuchen möchten, wird der Hund Sie zu meinem Haus leiten“.
Zwei Jahre später hatte Ki Sehnsucht nach seinem „Bruder“. Er nahm Abschied von seiner Frau und ging in die Stadt. In der Stadt musste er dem schwarzen Hund folgen, weil er das Haus von seinem Freund nicht kannte. Als sie am Palast ankamen, lief der Hund in den Palast. Obwohl Ki Angst hatte, folgte er dem Hund. Wer ohne Einladung in den Palast kam, konnte bestraft werden. Da traf er den König. Der alte Mann hatte sehr große Angst und verneigte sich vor dem König. Er hatte keinen Mut, ihm ins Gesicht zu sehen.
Dann hörte er ein Lachen und eine Stimme, die sagte: „Stehen Sie auf, wir sind Geschwister, ist es nicht so?“ Ki stand auf und sah, dass der König tatsächlich der Wanderer war. Der König bewirtete ihn und schenkte ihm einen riesigen Kürbis.
Unterwegs zu seinem Haus hatte Ki eine riesige Wut, weil der Kürbis sehr groß und schwer war. Als er zu Hause ankam, sagte er zu seiner Frau: „ Dies ist das Geschenk von deinem Schwager“, und er warf den Kürbis auf den Fußboden. Die Frau erschrak, weil der Kürbis viel Gold und Juwelen enthielt. Als Ki das sah, bat er um Verzeihung, weil er eine falsche Meinung von Prabu Brawijaya gehabt hatte.
Seitdem lebten er und seine Frau als ein sehr reiches Paar, aber sie blieben bescheiden für den Rest ihres Lebens.
 
Das Rätsel der drei Groschen
(Slowakei)
Es war einmal ein armer Mann, der musste neben einer Landstraße einen Graben ausheben. Niemand weiß, wie es dazu kam, aber eines Tages fuhr sogar der König auf dieser Straße. Als er den Mann bei seiner schweren Arbeit sah, hielt er an und fragte erstaunt: „Sag‘ mir, guter Mann, wie viel Geld verdienst du an einem Tag, wenn du so hart arbeitest?“
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„Gnädiger König, ich bekomme am Tag drei Groschen.“ Der König wunderte sich über den geringen Verdienst und fragte, wie denn der Mann von drei Groschen leben könne. Der antwortete: „Wenn mir das ganze Geld zum Leben bliebe, so wäre dies einfach. Doch ich muss von diesen drei Groschen einen zurückgeben, den anderen verleihen und von dem verbliebenen dritten lebe ich.“
Der König versuchte den Mann zu verstehen und rieb sich mit der Hand über seine Stirn, so als wolle er alles überdenken. Doch er fand nicht heraus, was dieser mit ‚zurückgeben‘ und ‚verleihen‘ meinte. Deshalb bat er schließlich seinen Untertan, das Rätsel aufzuklären.
Da sagte der arme Mensch: „Durchlaucht, es verhält sich so: Ich pflege meinen Vater. Der ist schon recht alt und kann kaum noch aus seinem Bett aufstehen. Aber er hat mich groß gezogen, und ich schulde ihm dafür Dank. Deshalb gebe ich ihm einen von meinen Groschen ab. Dann habe ich aber noch einen kleinen Sohn. Ihm gebe ich den zweiten Groschen, damit ich etwas von ihm bekomme, wenn ich selbst alt bin. Und der dritte Groschen bleibt mir zum Leben.“
Der König begriff und sagte freudig: „Guter Mann, ich habe zu Hause zwölf Ratgeber und Minister. Je mehr ich ihnen aber als Lohn gebe, desto mehr beschweren sie sich, es würde ihnen nicht zum Leben reichen. Wenn ich nach Hause komme, so gebe ich ihnen dein Rätsel auf. Sollten sie jedoch zu dir kommen, um dich nach der Lösung zu fragen, so darfst du sie nicht aufklären, bevor du mein Bild gesehen hast.“
Dann schenkte er dem Mann noch eine Handvoll Dukaten und fuhr weiter. Er war kaum wieder zu Hause, da rief er auch schon seine Ratgeber zu sich. „Ich gebe euch so viel Geld“, sagte er zu ihnen, „und dennoch reicht es euch nicht als Auskommen. Ich habe aber in meinem Land einen Mann getroffen, der verdient am Tag nur drei Groschen. Von diesen drei Groschen gibt er einen als Schuld zurück, einen verleiht er und vom dem verbliebenen lebt er. Und dabei bleibt er ehrlich. Als meine klugen Ratgeber solltet ihr wissen, was hinter dieser Geschichte steckt. Wenn ihr mir aber bis in einer Woche das Rätsel nicht löst, so lasse ich euch alle aus dem Land jagen, denn dann esst ihr nämlich mein Brot zu Unrecht.“
Die viel gerühmten Ratgeber runzelten die Stirn und machten ernste Gesichter und berieten sich lange. Aber sie fanden keine Lösung, weil jeder von ihnen der Klügere sein wollte. Dabei hätte der Verstand eines einfachen Menschen ausgereicht. So vergingen der erste Tag und der zweite. Bald sollten sie vor den König treten, und sie waren dem Rätsel noch immer nicht auf den Grund gekommen.
Schließlich verriet ihnen jemand, wo sie den armen Mann finden würden, der ihnen als einziger aus dieser schwierigen Lage helfen könnte. Sie zögerten nicht und besuchten ihn sogleich. Mit Bitten und mit Drohungen wollten sie ihn dazu bewegen, ihnen das Geheimnis der Groschen zu verraten. Aber der Mann ließ sich nicht einschüchtern. Stattdessen verwies er auf den königlichen Befehl zu schweigen.
„Aber“, so sagte er, „wenn ihr mir ein Bild des Königs zeigt, könnte die Sache vielleicht gut werden, so wie aus dem groben Roggen das feine Mehl entsteht.“ „Wie könnten wir dir ein Bild des Königs zeigen?“, riefen die Ratgeber. „Der König kommt doch nicht auf unseren Wunsch hin zu dir – und wenn, so dürftest du nicht vor ihn treten. Sage uns eine andere Bedingung, die wir erfüllen können, um dich zu einer Antwort zu bewegen.“
„Wenn ihr es nicht selbst herausfindet, so werden wir wohl aus dem gemahlenen Roggenmehl kein Brot backen.“ Die verzweifelten Berater versprachen dem Mann das Blaue vom Himmel herunter, schleppten viel Geld für ihn an, mit dem er auch ohne die Gnade des Königs gut hätte leben können – und all dies nur, um sein Geheimnis zu erfahren. Aber alle ihre Bemühungen ließen ihn kalt. Er verspottete sie sogar, und sagte: „Ihr seid so kluge Herren und könnt Euch doch nicht selbst helfen.“
Endlich hatte der rechtschaffene Mann ein Einsehen mit den hilflosen Fragestellern. Er zog einen der Dukaten aus der Tasche, die ihm der König geschenkt hatte und sagte: „Auf dieser Münze, die ich vom König erhalten habe, ist sein Bild. Ich sehe ihn also, und verstoße deshalb nicht gegen seinen Befehl. Ich darf euch deshalb sagen, was ich will.“ Dann verriet er ihnen, was es mit den drei Groschen auf sich hatte.
Zur festgesetzten Zeit traten die Hofleute vor ihren König und beantworteten ihm seine vor Tagen gestellte Frage. Doch es waren nicht ihre eigenen Einfälle, die sie vortrugen, sondern die Gedanken des armen Mannes. Der König roch sogleich den Braten und ließ den armen Mann holen. Erzürnt fragte er ihn: „Du bist doch ein anständiger Mensch. Wie kannst du da gegen mein königliches Gebot verstoßen und das Rätsel von den drei Groschen aufklären?“
„Gnädigster Herrscher, ich habe mich streng an Eure Anweisungen gehalten und war verschwiegen wie ein Grab. Erst nachdem ich Euer Bild gesehen habe, war ich zu reden bereit. Hier ist es, Ihr selbst habt es mir geschenkt.“ Mit diesen Worten zog er einen Dukaten aus seiner Hosentasche. Dann aber berichtete er von den zwölf Beratern, von ihren Drohungen und von ihren Geschenken, und auch dass er sich über sie lustig gemacht hatte.
„Mir scheint“, sagte der König, „du hast mehr Verstand als meine zwölf königlichen Berater zusammen. In Zukunft wirst du keine Gräben mehr graben, sondern als angesehener Herr in meinem Palast wohnen und neben mir im königlichen Rat sitzen.“ Zu seinen Beratern aber sagte er: „Ihr solltet euch schämen. Was soll ich nur mit euch anstellen? Ihr seid den Lohn, den ich euch gebe, nicht wert. Deshalb werde ich euch in Zukunft nicht mehr Lohn zahlen, sondern euch weniger geben als bisher.“ Die zwölf Männer des Hofes sind nie wieder zum König gegangen, um ihn um eine höhere Entlohnung zu bitten.
 
