Thomas Brussig: Wie es leuchtet

Taladius

mokant
ID: 28
L
28 April 2006
418
79
Im Herbst 1989 war ich 7 Jahre alt. Ich war ein Kind, noch vollkommen unfertig und bekam gar nicht mit, was sich weltbewegendes um mich herum abspielte. Meine einzige Erinnerung an diese Zeit ist, daß mein Vater und meine Schwester sich an Sylvester zum Brandenburger Tor begaben und ich nicht mitdurfte, weil ich noch zu jung war. Natürlich fand ich das ziemlich ungerecht!
Später, als ich größer wurde und mehr verstand konnte ich nie verstehen, warum die Menschen denn so hartnäckig zwischen Ostlern und Westlern unterschieden, für mich waren wir alle Deutsche, die Zeit vor der Wende war für mich nur ein paar diffuse Erinnerungsbrocken.
Immer wenn ich im Fernsehen Bilder von der Maueröffnung sah, Dokumentationen aus jenem Jahr, hielt ich kurz den Atem an, spürte, was ich damals verpaßt hatte, weil ich noch zu jung war, und immer standen mir dabei Tränen der Rührung in den Augen! Dieser Aufbruch, diese Freude!
Und ich konnte nie verstehen, wenn Diskussionen um Ostalgie und derartiges aufkamen: Hatten die Leute etwa diesen Aufbruch vergessen? Diese Freude? Dieses wahnsinnige Gefühl, das noch so viel intensiver gewesen sein muss, wenn man selbst dabei war?

Ich dachte, ich wüßte alles über diese Zeit, die mich so stark emotional ergriff, die mir als eine Verdichtung all dessen vorkam, was gut und richtig ist auf dieser Welt!
Dann begann ich vor 3 Tagen mit der Lektüre von Thomas Brussigs Roman Wie es leuchtet, der eben jenes 'Deutsche Jahr' vom Sommer '89 bis zum Sommer '90 thematisiert.
Es war alles wieder da, nur diesmal geschrieben, in Dutzenden miteinander verwobenen Einzelschicksalen und es haute mich um! Die ersten 200 Seiten verflogen wie im Rausch und wieder ergriff es mich, verwirbelte meinen Geist im Strudel der damaligen Ereignisse, machte mich lachen, weinen und taumeln.
Doch ich las weiter und wurde plötzlich enttäuscht: Die Euphorie ließ nach, alles war jetzt viel weniger fröhlich, aufbrechend, umwerfend und ich ahnte, daß nach der Party der Kater folgen würde, wollte das aber nicht, wollte weiter in der Euphorie des Aufbruchs baden!
Doch ich brach natürlich nicht ab, las weiter und verfolgte den weiteren Werdegang der Geschichte, weg vom euphorischen Aufbruch hin zur sich wieder durchsetzenden neuen Normalität und dann, gute 60 Seiten vor Schluss, beim Beenden von Leo Lattkes Reportage war der Groschen endlich gefallen und mein altes Weltbild von der Wende versank endgültig im Staub und ich verstand!

Ich weiß nicht wirklich, was Kunst ist, aber ich weiß, daß sie die Grenzen des eigenen Verstandes ausweiten soll, das Bild des Menschen von der Welt infrage stellen muss.
Und in diesem Sinne ist dieser Roman wirklich Kunst, ist Literatur, denn er hat mir eine Welt erklärt: Meine Welt, mein Land, meine Geschichte!
Zum ersten Mal kann ich wirklich behaupten, daß ich den Osten verstehe, diese bislang unbekannte eine Hälfte unseres Landes, über die ich sonst so häufig schon den Kopf geschüttelt habe.
Das ist jetzt vorbei.

Über 16 Jahre sind seit dem Fall der Mauer vergangen und doch zieht sich noch immer ein deutlicher Riss durchs Land, ein Riss, der noch lange Zeit brauchen wird bis er vollends verheilt ist und die Narbe verblasst.

Doch dank Brussigs Roman verstehe ich diese Narbe, wohl zum allerersten Mal. Und dafür bin ich ihm dankbar! Das läßt dieses Buch weit herausragen aus den vielen Büchern, die ich in der letzten Zeit gelesen habe!

Lest dieses Buch und lasst euch erleuchten!