Wirtschaft Moral

SchlimmerFinger

Da guckste
ID: 109631
L
26 April 2006
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Aus dem Leben eines Traders:

„Es geht hier zum Beisiel über die möglichen Auswirkungen der Nachricht „Überschwemmungen in Mittelamerika mit 19 Toten“ auf den Zuckerpreis. Die Vorgehensweise, mit der ein Rohstoff-Trader auf solche Nachrichten reagieren sollte, ist fragwürdig.
Was ist mit den Toten? Soll man sich letztlich über ein Unglück freuen, da es einem eine Gewinnchance eröffnet? Also „Unwetter mit 19 Toten“ als gute Nachricht?
Dazu schrieb mir Olaf G.:
“Mal eine Frage: Ihre Orangensaft-Idee - sollte man da eigentlich ethische Bedenken haben oder sollte man sowas beim Traden grundsätzlich verdrängen? Ich meine - mal angenommen, man macht das so und geht beim O-Saft-Preis long, und weiter angenommen, dann ziehen furchtbare Tornados über Florida und richten übelste Schäden und Verwüstungen an und bringen viel menschliches Leid, und (fast) alle Menschen sehen mit Schrecken die TV-Bilder ... nur der clevere Trader reibt sich die Hände und hat ne Menge Geld gewonnen. (…) Verstehen Sie mich nicht falsch - ich weiß schon, dass der Trader nichts für die Hurrikane kann. Trotzdem ist es irgendwie komisch, dass hier der geschäftliche Erfolg offenbar am Leid anderer hängt.“
Meine Antwort:
Erstmal freut es mich, dass ich nicht der Einzige bin, der sich solche Fragen stellt.
Kenne da so einige Trader, denen das völlig egal ist. Negativ-Beispiel (aus meiner Sicht) ist einer, der vor einigen Jahren nach Anthrax-Anschlägen in den USA die Aktie eines Anthrax-Testgeräte-Produzenten empfahl. Und mir dann ganz stolz mit lauter Stimme erzählte, dass er jetzt auf weitere Anthrax-Anschläge in den USA hoffe, da dann diese Aktie durch die Decke gehen würde. Am liebsten wären ihm größere Anschläge mit Toten gewesen, da es dann dieses Thema umso stärker in die Medien schaffen würde – was entsprechend größere Aufmerksamkeit auf diese Aktie lenken würde.
[...]
Also: Ich denke, kein Trader sollte sich darüber freuen, wenn er/sie durch das Leid oder den Tod anderer Menschen Geld verdient. Diese Position ist nicht so selbstverständlich, wie sie klingt, denn ich kenne einige Trader wie den oben zitierten (Ich kenne glücklicherweise auch das Gegenteil: moralisch absolut integre Profi-Trader).
Meine Position dazu ist: Wenn ich durch eine Investition oder Empfehlung meinerseits eine gesellschaftlich unerwünschte Entwicklung fördere, dann unterlasse ich diese Investition oder Empfehlung.
Wenn aber eine Entwicklung stattgefunden hat, und eine Investition oder Empfehlung von mir keinerlei Einfluss mehr darauf hat – dann finde ich es nicht moralisch verwerflich, aus dieser Entwicklung die richtigen Schlüsse zu ziehen und einen Gewinn einzufahren.
Nehmen wir den konkreten Fall: Das Unwetter hat stattgefunden. Wenn ich jetzt auf einen steigenden Zuckerpreis setze, ändert das nicht das Geringste an der Tatsache, dass es stattgefunden hat. (Etwas anderes wäre es, wenn ich kaufen würde und dann auf ein Unwetter mit Toten „hoffe“.)
[...]“
Grundsätzlich kann ich dieser Sichtweise natürlich nur zustimmen. Bewusst, also mit Wissen und Wollen (jur. Definition von "bewusst") vom Leid anderer zu profitieren, sorry, das geht immer zu weit. Ich will meinem Spiegelbild morgens beim rasieren schließlich noch in die Augen schauen können.
Aber, gerade zu diesem Thema habe ich keine „moralische integre Position bezogen“, sondern mich mit mir lediglich auf eine sehr pragmatische Sichtweise geeinigt:
Angefangen über diese Problematik nachzudenken, habe ich, wahrscheinlich wie viele andere auch, erst im Zusammenhang mit den furchtbaren Anschlägen vom 11. September 2001. Ich war zwar zu dem Zeitpunkt nahezu flat (keine Positionen), aber ich hatte Kollegen, die haben sehr viel Geld verloren und andere, die sehr viel Geld gewonnen haben.
Beide Seiten fühlten sich schlecht. Einige der Trader, die zufällig short gewesen sind und sehr viel Geld gewonnen hatten, überlegten, ob sie das Geld nicht spenden sollten. Einige haben diese Idee umgesetzt, weil sie mit diesem „Blutgeld“ nichts zu tun haben wollten. Diese Entscheidung kann ich gut nachvollziehen und ich weiß bis heute nicht, was ich „wirklich“ getan hätte, wenn ich zu den Gewinnern gehört hätte.
Daraufhin habe ich mich an vielen, sehr kontrovers geführten Diskussionen beteiligt und bin so mit der Zeit zu einem ganz anderen Schluss gekommen:
Ich setze mein Geld beständig jeden Tag geopolitischen und anderen Gefahren aus, ohne zu wissen, was passieren wird. Jederzeit können Nachrichten mich viel Geld kosten, mir aber auch viel Geld bringen. Ich selbst habe auf beide Seiten keinen Einfluss. Wenn ein Terroranschlag mir Positionen zerfetzt, bleibe ich genauso gelassen wie, wenn eben dieser Anschlag mir Gewinne beschert. Beides ist eine Art unabänderliches Schicksal. Unter dem Strich gleicht sich das vielleicht irgendwann einmal aus. Trotzdem muss ich auf diese Ereignisse, die im Prinzip zur "normalen" Tradingrealität gehören, als Trader zudem möglichst "emotionslos" reagieren, schließlich lebe ich davon.