Das Krokodil und der Affe
(Indien)
Auf einem Baum, der am Flussufer stand, lebte ein Affe, der sehr zufrieden mit seinem Leben war. Der Baum hatte süße Früchte wie Beeren, die der Affe sehr gerne aß. In dem Fluss lebte ein Krokodil mit seiner Frau.

Eines Tages kam das Krokodil aus dem Fluss heraus und grüßte den Affen recht freundlich. „Guten Morgen, Herr Affe!“, sagte es. Der Affe war auch ein freundliches Tier und er antwortete überrascht: „Guten Morgen, Herr Krokodil! Wohin gehen Sie an diesem schönen Morgen?“ Das Krokodil hatte seit zwei Tagen nichts gegessen, weil es kaum Fische im Fluss gab, und es sagte: „Ich habe nicht gefrühstückt und ich bin hungrig. Weiß du, wo ich etwas zu essen bekommen kann?“ Der Affe war ein großzügiges Tier und gab ihm frische Beeren von seinem Baum zu essen.
Krokodile essen kein Obst, aber dieses Krokodil hatte großen Hunger und es aß alle Beeren, weil sie eigentlich sehr lecker waren. Mit den süßen Früchten des Baums fing eine süße Freundschaft zwischen dem Affen und dem Krokodil an. Sie trafen sich jeden Tag, bei Sonne und auch bei Regen. Sie redeten miteinander über Gott und die Welt. Es war eine einzigartige, sehr enge Freundschaft.
Die Frau des Krokodils fand inzwischen keinen Fisch mehr im Fluss und war fast am Verhungern. Sie sagte zu ihrem Mann: „Ich möchte den Affen fressen, weil ich meinen Hunger nicht mehr ertragen kann!“ Ihr Mann blieb stumm wie ein Fisch und dachte: ‚Wie kann ich meinen Freund so betrügen?‘
Er war sehr verzweifelt, weil seine Frau an nichts anderes mehr dachte. Sie war krank und wollte unbedingt das Herz des Affen fressen. Das Krokodil liebte seine Frau sehr, aber es liebte auch seinen Freund und konnte sich nicht entscheiden, was es tun sollte.
Es ging zu seinem Freund und sagte: „Meine Frau hat heute etwas für dich gekocht und ich soll dich nach Hause mitnehmen.“ Der Affe war überrascht und auch glücklich. Plötzlich sprang er vom Baum und saß auf dem Rücken des Krokodils.
Als das Krokodil in die Mitte des Flusses kam, sagte es seinem Freund: „Leider wirst du von meiner Frau getötet. Sie möchte dein Herz fressen.“ Der Affe war aber sehr klug und sagte schnell: „Warum hast du mir das nicht früher gesagt? Weiß du nicht, dass ich mein Herz auf dem Baum zurückgelassen habe? Jetzt musst du mich zurück zu meinem Baum bringen, so dass ich mein Herz abholen kann.“
Das dumme Krokodil wusste nicht, dass sein Freund sehr intelligent war. Es schwamm zu dem Baum zurück und als sie ankamen, sprang der Affe wieder auf den Baum und sagte zum Krokodil: „Du doofes Krokodil, wie kann mein Herz auf dem Baum sein? Ich kann dir nicht mehr vertrauen. Du hast mich betrogen und mein Herz gebrochen. Ich will dir nicht mehr die süßen Früchte meines Baumes geben. Jetzt geh weg und komm niemals zurück!“
Das dumme Krokodil hatte alles verloren.
 
Die vier Freunde
(Indien)
In einem kleinen Dorf gab es einmal vier Freunde. Sie hatten seit ihrer Kindheit eine enge Freundschaft und deshalb verbrachten sie viel Zeit miteinander. Drei von den vier Freunden waren sehr stolz auf ihr Wissen. Sie hatten viele Fächer studiert und dachten, dass sie alles wüssten.

