Scharfer Streit um neues Wahlrecht in Karlsruhe

Karlsruhe (dpa) - War es ein «minimalinvasiver Eingriff» oder «Mehrheitssicherung um jeden Preis»? Koalition und Opposition streiten vor dem Bundesverfassungsgericht über das neue Wahlrecht. Gerichtspräsident Voßkuhle rügt die Parteien, weil sie sich nicht einigen konnten

«Zum großen Bedauern des Gerichts ist es den Parteien nicht gelungen, innerhalb der drei Jahre einen gemeinsamen Vorschlag für eine Änderung des Bundeswahlgesetzes auf den Weg zu bringen», so Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Eine Entscheidung Karlsruhes über das neue Recht soll möglichst noch vor der Sommerpause erfolgen.

In der außergewöhnlich langen Verhandlung - erst am frühen Abend war Schluss - zeigten die Richter Zweifel, ob eine große Zahl von Überhangmandaten bei Bundestagswahlen zulässig ist. Ein verfassungsgemäßes Wahlrecht sei das unverzichtbare Fundament einer funktionierenden Demokratie, sagte Voßkuhle. Es gebe «hohe Anforderungen an die formale Gleichheit» des Wahlrechts - «deswegen müssen wir genau hinschauen.» Eine klare Tendenz des Gerichts ließ sich jedoch aus den Fragen der Richter nicht erkennen.

Die Richter hatten 2008 das bisherige Wahlrecht zum Bundestag für teilweise verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist von drei Jahren zur Neuregelung gesetzt. Die Koalitionsparteien setzten im vergangenen Jahr das neue Wahlrecht gegen die Stimmen der Opposition durch; es trat erst fünf Monate nach Fristablauf in Kraft. SPD, Grüne und mehr als 3000 Bürger klagten gegen die Neuregelung. Es handele sich um eine «Methode der Mehrheitssicherung um jeden Preis», sagte der Geschäftsführer der Grünen-Fraktion im Bundestag, Volker Beck, in Karlsruhe.

Die Kläger beanstanden, das Wahlgesetz verstoße gegen die Grundsätze von Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien. Im Fokus standen vor allem die sogenannten Überhangmandate. Sie können entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate in den Wahlkreisen gewinnt, als ihrem Anteil an Zweitstimmen entspricht. Davon profitieren in der Regel die großen Parteien.

Bei der Bundestagswahl 2009 gab es 24 Überhangmandate, die alle der Union zugutekamen. Nach Auffassung der Kläger begünstigt das neue Wahlrecht das Entstehen von Überhangmandaten. Der berichterstattende Richter Michael Gerhardt fragte, bei welcher Zahl von Überhangmandaten eine Grenze erreicht sein könnte - und ob durch die Einführung neuer Ausgleichsmandate nicht dazu führen könne, dass bestimmte Wählerstimmen einen höheren «Erfolgswert» hätten.

Eine «Funktionsstörung» könnte schon bei einem Überhangmandat entstehen, warnte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann - nämlich wenn durch die Extra-Sitze eine neue Mehrheit im Parlament möglich wird, die nicht der Mehrheit der Zweitstimmen entspricht. «Wenn die Mehrheit der Mandate da ist, ist das eine Machtoption, und die wird auch genutzt.» Die Mandate seien «ein giftiger Stachel im Fleisch der Wahlrechtsgerechtigkeit».

«Die Gefahr steigt, dass sich im Parlament eine Mehrheit bildet, die nicht von einer Mehrheit der Wähler getragen wird», sagte Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Beck. Die Koalition habe kein Interesse an einer fairen Lösung gehabt. «Um jeden Preis gesichert werden sollten die Überhangmandate.»

Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Günter Krings, verteidigte die Neuregelung. Es sei der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts gewesen, den Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts zu beseitigen - demnach konnte es unter bestimmten Umständen passieren, dass eine Partei im Ergebnis weniger Sitze im Bundestag bekam, wenn die Zahl ihrer Zweitstimmen stieg. Dieser Auftrag sei umgesetzt worden. «Es ist ein minimalinvasiver Eingriff, der im Wahlrecht eben nur das Notwendige ändert», sagte Krings. Überdies sei die Koalition «nicht Profiteur» der Neuregelung - sie hätte nach neuem Wahlrecht sogar weniger Mandate erhalten.

Nach Berechnungen der Kläger kann es aber auch nach der Neuregelung noch zu einem negativen Stimmgewicht kommen: «Wären 12000 Wähler der Linken in Bayern nicht zur Wahl gegangen, hätte die Linke ein Mandat mehr erhalten», sagte die Prozessvertreterin der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Ute Sacksofsky.

Gerichtspräsident Voßkuhle wies auf die knappe Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl hin. Spätester Wahltermin sei der 27. Oktober 2013. «Angesichts des langen Vorlaufs bei der Vorbereitung der Wahl wird also die Zeit zunehmend knapp», sagte Voßkuhle. Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, «rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz vorzulegen». Wie es in Karlsruhe heißt, wollen die Richter möglichst noch vor dieser Sommerpause entscheiden.

Oppermann bat das Gericht um klare Vorgaben: «Sprechen Sie bitte eine Sprache, die unmissverständlich ist.» Der Vertreter der mehr als 3000 Wahlberechtigten, der Augsburger Rechtsprofessor Matthias Rossi, bat das Gericht, selbst ein provisorisch geltendes Gesetz zu erlassen.

Prozesse / Bundestag / Wahlen
05.06.2012 · 19:02 Uhr
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