Trennung zwischen Ereignis und Spekulation

Ich habe mich damals also dazu entschlossen, eine strikte Trennung zwischen den Ereignissen und meinen Positionen zu vollziehen, um eben nicht in diese emotionalen Fallen zu geraten, die, wenn man es genau nimmt, tatsächlich aus zwei Ebenen besteht, die nichts miteinander zu tun haben.
Das heißt nämlich nicht, dass ich nicht auch im Leben „außerhalb des Tradens“ von solchen Ereignissen emotional zum Teil sehr mitgenommen werde. Nach dem 11. September befand ich mich längere Zeit in einer Art Schockzustand, ich denke, das ging uns fast allen so. Oder erinnern Sie sich an den Tsunami...

Abseits der Absicht

Etwas anderes ist es natürlich, wenn man ganz bewusst auf Leiden setzt, hofft und spekuliert, um zu profitieren oder sogar mit seinen Positionen Leiden fördert. Ich glaube fest daran, dass man mit „bewussten Blutgeld“ niemals wirklich glücklich werden kann. Ich denke, da herrscht Konsens.
Doch auch hier gibt es Grauzonen für die ich bisher keine befriedigenden Lösungen parat habe:

Schwierig wird es, in folgenden Situationen:

Was ist zum Beispiel, wenn ich darauf spekulierte, dass ein Unternehmen, um aus den Verlusten zu kommen, harte Sparmaßnahmen ergreift. Solche führen oft zum Abbau von Arbeitsplätzen. Arbeitsplätze, die Familien ernährt haben...
Was ist, wenn man auf einen international operierenden Konzern setzt? Wie viele dieser Firmen sind direkt oder über einige Ecken an Rüstungsindustrien beteiligt, versorgen schmutzige Kriege direkt oder indirekt mit Waffen. Waffen, die letztendlich Menschen töten oder verstümmeln, Kindern die Eltern nehmen, oder aber Kinder selbst töten und verletzen.
Beteilige ich mich durch einen Aktienkauf daran, wenn ich das wissend bei meiner Spekulation in Kauf nehme, oder schon dann, wenn ich solche Machenschaften nur ahne, oder einfach nur nicht genug recherchiert habe?
Wie viele Unternehmen verursachen direkt oder über Beteiligungen gravierende Umweltschäden, denen viele Menschen zum Opfer fallen, zum Teil unter unvorstellbar qualvollen Umständen (an solchen Unternehmen ist man z.B. unter Umständen bei Investitionen in China beteiligt), etc. Was ist mit Kinderarbeit (Investitionen in Emerging Markets)?
Hier wird es auch für mich schwierig, als Trader Stellung zu nehmen und eine Position zu beziehen, die ich wirklich in der letzten Konsequenz und bis zum Ende gedacht vertreten kann.

Nicht nur Börse ist schmutzig, das ganze Leben ist grau

Aber bevor jetzt einige vorschnell schließen: Börse ist eben ein schmutziges Geschäft. Das kann ich so nicht stehen lassen:
Was ist denn mit denen, die ihre Familien damit ernähren müssen, dass sie bei solchen Unternehmen arbeiten? Wie viele von Ihnen arbeiten bei Zulieferern von solchen Konzernen, oder bei einer Werbeagentur? Was ist mit den Menschen, die davon profitieren, dass solche Konzerne und ihre Mitarbeiter Steuern zahlen (z.B. Hartz IV).
Wie viele Produkte haben Sie schon gekauft, deren Erlös solche Firmen unterstützen?
...
Ich möchte an dieser Stelle mit diesen drei Punkten schließen, einfach weil letzten Endes immer mehr Fragen als Antworten bleiben. Ich bin davon überzeugt, dass eine klare Trennung zwischen Gut und Böse einfach nicht möglich ist. In der Mitte herrscht ein überzeugtes Grau. Wir werden in diesem Grau unseren Weg finden müssen, den wir „noch so einigermaßen“ mit unserem „subjektiven Gewissen“ vereinbaren können, ohne wirklich zu wissen, ob wir es uns damit nicht lediglich einfach machen. Das ist an den Börsen so, das ist im Leben so.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Problem ist, immer mehr und mehr zu wollen. ...Und deswegen die Grenzen immer weiter ausweiten zu müssen. ...bis man an moralische Grenzen kommt und gelegentlich überschreitet...