Der vierte Freund, der Gopal hieß, hatte nicht so viele Bücher gelesen. Aber er besaß eine besondere Eigenschaft. Er hatte einen guten Alltagsverstand. Eines Tages diskutierten die Freunde über ihre Zukunft. “Es ist höchste Zeit, dass wir der Welt unseren Wert zeigen und etwas Geld verdienen”, sagte der erste Freund. „Es lohnt sich nicht in diesem öden Dorf zu bleiben. Wir müssen in andere Länder reisen und einflussreiche Menschen kennenlernen, die uns gut bezahlen werden, wenn wir ihre schwierigen und rätselhaften Fragen beantworten können“, sagte der zweite Freund. „Das ist eine gute Idee!“, stimmte der dritte Freund zu. “Dann werden wir vielleicht auch vom König anerkannt.“

Aber der erste Freund sah Gopal etwas irritiert an und sagte: “Wie können wir uns hochgebildet nennen, wenn wir mit diesem blöden und ungebildeten Menschen zusammen sind? Ich schlage vor, dass wir ihn zurücklassen.” Der zweite sagte: “Das stimmt! Er würde nur unsere Chancen verderben. Es macht wirklich keinen Sinn ihn mitzunehmen.” Aber der dritte Freund protestierte: “Wir sollten das nicht tun. Wir sind doch gute Freunde. Wir müssen ihn mitnehmen.”

Am nächsten Tag waren alle vier unterwegs. Sie gingen durch den Wald und plötzlich stolperte der erste Freund über irgendetwas, das wie Tierknochen aussah. “Wartet! Hier ist eine ideale Chance, um unser Wissen zu testen. Kommt, erwecken wir diese Knochen zum Leben! Ich mit meinem reichen Wissen”, erzählte er stolz, “weiß, wie die Knochen rekonstruiert werden.”

Der zweite sagte schnell: „Dazu kann ich Haut, Fleisch und Blut beschaffen.” „Aber nur ich allein”, unterbrach der dritte Freund, “kann das Tier zum Atmen bringen.” So arrangierte der erste Freund die Knochen und der zweite beschaffte die Haut, das Fleisch und das Blut. Aber als der dritte Freund das Tier zum Leben erwecken wollte, schrie Gopal: “Hört auf! Könnt ihr, kluge Männer, euch vorstellen, was ihr da gerade erschafft?” “Das ist ein Löwe.” “Ihr solltet das Tier nicht zum Leben erwecken!” “Doch, genau das werde ich tun!”, missachtete der dritte Freund Gopals Rat. “Ich kann und ich will!” „Aber dann wartet einen Augenblick“, sagte Gopal, während er auf den riesigen Banyan-Baum stieg. Der dritte Freund sprach dann den Zauberspruch: “JANTRAMANTRA, steig, oh Löwe!” Langsam bewegte sich das Biest und begann zu leben. „Hurra!”, schrien die Freunde vor Aufregung.

Plötzlich sprang der Löwe mit einem großen Knurren auf sie zu. Die verängstigten Freunde konnten nicht glauben, was gerade geschah, und rannten in verschiedene Richtungen, als der Löwe sie verfolgte. Gopal sah mit Schrecken, was passierte. Nach einer Weile kam er vom Baum herunter. Er wartete gespannt auf die anderen. Müde und verwirrt kamen sie endlich spät am nächsten Tag zurück, entschuldigten sich bei Gopal und versprachen seinen Rat zukünftig immer ernst zu nehmen.
 
Ein wirklicher Freund
(Indien)
In einem Wald lebten zwei Jungen. Die Jungen hießen Feroz und Nikhil. Sie waren sehr gute Freunde. Sie spielten, aßen und machten immer alles zusammen. Alle im Wald sprachen über ihre enge Freundschaft.
- 1.jpgEines Tages spielten sie im Wald und plötzlich schlich sich ein Bär heran. Als Feroz den Bären sah, kletterte er auf einen nahestehenden Baum. Nick aber konnte nicht gut klettern. „Was soll ich nur machen?“, dachte er. Aber dann bekam er eine Idee. Er legte sich auf den Boden, war mucksmäuschenstill und tat, als ob er tot wäre. Er wagte nicht einmal zu atmen.
Der Bär kam ganz dicht an den liegenden Nikhil und roch an seinem Ohr. Es sah fast so aus, als würde er etwas in Nikhils Ohr flüstern. „Ich kann ihn nicht fressen!“ sagte der Bär zu sich selbst. „Er ist schon tot und nicht mehr frisch.“
Dann sah er Feroz auf dem Baum. „Schade, dass ich nicht klettern kann“, dachte der Bär und ging enttäuscht fort.
Feroz kam runter und fragte Nikhil: „Gott sei Dank, dass wir noch am Leben sind! Aber sag mal, Nikhil, was hat der Bär dir denn zugeflüstert?“
„Na ja, der Bär hat mir gesagt, dass man den wahren Freund in der Not erkennt“, sagte Nikhil und verließ Feroz für immer.
 
Der Milan und die Nachtigall
- 1.jpgDem Milan, der, ein offenkundiger Dieb, der ingsum in üblen Ruf geraten war, und den des Dorfes aufmerksame Knabenschar mit lautem Lärm von dannen trieb, gelang es, eine Nachtigall zu fangen. Die Frühlingskünderin bat um ihr Leben:
„Verzehr mich nicht, ich will dir nach Verlangen weit höhere Genüsse geben. Ich singe dir von Tereus' Leidenschaft.“
„Tereus? Wer ist das? Ein Gericht für Milanmagen?“
»Nein, das nicht. Er war ein König, der mit Liebeskraft mich sündige Gluten fühlen ließ.
Ich singe dir davon ein Lied, das jeder pries, ein schönes Lied, es wird auch dich entzücken.
Der Milan sprach: „Das wird ihm nimmer glücken. Zu mir, der ich noch nüchtern bin,
Brauchst du nicht von Musik zu reden.“
„Ich sing vor Fürsten und ergötze jeden.“
„Fängt dich ein Fürst, erzähl dein Wunder mit Gewinn; bei mir, dem Milan, ist dein Sang verloren. Ein hungriger Bauch hat keine Ohren.«
 
Der Affe und der Kater
(Jean de la Fontaine)
- 1.jpgBertrand und Raton – dieser war ein Kater, Jener ein Affe – waren Hausgenossen desselben Herrn. Trotz ihrer argen Possen war er dem Paar ein guter Pflegevater. Sie fürchteten kein peinliches Gericht. Fand man im Hause einen Schaden, so brauchte den Verdacht man nicht
Unschuldigen Nachbarn aufzuladen. Bertrands Zerstörungslust war groß und Raton mochte Käse gerne leiden. Und er ging auf diesen statt auf Mäuse los. Einst sahen unsre lockren beiden Kastanien im Kamine rösten. Ach, wie ergaunert man sie bloß? Der Spaß wär zwiefach: erstens trösten sie dessen Gaumen, der mit Lust sich dran vergnügt. Und zweitens wird Verdruß dem dritten zugefügt. Zu Raton sagte Bertrand alsogleich:
„Hier, Brüderlein, mach deinen Meisterstreich und hol sie uns. O hätte Gott mich Affen,
Kastanien aus der Glut zu scharrn, erschaffen, So hätten wir schon unsre Freude dran!«
Raton war stolz. Er nickte und begann ganz sacht die Asche mit der Pfote zu entfernen.
Er zog die Krallen schnell zurück. Ach, solche Arbeit war ein heißes Stück!
Indes, er mühte sich, die neue Kunst zu lernen, und legte nach und nach Kastanien frei. Die erste flog heraus, es folgten zwei und drei, und Bertrand hinter ihm ergriff und knackte sie. Da kam die Magd und schimpfte auf das Vieh und hat das Gaunerpaar geschwind geschieden.
Man sagt, Raton war unzufrieden.
So sind es meistens auch die Prinzen, die, stolz des Amts, wozu man sie ernannt, für einen König sich in den Provinzen die Finger haben arg verbrannt.
 
Das Märchen vom Mann im Monde
Vor uralten Zeiten ging einmal ein Mann am lieben Sonntag morgen in den Wald, haute sich Holz ab, eine großmächtige Welle, band sie, steckte einen Staffelstock hinein, huckte die Welle auf und trug sie nach Hause zu. Da begegnete ihm unterwegs ein hübscher Mann in Sonntagskleidern, der wollte wohl in die Kirche gehen. Dieser blieb stehen, redete den Wellenträger an und sagte:
»Weißt du nicht, dass auf Erden Sonntag ist, an welchem Tage der liebe Gott ruhte, als er die Welt und alle Tiere und Menschen geschaffen? Weißt du nicht, dass geschrieben steht im dritten Gebot, du sollst den Feiertag heiligen?«
Der Fragende aber war der liebe Gott selbst. Der Holzhauer jedoch war ganz verstockt und antwortete:
»Sonntag auf Erden oder Mondtag im Himmel, was geht das mich an, und was geht es dich an?«
»So sollst du deine Reisigwelle tragen ewiglich!«
sprach der liebe Gott,
»und weil der Sonntag auf Erden dir so gar unwert ist, so sollst du für der ewigen Mondtag haben und im Mond stehen, als Warnungsbild für die, welche den Sonntag mit Arbeit schänden!«
Von der Zeit an steht im Mond immer noch der Mann mit dem Holzbündel, und er wird wohl auch so stehen bleiben bis in alle Ewigkeit.
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Das Zauberpferd
(Frankreich / Provence)
"Bleibt bei dem Ofen," sagte die alte Margareth zu ihren sieben Enkeln, "Bleibt bei dem Ofen, der Mistaal weht so heftig, dass unser Haus wankt; überdies ist heute Abend Feensabbat, und die Spukgeister, die ihnen gehorchen, verlassen ihre Wohnungen und kommen in tausend Gestalten, die Leichtgläubigkeit der Menschen zu verhöhnen."
"Was soll ich hier bleiben?" sagte der älteste von den jungen Leuten, "nein, ich muss hingehen und sehen, was die Tochter Jacob's, des Seilers, macht. sie würde ihre großen blauen Augen die ganze Nacht nicht schließen, wenn ich nicht zu ihrem Vater käme, ehe der Mond untergegangen ist."
"Ich muss Krabben und Igel fangen," reif der zweite, "und alle Feen und Lutin's auf der ganzen Welt sollen mich nicht daran hindern."
So wollten sie Alle an ihr Geschäft oder ihr Vergnügen gehen und verschmähten den weisen Rat der alten Margareth; nur der Jüngste zögerte einen Augenblick, als sie zu ihm sagte: "Bleib Du hier, mein kleiner Richard, und ich will Dir schöne Geschichten erzählen." - Aber er wollte sich ein Bouquet von Thymian und Primeln im Mondschein pflücken und lief fort mit den Andern.
Als sie aus der Hütte waren, sagte sie: "Unsere Alte spricht immer von Wind und Sturm, und nie war das Wetter schöner und der Himmel klarer; seht, wie majestätisch der Mond in den durchsichtigen Wolken einherschreitet." Sie bemerkten darauf ein kleines schwarzes Pferd, das ganz nahe bei ihnen war. "Ach, ach," sagten sie, "das ist des alten Valentin Pferd, das aus dem Stalle gelaufen ist und ohne seinen Herrn in die Schwemme trabt."
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"Mein kleines hübsches Pferd," sagte der Älteste, das Tier mit der Hand klopfend, "Du sollst Dich nicht verlaufen, ich will Dich selbst in die Schwemme führen." Darauf schwang er sich auf den Rücken und einer seiner Brüder lachte darüber und tat dasselbe, ihm folgte der dritte; kurz sie bestiegen es Alle, selbst der kleine Richard, der seinen älteren Brüdern nicht nachstehen wollte.
Als sie der Schwemme zuritten, luden sie alle ihre jungen Bekannten, die ihnen begegneten, ein, aufzusitzen, und diese taten es unvorsichtiger Weise auch, so dass das kleine schwarze Pferd, dessen Rücken sich ausgedehnt hatte, endlich mehr als dreißig trug, trotz dem aber nur desto lustiger vorwärts lief.
Es fing nun an, in sanften Trab zu gehen, aber das junge Volk schlug im die Seiten mit den Hacken und rief: "Gallopiere, Pferdchen, Du hast nie so gute Reiter getragen."
Während dessen hatte der Wind wieder angefangen zu stürmen; sie hörten das Toben des Meeres, und das Pferdchen, anstatt nach der Swchwemme zu laufen, trabte ohne Furcht vor dem Lärm, den die See machte, dem Ufer zu.
Richard fing an seinen Thymian und seine Primeln zu bereuen und der älteste der Brüder packte das Pferdchen bei der Mähne und versuchte es zum Umkehren zu zwingen, indem er an die blauen Augen der Tochter Jacob's, des Seilers, dachte, aber umsonst; das Pferd trabte immer gerade aus, bis die Welle kam und seinen linken Fuß benetzte. Es wieherte lustig, wie die Pferde der Menschen zu tun pflegten, wenn sie schönen Hafer vor sich haben, und sprang, statt still zu stehen, nur desto schneller in die See.
Als das Wasser den armen Kindern bis an den Leib trat, warfen sie sich ihre Unvorsichtigkeit vor und riefen: "Das verdammte kleine schwarze Pferd ist gefeit. Hätten wir den Rat der alten Margareth befolgt, so wären wir nicht verloren." Je weiter das Pferd trabte, desto höher stieg die See. - Endlich trat sie ihnen über den Kopf und sie ertranken Alle jämmerlich.
Gegen Morgen ging die alte Margareth aus, besorgt über das Schicksal ihrer Enkel. Sie suchte sie überall, ohne sie finden zu können, und fragte alle ihre Nachbarn, aber sie erfuhr nichts, ausgenommen, dass der Älteste nicht bei der Tochter Jacob's, des Seilers, gewesen sei.
Als sie ganz traurig nach Hause zurückkehrte, sah sie ein kleines schwarzes Pferd ihr entgegenkommen, das Sprünge aus Kapriolen machte. - Als es ihr nahe war, fing es an lustig zu wiehern und lief so schnell, dass es in einem Augenblick ihr aus dem Gesichte war.
 
Der Fliegende Holländer (Teil 1)
(Heinrich Smidt)
Gegenüber der Tafelbai befand sich ein Ostindien-Fahrer, dessen mächtiger Rumpf sich hoch auf den Wellen still und unheimlich bewegte. Seit Tagen kämpfte er vergebens mit einer Flaute. Die kaum gefüllten Segel brachten ihn nur wenig voran und die heftige Strömung trieb ihn unaufhaltsam zurück. Hundert Augen hingen an der blauen Himmelsdecke, auf der Suche nach einem Wölkchen, von dem man die Rettung erhoffen könne. Aber der Himmel war klar und blau und spiegelte sich im glatten Meer wider.
Das Schiff war die Gelderland, der Stolz holländisch-ostindischen Handelsflotte. Unmut, der noch eine tiefere Ursache als den der Windstille hatte, beherrschte das Schiff. Der böse Geist, der den Frieden aus den Kajüten und von seinem Deck verjagt hatte, war der Kapitän des Schiffs, Mynheer Claas van Belem. Er war ein stolzer und herrschsüchtiger Mann mit einem versteinerten Herzen und einem schwarzen Gewissen.
Die Offiziere gingen leise auf und ab und warfen verstohlene Blicke zum Eingang der Kajüte. Sie fürchteten, dass ihr Oberhaupt erscheinen werde. Die Matrosen ließen sich gar nicht sehen, sondern hockten hinter Booten und Wasserfässern und wisperten sich scheu und verstohlen Bemerkungen und Befürchtungen zu.
Ein alter, bärtiger Matrose, der bereits über zwanzig Jahre auf Ostindien gefahren war, lag auf dem Bugspriet im Netz des Stagsegels und blickte auf einen jüngeren Genossen, der dicht unter ihm auf der blinden Rah saß.
- "Wir gehen hier vielem Unglück aus dem Wege",
sprach der junge Seemann von unten herauf.
- "Der Dienst auf dem Bugspriet hat sein Gutes. Das auswehende Jacksegel sorgt dafür, dass wir vom Deck aus nicht gesehen werden können und das Rauschen des Bugs übertönt unsere Worte. Wir können ohne Sorge miteinander reden."
- "Bis uns einer über den Hals kommt, der stark genug ist, uns das Maul zu stopfen - uns hier vorne und denen dort auf dem Quarterdeck. Hier in der Tafelbai gibts nichts Gutes für einen Seemann zu hoffen. Derjenige, der sie mit leicht gerefften Segeln rasch durchschneidet, soll seinen Gott preisen! Wir liegen nun schon drei Tage hier, ohne von der Stelle zu kommen. Und wenn der erscheint, dessen Namen ein frommer Seemann nicht aussprechen soll, ohne ein Gebet zu sprechen."
- "Ich weiß schon",
unterbrach ihn der Junge.
- "Ihr meint Vanderdecken, den Fliegenden Holländer."
- "Still, du Narr!"
- "Nun? Ich werde doch wohl von ihm reden können? Ist sein Name so gefährlich, dass er Euch vergiftet, wenn Ihr ihn in den Mund nehmt? Alles Glück mit Hollands Flagge! Sie wird ebenso ungestört von unserer Gaffel wehen, wenn Vanderdecken sich tausend Meilen von uns entfernt befindet, als wenn er auf Kanonen-Schußweite in unser Kielwasser steuert - denn, mein guter Schiffsmaat, ich muss Euch sagen, dass ich von der Geschichte nicht sonderlich viel glaube. Ich halte sie mehr für altes Seemannsgarn."
Der bärtige Matrose wurde vor Zorn blutrot und richtete sich halb auf:
- "Die Pest soll dich holen, du Hund! Noch einmal so eine Lästerung und ich gebe dir einen Fußtritt, dass du rücklings in die See fällst!"
Der junge Seemann eilte flink außer Reichweiter und sprach:
- "Versucht doch, ob Ihr mich hier mit Eurem Fuß erreichen könnt!"
Er hielt einige Augenblicke in seiner gefährlichen Stellung aus, dann aber schwang er sich wieder zurück und sagte:
- "Ihr sollt zwei Tage hintereinander meine Ration Genever haben, wenn Ihr mir sagt, was Ihr von der Geschichte eigentlich wißt und ob etwas an dieser Geschichte mit dem Fliegenden Holländer ist. Denkt nur, zwei Rationen!"
Dieser Versuchung konnte der Ältere nicht widerstehen. Er überwand seine Furcht vor dem Geisterschiff und begann zu erzählen:
- "War der Kapitän eines großen und mächtigen Schiffes, dieser Vanderdecken - reiches Gut im unter Deck und böses Volk in seinen Kojen. Er selbst war der Schlimmstevon allen. Er wütete und tobte während einer ganzen Reise, egal ob es einen Grund gab oder nicht. Wenn er aber in seine Kajüte hinabstieg, schloss er sich ein. Kein Mensch durfte es wagen hereinzukommen, wenn ihm sein Leben lieb war.
In seiner Kajüte gingen das Grauen erst richtig los. Er lärmte, tobte und schrie vor sich hin. Doch so undeutlich, dass man nicht eine Silbe verstehen konnte. Oft erhielt er auch Antwort von einem, dessen Gegenwart niemand bemerkte. Wenn dieser sprach, war es ein Lärmen, als ob alle Geister der Hölle zugleich losgelassen würden. Manche wollen sogar gespürt haben, dass es nach höllischem Schwefel roch.
Gewiß ist, dass jedesmal ein heftiger Sturm folgte, der das Schiff in die größte Gefahr brachte. Ging nun Kapitän Vanderdecken nach einer solchen, vom Teufel unterstützten Reise vor Anker, dann begab er sich sogleich ans Land und vollbrachte dort alle Teufeleien, die er unterwegs gelernt hatte."
- "So trieb er es wohl nicht besonders in Zucht und Ehren",
fragte der junge Matrose,
- "und es ist am Ende wahr, dass er dem Weibsvolk absonderlich mitgespielt hat?"
- "Der Teufel lässt ihm seine Niederträchtigkeiten wohl bekommen",
brummte jener.
- "Er büßt sie jetzt ab und wird sie büßen müssen bis in alle Ewigkeit. Hoch auf den Dünen der Nordsee und fern von jedem bewohnten Ort besaß er ein großes Haus, in dem er sein Unwesen trieb. Innerhalb der wohlverschlossenen Pforte saß eine alte Hexe als Wächterin. Sie war ihm treu ergeben und mit boshaftem Rat schnell bei der Hand. Brachte ihm sein Gevatter Pferdefuß aus den Töchtern des Landes einen fetten Bissen zur Befriedigung seiner bösen Lust, nahm sich die Alte das arme Ding erst vor und richtete es gehörig ab, damit ihr Herr keinen Anlaß zur Klage haben sollte. Dafür soll der Teufel dieser Alten besonders geneigt gewesen sein und hat versprochen, ihr den ganzen reichen Nachlaß des Gebieters zu lassen, wenn er diesem eines Tages den Hals umdrehen werde."
- "Und hat die Hexe das Erbe bekommen?"
- "Nichts hat sie bekommen. Der Teufel sagte, sie solle erben, sobald er dem Vanderdecken den Hals umgedreht habe. Aber dieser lebt gewissermaßen heute noch. Das ist ja die Teufelei, dass der Teufel seine eigene Base bei dieser Gelegenheit betrogen hat.
Sie ging leer aus und er nutzt das Gold nun dazu, unschuldiges Blut zu fangen. Alle Goldstücke, welche die ostindische Compagnie uns zeigt, sind solche Teufels-Lockspeise. Und das ehrliche Seemannsblut geht in die Falle. Ich für mein Teil bin nun schon viermal hineingeplumst, denn eine Reise nach Batavia ist nichts anderes als ein Kreuzzug in die Hölle, von dem Ihr mit leeren Taschen heimkehrt. Aber der ärgste Streich, den Euch der Teufel spielt, ist der, dass bei der Abrechnung jedesmal Null mit Null aufgeht und Ihr von Glück sagen könnt, wenn Ihr einige Silbergulden kriegt.
Aber um wieder auf den Vanderdecken zu kommen: Es wurden in dem alten Hause üble Dinge vollbracht und die Mädels waren so gelehrig, dass sie das tollste Zeug trieben und alles taten, was man von ihnen verlangte.
Nun war er dem schnell überdrüssig und wenn er einer Dirne satt war, gab er ihr nicht etwa eine Handvoll Gold und schickte sie fort. Nein, er drehte ihr den Hals um, damit sie nicht ausplaudern konnte, wie es bei ihm zugehe. Brach dann die Nacht herein, so steckte er die Leiche mit Hilfe seiner Hexe in einen großen Sack, schleppte diesen an den Strand und warfe ihn in die See. Wenn nun der Sack hineinplumpste, und die See darüber zusammenschlug, lachten die beiden Bösewichter laut auf, und der Teufel antwortete ihnen aus der Ferne.
Einstmals aber nahm die Geschichte aber ein unerwartetes Ende. Der Teufel hatte wieder ein kostbares Stück für seinen Günstling ausgesucht, ein Mädchen wie Milch und Blut. Einfach das Schönste, was Vanderdecken je gesehen hatte.
Der Teufel hatte sie geraubt, als sie aus der heiligen Messe kam. Genau im Augenblick, als sie dem Diener das Meßbuch gab, denn vorher hatte er keine Macht über sie. Man sagt, die Jungfrau habe in jenem Augenblick an ein großes Kirmesfest gedacht, wo sie ihren Herzallerliebsten treffen wollte. Dabei sei ihr Gemüt in weltliche Dinge versenkt und die Messe vergessen worden. Dies benutzte der Teufel und führte sie ungesehen zum Hause Vanderdeckens.
Die alte Hexe gab sich mit dem schönen Kind die allergrößte Mühe, aber es wollte ihr nicht gelingen. Alles war vergebens und wenn die Alte ihr das sündige Leben in den schönsten Farben malte, fiel die Jungfrau auf die Knie und betete um Erlösung aus ihrem Elend.
Da erwachte der Zorn der Alten und brach ungezügelt über das arme Kind herein. Sie schlug es und eilte zu Vanderdecken, die widerspenstige Dirne bei ihm zu verklagen. Dieser geriet ebenfalls in Wut und rannte zumm Flur, wo sich das fromme Mädchen befand, um sie ebenfalls zu züchtigen. Als er sie jedoch erblickte und den Heiligenschein bemerkte, der von ihr ausging, bemächtigte sich seiner ein sanfteres Gefühl, und er suchte sie durch freundliche Worte zu betören.
Aber welche Künste er auch versuchte, der Erfolg blieb ihm verwehrt. Lieber wollte sie ihren Leib mit ihren Nägeln zerfleischen, als sich von seinen unheiligen Händen berühren zu lassen. Da wurde Vanderdecken noch dreimal zorniger und außer sich rief er:
Wenn du der Bitte eines Mannes widerstehst, der sich zum ersten Male zu solcher Feigheit erniedrigte, so wollen wir sehen, was Gewalt über dich vermag. An meine Seite Hexenweib! Wir wollen ihr zeigen, was dem geschieht, der sich dem Willen Vanderdeckens widersetzt!
Und kaum hatte er diese Worte gesprochen, als beide über das arme Geschöpf herfielen und sie jämmerlich schlugen.
Lange ertrug sie diese barbarische Behandlung nicht, sondern sank tot zu Boden. Darüber verzehrte sich Vanderdecken fast vor Zorn und ließ die Hexe seine ganze Wut spüren. Hiernach aber nähten sie auch dieses Mädgelein in einen Sack und trugen es zum Wasser."
- "Das ist eine grauenhafte Geschichte, Schiffsmaat",
sprach der junge Matrose, sich schüttelnd.
- "Wie ging es weiter?"
Der Bärtige fuhr fort:
 
Der Fliegende Holländer (Teil 2)
- "Ich will es zu Ende bringen. Sie schleppten also den Leichnam zum Strand und warfen ihn in die See. Diesmal lachten sie nicht dabei. Doch umso lauter lachte der Teufel, denn er merkte wohl, dass er seinen Freund Vanderdecken jetzt beim Schöpf habe. Kaum aber war das Gelächter des Teufels verhallt, als man ein helles Klingen vernahm, und obgleich der Himmel von düsteren Wolken eingehüllt war, verbreitete sich ein so heller LIchtschein auf dem Meer, als ob es vom Mond beschienen würde. Und in diesem Augenblick tauchte auch die Leiche der frommen Jungfrau aus den Wellen auf. das bleiche Antlitz zu Vanderdecken gewandt, rief sie ihm unaufhörlich zu:
Folge mir! Folge mir!
Das brachte ihn so sehr außer sich, dass er sich in die See gestürzt hätte, wenn ihn die Hexe nicht mit Gewalt zurückgehalten hätte, wobei sie vom Teufel tüchtig unterstützt wurde, der ihm ein weit schlimmeres Ende zugedacht hatte.
Darum flüsterte er dem halb besinnungslosen Kapitän zu, dass die Jungfrau gar nicht tot sei und er sie für seine Lust retten könnte, wenn er nur wolle. Kaum hatte der Teufel das gesagt, als auch ein großes Schiff sichtbar wurde, das Vanderdecken bis dahin nicht gesehen hatte.
Als er genauer hinsah, entdeckte er, dass es sein eigenes war. Es trieb ihn an Bord und kaum war er über das Fallreep, so stiegen alle Segel am Mast wie von selbst in die Höhe. Er befahl, dem hellen Schein nachzusteuern, der um das Haupt des jungen Mädchens strahlte und den nur er allein erblicken konnte.
So trieb er durch Meere. Die Mannschaft war nicht wenig über eine so schnelle Abreise verwundert gewesen, und die Offiziere wagten es, bescheiden darum zu fragen. Sie erhielten jeodch keine andere Antwort als Verwünschungen und dass ein Mädchenhaupt vor ihnen auf der See herumtanze, welches von einem Heiligenschein umgeben war und das er haben müsse.
Wenn die Männer solche Äußerungen vernahmen, zuckten sie die Achseln und gingen auf die Seite, denn sie konnten nicht anderes glauben, als dass ihr Kapitän seinen Verstand verloren hatte, und dachten schon daran, ihn abzusetzen. So erreichten sie nun die Tafelbai, eben den Punkt, wo wir uns befinden und wo."
Die Furcht übermannte den Erzähler abermals. Er hielt inne und blickte sich nach allen Seiten um.
- "Die Sonne sinkt immer tiefer und bald wird es stockfinster sein. Das ist die Zeit, wo Vanderdecken sich sehen lässt. Ich will die Geschichte schnell beenden.
Er erreichte nun die Tafelbai und hier ging das Ungemach erst richtig los. Der Wind blies ihm heftig entgegen. Wochen und Monate vergingen, ohne dass er die Bai durchqueren konnte. Bald lag das Schiff über Steuerbords-, bald über Backbords-Halsen, aber immer trieb es während des einen Ganges ebensoviel rückwärts, wie es im vorigen gewonnen hatte, und alles war vergebens gewesen.
Da ergriff den Vanderdecken eine ungeheure Wut. Er lästerte den Namen Gottes und rief:
Nun will ich hier segeln bis an das Ende aller Tage! Soll ich mir selbst ein Schrecken und Grauen sein, will ich es auch für alle diejenigen werden, die mein Kielwasser kreuzen, so lange der Wind weht und der Hahn kräht!
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als der Hahn, der sich an Bord befand, lat anfing zu krähen. In selben Augenblick brach ein heftiger Sturm los und das Schiff jagte, fast auf die Seite geworfen, mit einer solchen Schnelligkeit dahin, wie es noch jetzt die Unglückskinder sehen, die das Schicksal haben, sein Kielwasser zu schneiden."
Der junge Seemann, der ein sehr aufmerksamer Zuhörer gewesen war, schüttelte sich vor Furcht, denn er hatte schon zuvor gehört, dass derjenige, der das Kielwasser des Fliegenden Holländers kreuzt, des Todes ist. Leise wiederholte er die Worte Vanderdeckens:
- "So lange der Wind weht und der Hahn kräht."
Die Pfeife des Bootsmanns unterbrach das Gespräch der beiden. Der Wind hatte etwas geräumt, und die Rahen wurden aufgebraßt.
Kaum war die Ordnung wieder hergestellt, als Kapitän Claas van Belem das Deck der Gelderland betrat. Er grüßte seine Offiziere mit einem mürrischen Kopfnicken und begann das Deck auf- und abzuschreiten. Überall fand er etwas zu tadeln. Die Offiziere erhielten entweder offene Verweise oder ironische Lobsprüche. Die Matrosen wurden bis in die höchsten Toppe geschickt, um die Launen des Kapitäns auszuführen.
Die rascheste Befolgung der Befehle reichte allerdings nicht aus, den Laune des Gebieters zu zügeln. Sie wuchs an und wer in seine Nähe kam, war sich seines Zornes sicher. Auf der Bramsahling des Fockmastes trafen zwei junge Toppgasten zusammen, die hierher auf den Ausguck geschickt waren.
- "Hörst das Donnerwetter unter uns, Jantje?"
- "Es ist gerade so, als ob du auf einem Berg stehst. Da blitzt und donnert es auch unter dir."
- "Mag sein. Bin niemals auf einem Berg gewesen, außer auf dem Hamburger, da hat es aber nicht gedonnert und geblitzt, wohl aber gepaukt und trompetet. Was, zum Teufel, ist denn wieder los?"
- "Du weißt es nicht? Der Kapitän trägt in seiner Brust eine Art Ding, das man Gewissen nennt. So groß er auch ist, so ist das kleine Ding doch größer und will mit bedacht behandelt sein. Darum hat er es am liebsten, wenn es ruhig schläft. Nun aber wacht das unverschämte Ding mitunter auf und dann soll es ihn unbarmherzig penigen. Sage mir doch, was tat deine Mutter, als du ein kleines Kind warst, und sie dich in den Schlaf bringen wollte?"
- "Sie sang mir etwas vor."
- "So machts der da unten auch. Er singt seinen Leuten so viel vom Teufelholen und vom Donnerwetter vor, bis das Gewissen die Kneifzange ruhen lässt."
- "Was hat es denn mit dem bösen Gewissen auf sich? Ist es wahr, dass er eine hübsche Frau hatte?"
- "So ist es! Sie war so schön, dass man sie das Auge von Brabant nannte, denn sie war in Brabant geboren. Sie trug auch ihren Mann auf Händen, aber der hat sich nicht sonderlich um sie gekümmert und sie stets rauh und kurz behandelt. Darüber hat sich das arme Weib gegrämt und ist ihm aus dem Wege gegangen. Eines Tages, als der Kapitän unverhofft in den Garten tritt, sieht er seine Frau in einer Laube sitzen und ihr zur Seite einen Mann, der sein Angesicht an der Brust des schönen Weibchens verbirgt. Er soll sehr aufgebracht gewesen sein von Galle und Wein, sonst hätte er doch wohl erst ein wenig näher hingesehen, aber der Teufel hatte ihn schon in den Krallen, darum zog er den Degen und stach beide durch und durch."
- "Alle Wetter!"
- "Durch und durch, sage ich dir! Und die Folge davon war, dass er ein paar Tage darauf seine Frau samt ihrem Vater begraben musste."
- "Halt ein mit deiner Geschichte, mich packt der Schwindel!"
- "Sei kein Narr, Bursche! Es ist auch schon aus. Weißt du nun, warum ihn sein Gewissen wie das höllische Feuer brennt? Das ist kein Brand, den man so leicht löschen kann."
- "Haben sie ihn denn nicht für seine Untat gestraft?"
- "Hat sich was! Mynheer Claas van Belem ist ein reicher, angesehener Mann. Und reiche, angesehene Leute haben immer recht. Er wurde zwar in Gewahrsam gebracht, aber die Doktoren steckten sich dazwischen und sagten er leide an momentanem Wahnsinn und da könne ihm keiner etwas anhaben."
- "Ein Segel! Ein Segel!"
Rief der Ausguck vom großen Topp. Die beiden Vortopp-Männer fuhren bei diesem Ruf erschrocken von ihrer Sahling auf. Ihr Blick schweifte über den Horizont hin und gleich darauf schrien auch sie:
- "Ein Segel!"
Es dämmerte schon. Die Nebel brauten auf dem Meere und machten den Blick in die Ferne unsicher. Man sah etwas Weißes auf den Wellen zittern. Es konnte ein Segel sein, aber auch irgendeine Luftspiegelung. In wenigen Minuten war es ganz und gar verschwunden. Die Mannschaft war in Aufruhr. Der Ruf:
- "Ein Segel!"
war den Matrosen durch Mark und Bein gedrungen. Sie sahen schon Vanderdecken nahen und sie in den Abgrund ziehen. Überall steckte man die Köpfe zusammen:
- "Wenn er es ist, haben wir ihn in einer Stunde längsseits."
- "Und dann setzt er ein Boot aus."
- "Das tut er immer. Und gnade uns Gott, wenn er an Bord kommt. Dann bringt er Briefe, über deren Bestellung uns der Atem ausgehen kann."
- "Verdammt sei mein Eifer, an Bord dieses heillosen Schiffes zu gehen! Nun muss ich doch in den Rachen dieses Teufels fahren und kann nicht mit meiner Liebsten Hochzeit machen."
Auch auf dem Halbdeck herrschte einige Aufregung. Die Offiziere warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Der Kapitän trat zu ihnen:
- "Wollen die Offiziere den Matrosen nachäffen, die schon alle den Verstand verloren haben und nach einem Gespenst Ausschau halten, das nirgends als in ihrem Gehirn spukt?"
- "Doch, Kapitän!"
entgegnete der erste Offizier.
- "Der Mord hat den Fliegenden Holländer auf das flüchtige Element gebannt, und leicht wittert er Blut. Ich gehöre nicht zu den starken Geistern, die alles hinwegleugnen wollen, was über ihren Horizont geht. Nie würde ich das Dasein jenes unheilvollen Schiffes leugnen. Mag er kommen. Fest und ruhig will ich ihm entgegensehen, denn ich habe ein unbelastetes Gewissen."
Der Kapitän biß sich auf die Lippen und ging hastig auf und nieder. Die Offiziere erwarteten mit kalter Resignation den Zornesausbruch ihres Gebieters.
- "Ein Segel! Ein Segel!"
schrie es wieder, und derselbe gespenstische weiße Streifen flog in Luv hin.
- "Bootsmann!"
rief der Kapitän überlaut.
- "Achtet auf die Leute! Der erste, der wieder rief: Ein Segel! soll an den Mast gebunden und ausgepeitscht werden. Ruhe überall! Für jedes Wort, das aus dem ungewaschenen Maul eines Matrosen geht, gibts ein Dutzend Hiebe."
Grabesstille herrschte an Bord des Ostindien-Fahrers. Stumm und mit scheuen Blicken schlichen die Leute aneinander vorüber. Düstere Nebel schaukelten sich auf den Wellen, die Nacht brach unheilverkündend herein. Ein junger Offizier, ein Verwandter des Kapitäns, wagte es endlich, diesen anzureden. Er erhielt eine kurze, beleidigende Antwort. Jener erwiderte lebhaft. Der Wortwechsel wurde heftiger und außer sich schrie der Kapitän: